Cannes 2023: Auf Dauer gestellt
Steve McQueen und Wang Bing führen in ihren Cannes-Beiträgen in Gegenwart und Vergangenheit von Amsterdam und Zhili. Über zwei Werke, die sich Zeit nehmen und dabei langsam zu sich kommen.
Ein bisschen hardcore schien es mir schon auch, direkt am zweiten Festival-Tag zwei überlange Dokumentarfilme hintereinander zu planen, siebeneinhalb Stunden mit einem Stündchen Pause zwischendurch. Andererseits ist eine gleichbleibend hohe Aufmerksamkeit im Festivalmodus ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit, und während der langen Filme lassen sich die wiederkehrenden Phasen der Augenschwere zumindest so auf die Laufzeiten verteilen, dass man am Ende weniger das frustrierende Gefühl hat, einen Film nur so halb gesehen zu haben, als auf einer langen Reise zwischendurch mal abgeschweift zu sein.
Und beide Filme eignen sich dafür tatsächlich gut: Sowohl Steve McQueens Occupied City, der in Cannes als Special Screening läuft, wie auch Wang Bings Youth (Spring), der es in den Wettbewerb geschafft hat, funktionieren nach einem Prinzip der Wiederholung, folgen einem Konzept, das sie bis zum Ende durchziehen, fordern ihr Publikum durchaus heraus, lassen uns aber auch genügend Zeit, um anzukommen und uns einzurichten in ihrer Welt. Beide gewinnen stetig an Substanz, kommen erst in der Länge zu sich.
Auditive Stolpersteine

Ansonsten aber spielen sie in radikal unterschiedlichen Registern. Für Occupied City hat Steve McQueen über mehrere Jahre das ihm zur Heimat gewordene Amsterdam gefilmt. Die entstandenen Bilder zeigen Alltägliches wie Spektakuläres, ausgewählt wurden sie weniger wegen ihres Inhalts als aufgrund der Bedeutung ihrer Orte. Sie treten nämlich in den Dialog mit einer Tonspur, die auf den Amsterdamer Alltag einer vergangenen Zeit verweist: „Atlas of an Occupied City, Amsterdam 1940–1945“ heißt das Buch von McQueens Lebensgefährtin Bianca Stigter, das der britische Regisseur, der zuletzt die fünfteilige Serie Small Axe (2020) gedreht hat, nun verfilmt hat.
Szenen der Gegenwart treffen also auf ein Voice-over, das in nüchternem Duktus Ereignisse vorträgt, die sich am entsprechenden Ort zugetragen haben, oder auf die Funktion verweist, die ein Platz oder ein Gebäude während der NS-Besatzung innehatte. McQueen überzieht die Bilder gewissermaßen mit auditiven Stolpersteinen.
Lockdown für die Geschichte
Manchmal meint man, ein Raunen im Publikum zu vernehmen, wenn in den Köpfen der Zuschauenden einer dieser Bild-Ton-Assemblagen eine Bedeutung, wohlmöglich sogar eine intendierte, zugesprochen wird. Nazi-Besatzung damals und Corona-Lockdown heute, zwei Ausnahmezustände im Vergleich? Antifaschistischer Widerstand damals und die selbsternannten Kämpfer gegen Grundrechtseinschränkungen heute, will uns Occupied City hier etwa irgendwas sagen?
Mir scheinen sich solche Verbindungen – später sind auch eine antirassistische Kundgebung, die Ankunft einiger Geflüchteter aus der Ukraine, ein March for Climate Change zu sehen – eher ganz logisch aus dem von McQueen gewählten Ansatz zu ergeben, das heutige Geschehen an den Orten zu filmen, die im Buch über die Besatzung prominent vertreten sind. Dass der erste Teil des Films in die Zeit der Pandemie fällt, hat da erstmal eine ganz andere Wirkung: Der Lockdown leert den städtischen Raum, scheint ihn für die Besetzung mit der Geschichte freizugeben, eine Stadt hält inne und erinnert sich. Wenn dann das öffentliche Leben langsam zurückkehrt, auch vermittelt durch eine fröhliche Szene, in der gut gelaunte Alte gegen Covid geimpft werden, dann ist die Hoffnung auf ein lebenswertes Leben nach dem Ausnahmezustand vielleicht tatsächlich eine Parallele; darüber hinaus immunisieren aber schon die erschütternden Fakten über die systematische Verfolgung, Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung der Stadt, die einen Großteil der im Voice-over vorgetragenen Fakten ausmacht, gegen jegliche Gleichsetzung mit pandemischen Ausnahmezuständen.
