Cannes 2023: Weil sie Auteurs sind!
Ein unmögliches Gedankenspiel: Wie würden die neuen Filme von Catherine Breillat und Wim Wenders wirken, hätten sie Unbekannte inszeniert?

Unter vielen Cinephilen gilt, dass ein schwächerer Film einer etablierten Autorenfilmer*in immer noch besser ist als die meisten anderen, kommerziell oder arbeitsteilig, jedenfalls ohne echte Autorenvision hergestellten Werke. Dahinter stecken eine Reihe an Vorannahmen, die sich in Versammlungen wie Festivals spiegeln: Bekannte Namen sind eine Währung, vergangene Werke nähren die Erfahrung des neuesten Films und bieten ein Netz an Referenzen, mit dem die eigene Cinephilie und Expertise an Wert gewinnen. Es sind keine unlauteren Gründe, besonders gespannt zu sein auf die Filme von Menschen, mit deren ästhetischen Ansätzen, erzählerischen Universen und politischen Perspektiven man bereits Zeit verbracht hat, die man vielleicht sogar schätzt. Es sorgt für eine Fallhöhe, für Anspannung, für Erwartungen. Und ja, klar, es erlaubt auch, Dinge in Filme zu projizieren, die nicht unbedingt da sind.
Cannes versteht sich als Poesiealbum der Cinephilie und fordert die alten Bekannten dazu auf, sich mit ihren neuesten Beiträgen einzutragen, damit alle im eigenen Heft stehen, ein beidseitiger Freundschaftsbeweis. Das sorgt für Familienbande und -fehden, wie gerade im Fall des Streits zwischen Víctor Erice und Thierry Frémaux in den Zeitungen zu lesen ist. Erice, einer der größten lebenden spanischen Filmemacher (Auteur-Theorie, here we go), bekannt etwa für Der Geist des Bienenstocks (El espíritu de la colmena, 1973) und Das Licht des Quittenbaums (El sol del membrillo, 1992), fühlt sich nicht ausreichend gewürdigt vom Festival. Denn trotz seiner Bitte, rechtzeitig informiert zu werden über die Auswahl und Platzierung seines neuesten, ersten Films seit zwanzig Jahren, hat ihn das Festival bis zum letzten Moment zappeln lassen, weswegen er die Einladung von der Konkurrenzreihe Quinzaine des Cinéastes, dort zur Eröffnung zu laufen, nicht mehr annehmen konnte. So formuliert er es in einem offenen Brief in der Tageszeitung El País. Nun lief sein Film in der eher ungeliebten Reihe Cannes Première, wo primär eine Mischung aus middlebrow und Starkino von geschätzten Freund*innen des Festivals gezeigt wird. Eine zweifelhafte Ehre, die auch mit überwiegend schlechteren Zeitslots verbunden ist, was dazu geführt hat, dass ich den knapp dreistündigen Close Your Eyes (Cerrar los ojos) in meinem Plan nicht unterbringen konnte.
Last Summer (L’été dernier)

