Cannes 2023: Geld auf der Leinwand

Vom Science-Fiction-Film bis zum klassischen Drama: Die Bandbreite des französischen Kinos, die in Cannes sichtbar wird, hat auch mit den Budgets der einzelnen Filme zu tun. Über Catherine Corsinis Homecoming und Thomas Cailleys The Animal Kingdom.

Production Value ist ein furchtbarer Begriff. Als läge der Wert einer Filmproduktion darin, dass man das Geld auf der Leinwand sieht. Und doch beeindruckt mich ein ums andere Mal, welche Budgets französischen Filmen nicht nur zugesprochen werden, sondern ihnen dann auch anzusehen sind. Weil es auch solche mit einem ästhetischen, ethischen, ja cinephilen Programm betrifft. Kein Wunder, dass in Cannes die Zahl der französischen Produktionen und Koproduktionen beispiellos ist. Auf keinem A-Festival dürften so viele Filme aus der heimischen Wirtschaft laufen, wie hier. Und man kann es häufig nachvollziehen.

Homecoming (Le Retour)

Catherine Corsini hat nach ihrem dringlichen, vor Aktualität triefenden Kaleidoskop-Film In den besten Händen (La Fracture, 2021) einen nun klassischeren, beinahe zeitlosen Kinostoff auf die Leinwand gebracht. Nicht unbedingt deshalb überzeugt er mich deutlich mehr, vor allem wohl weil er weniger konzeptionell und stärker wie aus einem Guss erscheint. In den besten Händen führte unterschiedliche Erzählstränge in einem am Rande der Kapazitäten operierenden Krankenhaus zusammen und nutzte diese Konstellation als Brennglas für gesellschaftliche Diskurse um das Gesundheitssystem, die französische Politik und Klassenkonflikte.

Homecoming (Le Retour) hat nun einen stärkeren Fokus: Khedidja (Aïssatou Diallo Sagna) kehrt mit ihren beiden Töchtern Farah (Esther Gohourou) und Jessica (Suzy Bemba) nach Korsika zurück, wo sie einst den Vater der beiden verließ. Zurück ist die schwarze Familie, weil die Mutter als Tagesmutter einer reichen weißen Familie angeheuert ist. Während die 15-jährige Farah gegen jede Selbstverständlichkeit im Leben der Älteren rebelliert, lernt die 18-jährige Jessica die Tochter der anderen Familie kennen, entdeckt ihre Sexualität und geht auf Spurensuche nach ihrem verstorbenen Vater. Corsini charakterisiert ihre Figuren sehr scharf und prägnant, verbindet komödiantische Alltagssituationen mit dem Drama der Familiengeschichte und vor allem einer ganzen Reihe von aktuellen Fragen um Rassismus, Klassismus und den Zusammenhalt der französischen Gesellschaft.

Beeindruckend ist an dem Film für mich zweierlei: Er wirkt gleichzeitig beiläufig und intensiv, was ich schon im Kino von Regisseur*innen wie Olivier Assayas oder Mia Hansen-Love besonders schätze. Nicht die großen Gesten des Schauspiels stehen im Vordergrund, wie das bei Corsinis letztem Film der Fall war, sondern die Dynamik und Interaktion. Wozu auch das Casting von Laiendarsteller*innen beiträgt. Und die Mittel, die hier eingesetzt wurden, immerhin knapp 5 Millionen Euro, sind eben sichtbar, aber auf keine aufdringliche Art. Filme mit ähnlichen ästhetischen Anliegen kriegen in Deutschland selten mehr als die Hälfte davon (was sich hoffentlich mal ändern wird). Das wirkt sich auf die Präzision des Films aus, trägt zum sehr schönen Flow bei, die vielen dramatischen Situationen können dank der finanziellen Mittel so aufgelöst werden, dass größere Menschengruppen nicht angedeutet werden müssen, sondern tatsächlich ins Bild gesetzt werden können.

Schließlich ist die Jugend oft ein Aufeinandertreffen zwischen Individuum und größeren gesellschaftlichen Gruppen: am Strand etwa mit den Jungs, die Fußball spielen wollen und den anderen, die Jetskis vermieten, auf Partys, wo Drogen vertickt werden und andere sie konsumieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass es mindestens halbbewusst den meisten Menschen so geht: Wenn auch nur für kurze Szenen große Mittel aufgefahren werden, die Welt gestaltet wird und das Bildregime nicht primär einem Sparimperativ folgt, spürt man das.

The Animal Kingdom (Le reigne animal)

Eine ganz andere Nummer ist The Animal Kingdom (Le reigne animal), der mit geschätzten 13 bis 15 Millionen Euro produziert wurde und trotzdem glatt als Arthouse-Film durchgehen kann. Thomas Cailley, Regisseur von Liebe auf den ersten Schlag (Les combattants), der 2014 in der Quinzaine des Réalisateurs (heute: Quinzaine des Cinéastes) lief, setzt erneut jugendliche Protagonisten einer Art Endzeitstimmung aus. The Animal Kingdom ist der Eröffnungsfilm der Reihe Un Certain Regard und sticht ohnehin ziemlich heraus. Es ist ein High Concept-Film, in dem sich Menschen in tierähnliche Mutanten verwandeln und von der Mehrheitsgesellschaft gejagt und interniert werden. Science-Fiction, Katastrophenfilm, Abenteuerdrama und Coming-of-Age treffen aufeinander, wenn der 16-jährige Emile, dessen Mutter zur Kreatur wurde und in ein Lager im Süden verlegt wird, mit seinem Vater hinterher zieht. Emile muss sich in die neue Schulgemeinschaft einfügen, und entdeckt gleichzeitig erste Zeichen der Verwandlung an sich selbst.

Thomas Cailley verwendet große Anstrengungen darauf, einen sowohl beeindruckenden als auch nuancierten Film zu gestalten, bei dem die herausragende Leistung des Hauptdarstellers, Paul Kircher, bekannt aus Der Gymnasiast (Le Lycéen, 2022) von Christophe Honoré, einen großen Teil dazu beiträgt, dass die starken Special Effects nicht vom menschlichen und affektiven Kern ablenken. Gleichzeitig ist der Film mehr Genre- als Arthouse (muss sich ja nicht ausschließen), ist mehr am Plot als an der Story interessiert, findet dabei in vielen Momenten aber ein schönes Gleichgewicht. Auch wenn nicht alles aufgeht und der Film sich zum Teil in etwas vielen Nebensträngen verliert, steht der Film doch für die Verbindung vieler Ansprüche, für den Wunsch nach einem Kino, das uns in andere Dimensionen transportiert, mit Eigensinn, Poesie und Humor.

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