Cannes 2023: Ein Prozess und eine Huldigung
Mit The Goldman Case von Cédric Kahn und Ama Gloria von Marie Amachoukeli eröffnen zwei schlichte Filme die wichtigsten Nebensektionen des Festivals – die völlig unterschiedlich auf die Welt und ihre Protagonisten blicken.

Cédric Kahn ist ein gleichzeitig bekannter und unbekannter Regisseur. Er war zwar durchaus schon auf internationalen Festivals vertreten (2004 mit Red Lights und 2018 mit Auferstehen etwa im Wettbewerb der Berlinale), und als Schauspieler kennt man ihn auch. Doch die meisten seiner Filme bleiben dem französischen Publikum vorbehalten. Mit The Goldman Case (Le procès Goldman) hat er einen beeindruckend schnörkellosen Film gedreht, der die Quinzaine des Cinéastes eröffnet. Die Nebenreihe, traditionell die aufregendste des Festivals, gibt sich in diesem Jahr unter neuer Leitung ein anderes Profil. Forschender, offener, neugieriger soll das Programm sein, mit Filmen, die nicht bloß deshalb hier aufschlagen, weil sie es nicht in die Hauptreihen geschafft haben.
Ethik lückenloser Ehrlichkeit
The Goldman Case ist dafür schon deshalb ein gutes Beispiel, weil der Regisseur überhaupt nur zwei Mal in Cannes vertreten war: 1994 in der Quinzaine und 2001 im Wettbewerb. Alles andere als ein Abonnierter, wie man die üblichen Verdächtigen hier nennt. Tatsächlich ist der Film beinahe unscheinbar, verlässt über seine knapp zwei Stunden Laufzeit nur ganz kurz den Gerichtssaal, in dem sich das ganze Drama abspielt, im Gegensatz zu Saint Omer (2022) von Alice Diop auch ohne zweite Ebene. Davon abgesehen haben die Filme durchaus viel gemeinsam, weil sie den Umgang des französischen Staates mit Minderheiten zeigen, sich mit Fragen von Diskriminierung und Stereotypen auseinandersetzen. Der titelgebende Pierre Goldman ist ein Jude polnischer Herkunft und noch dazu ehemaliger Guerillero und Kommunist. Doch die Morde, die ihm 1976 im Gerichtsprozess angelastet werden, beteuert er inständig, hat er nicht begangen.
Kahn hat einen Schauspielerfilm gedreht, bei dem Intensität, Zurückhaltung, scheiternde Contenance, herausbrechende Energie und Affekte für Struktur sorgen. Statische Bilder, genaue Beobachtungen, starke Konflikte und vor allem das Wort dominieren den Film. Mit einem Helden, der nicht nur stark widersprüchliche Charakterzüge bis zur latenten Paranoia offenbart, sondern sich einer Ethik lückenloser Ehrlichkeit, bis hin zur regelmäßigen Beleidigung der anwesenden Polizisten, verschrieben hat, sorgt Kahn für ständige Ambivalenzen. The Goldman Case ist ein klassizistischer Film, der darauf vertraut, dass in der Dauer Nuancen zählen und das Prozesshafte einen eigenen Wert hat. Interessanterweise wirkt der Film aber nicht sezierend, sondern eher involvierend – obwohl er eine Distanz behält, die eine eigene Positionierung durchaus erlaubt.
Kompaktes Drama

Die Semaine de la Critique, die Reihe des Festivals, die den ersten und zweiten Langfilmen von Regisseur*innen verschrieben ist, hat über die letzten grob zwanzig Jahre eine enorme Wandlung durchlebt und mit ihrem zunehmenden Erfolg immer stärker auf im Arthouse-Bereich kommerziell zugkräftige Titel gesetzt. Im letzten Jahr gehörte etwa Aftersun zu den großen Hits der Reihe, der es bis zur Oscarnominierung seines Hauptdarstellers Paul Mescal schaffte.
Der Eröffnungsfilm 2023 ist ein ebenfalls auf den ersten Blick bescheidener, schlichter Film, der wiederum nichts auslässt, um sein Publikum zu affizieren. Regisseurin Marie Amachoukeli hat mit Ama Gloria ein kompaktes Drama gedreht, das der Rückmigration ihrer Hauptfigur Gloria von Paris nach Kap Verde folgt. Gloria hat als Tagesmutter die sechsjährige Cléo betreut, die ihr zum Abschied das Versprechen abringt, sie bald wiederzusehen. Und tatsächlich überzeugt das Mädchen ihren Vater davon, sie für den Sommer auf die afrikanische Insel zu schicken, wo Cléo in die komplexen Familienverhältnisse von Gloria eingebunden wird. Um Geld für die Familie zu verdienen, hatte sie ihre zwei Kinder bei der Großmutter gelassen, die gerade verstorben ist. Nach ihrem Debut Party Girl (2014), das sie zusammen mit Claire Burger und Samuel Theis zu dritt inszeniert hatte, blickt Amachoukeli wieder mit großer Zuneigung auf von Laien gespielte Menschen, darunter erneut eine Frau mittleren Alters. Gewidmet ist ihr zweiter Film der eigenen Tagesmutter.
Emotionale Anschlüsse und Kurzschlüsse
Mit einer hochmobilen Kamera, engen Bildern und stark subjektiven Blickwinkeln schreibt sich die Regisseurin in die Tradition eines künstlich hergestellten, sich seiner selbst bewussten Naturalismus ein. Es ist ein Bildregime, das die eigene Herstellung nicht versteckt, im Gegenteil das Ausschnitthafte betont. Und doch ist es darum bemüht, eine Form von Authentizität im Spiel und in den Situationen herzustellen, die emotionale Anschlüsse und Kurzschlüsse ermöglicht.
Die Konzentration auf Oberflächen und den kindlichen Blick, der nur einen vergleichsweise kleinen Teil der Verflechtungen verstehen kann, sorgen für eine Zurichtung, die noch verstärkt wird durch hier und da eingesprengte Animationen, die wohl die Bruchstückhaftigkeit einer von Erinnerungen geprägten Geschichte illustrieren sollen. Je stärker der Film dann auf psychologisch motivierte Konflikte setzt, desto schwieriger wird es, ihm zu folgen, weil sich zum Konstruierten der Bilder das Konstruierte der Story gesellt und dadurch das Gleichgewicht mit den naturalistischen Fragmenten des Erlebens stört. Am Ende widmet die Regisseurin den Film ihrer eigenen Tagesmutter, vielleicht fließen ja bei dem einen oder der anderen Tränen, dann wäre das Versprechen eingelöst.
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