Die Filme von Catherine Breillat und Wim Wenders dagegen wurden in den Wettbewerb eingeladen, den ich in diesem Jahr wieder intensiver verfolgt habe. Es ist kaum vorstellbar, dass ihr historischer Beitrag zum Kino bei der Auswahl ihrer Filme keine Rolle gespielt hätte, und eine gewisse Form der Ehrung des Schaffens, eine Form von Reverenz vor dem Alter, sie ist 74, er 77, scheint mir durchaus angemessen. Zumal es sich wie ein Abschied anfühlte. Breillat hat einen ziemlich braven Film gemacht über die Lügen des Bürgertums und die schönen Fassaden, die es sich gibt. Es ist die Adaption eines dänischen Films, Königin (Dronningen, 2019) von May el-Toukhy. Wie in Todd Haynes’ May December (2023) geht es auch hier um die Liebe zwischen einer älteren Frau und einem Jungen, nur dass der immerhin schon 17 ist. Das größere Problem: Er ist ihr Stiefsohn.
Interessanterweise hat sich Breillat, die für sexuell explizite Darstellungen bekannt ist, in L’été dernier für eine zurückgenommene Inszenierung entschieden, beinahe keusch filmt sie die Sexszenen in langen, statischen Einstellungen der Gesichter, bemüht eine Umkehrung des male gaze und erotisiert den schlanken, hier und da tätowierten Körper des Jugendlichen, ohne das Aufeinandertreffen zur großen Sinnlichkeit zu verklären. Gespielt wird der Junge von Samuel Kircher, Bruder von Paul Kircher, der gerade mit Der Gymnasiast (Le lycéen, 2022) und The Animal Kingdom (Le règne animal, 2023) durchstartet. Samuels Präsenz ist stark, weil sie ständig changiert, zwischen jugendlicher Ungeformtheit, liebreizender Sensibilität und widerborstiger Virilität. Ihm gegenüber setzt Breillat Léa Drucker, die das Spiel mit den bürgerlichen Fassaden, dem eleganten Gang, der Contenance beherrscht. Funken fliegen eher keine. Was nicht an den Schauspieler*innen liegen muss, sondern auf die geringe Spannung insgesamt zurückzuführen sein dürfte. Breillat sucht den Ausschnitt, das Fragment, in dem so etwas wie eine Erinnerung oder ein Schwelgen der Leidenschaft zu finden sein könnte. Das Perverse, die Grenzüberschreitung werden nur angeteasert. Womöglich ist das ästhetische Konzept sogar, die Normabweichung als selbstverständlich darzustellen, so wenig Aufhebens macht der Film formal darum. Dabei wäre das Spannende gerade in der Totale, im Zusammenhang, in der Spiegelung der unterschiedlichen Begehren, im Kontrast von Familie und Sex zu finden. Auch weil die dramatischen Wendungen eher behauptet als erlebt werden und hyperökonomisch in Szene gesetzt werden, wirkt der Film kleiner, intimer, auch etwas belangloser, als er sein müsste. Das lässt sich andererseits mit Sicherheit alles als Stärke deuten, vor allem wenn man an Breillats Œuvre als Autorenfilmerin durchweg glauben will.

Wim Wenders ist als einziger deutscher Regisseur in den Wettbewerb geladen, allerdings mit einem japanischen Film. Perfect Days ist ebenso wie Cannes eine Art Poesiealbum und erzählt von einem älteren Herren, der die kleinen Momente des Lebens zelebrieren und in Erinnerung behalten will. In seinem Blick und seinen Fotos wird Tokio zu einem Ort der magischen Augenblicke von Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Er reinigt öffentliche Toiletten mit einer beispiellosen Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, die sein jüngerer Kollege gar nicht erst zu imitieren versucht. Wenders verwebt in diesem um besondere Schlichtheit bemühten Alterswerk seinen unbändigen Humanismus mit einer entspannten Form von Tourismus und Musikophilie.
Eine der Deutungsweisen, die sich für Wenders’ neuen Spielfilm anbietet, ist die der Rückkehr zur Form, denn tatsächlich ist es der erste Spielfilm seit mindestens zwanzig Jahren (Land of Plenty wäre für mich der letzte in der Erinnerung, der haften blieb), der eine Form von Kohärenz in Gestalt und Geschichte an den Tag legt, der erste, bei dem die Schlichtheit der Mittel mit der erzählerischen Position zusammenfällt und ein Gefühl der Stimmigkeit erzeugt. Einer solchen Lesart gegenüber bin ich skeptisch, weil sie teleologisch den richtigen Weg für den Auteur vorzeichnet, der sich den Erwartungen der Liebhaber*innen früherer Werke fügen soll. Vielmehr erkenne ich Wenders in Perfect Days sehr stark wieder, in dieser Suche nach dem Eigenen im Fremden, nach der stabilisierbaren Erinnerung, nach dem Großen im Kleinen und der Hoffnung überall. Indem Wenders in fremder Sprache und fremdem Setting dreht (die USA zähle ich nicht zum Fremden für Wenders), entsteht eine angenehme Form von Distanz und Respekt: Perfect Days behauptet nicht, den Toiletten putzenden Mann in seiner emotionalen, biografischen und sozioökonomischen Situation komplett zu begreifen, im Gegenteil, er lässt ihn sein. Vielleicht könnten wir so auch mit den Auteurs umgehen.
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