Jugend als Verb

Wang Bings neuer Film ist weniger konzeptuell, Bild und Ton stehen gleichermaßen im Dienste der Aufzeichnung einer gegenwärtigen Realität. Über fünf Jahre lang hat Wang in der Stadt Zhili gedreht, die über 20.000 Werkstätten beheimatet, wo Arbeiter*innen, manche noch minderjährig, die meisten zwischen 19 und 25, aus den angrenzenden Provinzen Tag für Tag Klamotten nähen. Dass die Arbeitsbedingungen hier nicht gerade die besten sind, dürfte wenig überraschen, das Schöne an Youth (Spring) ist allerdings, wie diese Bedingungen zwar das Leben der porträtierten Figuren bestimmen, nicht jedoch den Film.
Denn wie schon der Titel erahnen lässt, ist dies kein Film über Arbeit, sondern über Jugend und Jugendlichkeit. Es ist eine entscheidende Setzung, schließlich läuft die berechtigte Formel der unmenschlichen Arbeitsbedingungen zumindest Gefahr, auch die betroffenen Menschen zu entmenschlichen, wenn diese nur als Diskursmasse auftauchen: als anonyme Armee menschlicher Roboter, die in stummer Akkordarbeit unsere Kleidung nähen. In Youth (Spring) ist niemand anonym – Name, Alter und Herkunft der jungen Menschen werden per Untertitel eingeblendet –, und die Arbeit findet alles andere als im stummen Akkord statt. Zwar arbeiten diese jungen Menschen ständig, aber eher nebenbei, während sie quatschen, Musik hören, schäkern, flirten, frotzeln, … wie sagt man denn, man bräuchte das Wort Jugend als Verb.
Die Klamotten, die in den privat geführten Workshops von Zhili übrigens vorwiegend für den heimischen Markt, nicht für den Export hergestellt werden, erscheinen hier nicht als Anfang von allem, als Symbol einer allmächtigen westlichen Nachfrage. Sie sind eher nebenbei hergestelltes Abfallprodukt jugendlicher Wunschproduktion. Die Näherei ist das, was ständig stattfinden muss, will man leben und überleben. Und wenn durch einen Arbeitstag von 8 bis 23 Uhr für ein über das Überleben hinausgehendes Leben schlicht keine Zeit ist, dann wird halt während der Arbeit gelebt. Dann wird der Dokumentarfilm über Arbeitsmigrant*innen schon mal zur Romantic Comedy.
Operaistisches Kino
Das heißt nicht, dass sich Wang für Arbeit und Ausbeutung nicht interessiert, dass hier irgendetwas romantisiert wird. Jugend ist für Wang universell genug, dass wir sie wiedererkennen, und spezifisch genug, dass wir die besonderen Umstände erkennen, unter denen sie hier stattfindet. Schon dass wir in diesen vier Stunden kaum einmal das Tageslicht sehen, spricht von der Gewalt dieser Verhältnisse. Doch betreten diese Verhältnisse nicht als stumme Struktur, sondern als lebendige Aushandlung den Film: Frauen werden schwanger, wollen abtreiben und dafür frei bekommen, junge Männer denken darüber nach, ob sie für den Ehestand nicht schon zu alt sind, und bekommen Tipps, wie sie während der Arbeitszeit schnell heiraten könnten. Und sie alle streiten unentwegt mit den Bossen um bessere Stückpreise für einzelne Kleidungsstücke, also für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Youth (Spring) ist mit seinem Blick für die kleinen Rebellionen gegen die Allmacht der Fabrik und die Kämpfe an der Basis gewissermaßen ein operaistischer Film.
Über 2600 Stunden Material hat Wang gefilmt, Youth (Spring) ist nur der erste Teil, in späteren Filmen sollen die Arbeiter*innen auch in ihre Heimatprovinzen begleitet werden. Doch schon in diesem ersten Teil hat man schnell den Überblick über die Figuren verloren. Wir lernen diese jungen Leute gerade so gut kennen, dass wir ihre Geschichten nachvollziehen können, aber nicht genug, um hier tatsächlich von porträtierten Individuen sprechen zu können. Über die vier Stunden Laufzeit entsteht so eher das Porträt einer Generation, die, zumindest im Kino, zum Subjekt der eigenen Geschichte wird.
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