Cannes 2019: Nichts als Zahlen?

Das Festival von Cannes nennt erstmals Zahlen zur Geschlechtergerechtigkeit. Unvoreingenommen ist die Zusammenstellung nicht. Ein Überblick über Genanntes und Ungenanntes.

Das Festival von Cannes strengt sich an, man sieht es, man hört es, man kann es erstmals auch nachlesen. In einem am Vortag der Eröffnung verschickten Bericht listen die Veranstalter einige Zahlen zur Geschlechtergerechtigkeit auf. Was er verschweigt: Wie fraglich es ist, dass sich die Kultur des Festivals tatsächlich gewandelt hat. Und das, gerade weil die Zahlen frohen Mut ausstrahlen sollen.

Spannend ist der Bericht in doppelter Hinsicht. Weil er Karten auf den Tisch legt und gleichzeitig vieles unter den Tisch fallen lässt. Es ist das erste Mal überhaupt, dass in solchem Detailgrad Informationen zur Geschlechterverteilung in Cannes erhoben und zur Verfügung gestellt werden. Am einfachsten auszurechnen ist, was ohnehin öffentlich ist: die Zahlen zur Präsenz von Regisseurinnen in den Wettbewerben. Selbst wenn es nicht nach viel klingt, hier ist es schon ein Fortschritt, wenn 4 Regisseurinnen 17 Regisseuren gegenüberstehen (19 %) – wobei man, wenn man es genau nehmen will und es um Repräsentation geht, die tatsächlichen Personen zählen könnte und die beiden Regieteams aus jeweils zwei Männern doppelt. Dann wären es 4:19 (17 %). In der wichtigsten Nebenreihe Un Certain Regard sind es 8:11 (42%), in den Special Screenings 3:8 (27%). Beim Kurzfilmwettbewerb sind es 5:7 (42%). Gesamt zählt das Festival 19:69 Filme (lange und kurze zusammengerechnet), was 27,5% entspricht.

Interessant zu vergleichen sind diese Zahlen mit jenen der eingereichten Filme: Von Frauen inszeniert wurden 26 % der Langfilme, 32 % der Kurzfilme und 44 % der Kurzfilme von Filmschulen (Wettbewerb Cinéfondation). Natürlich verschweigen solche Zahlen, wie zentral bei der Filmauswahl Netzwerke sind und wie wenig, gerade auf dem Niveau von Cannes, Filme ausgewählt werden, die einfach so unbekannterweise eingereicht werden. Über informelle Wege aber lässt sich nicht Buch führen. Noch interessanter ist auch deshalb, was nicht genannt wurde: Außer Konkurrenz, Midnight Screening und Hommage sind zu 100 % von Männern inszeniert (0:8). Gleiches gilt bei den Open-Air-Screenings Cinéma de la Plage (0:8). Der Filmhochschul-Wettbewerb Cinéfondation steht deutlich schlechter da als bei den Einreichungen: 6:11 (35%). Und in der historischen Reihe Cannes Classics steht es 4:24 (14 %). Alles Zahlen, die im an die Presse verschickten Bericht fehlen. Ist das noch selektive Wahrnehmung oder schon bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit?

Rechnet man alle in der offiziellen Auswahl gezeigten Filme mit, kommt man auf ein Verhältnis von 22:85 (20 %), in der Mitteilung vom Festival werden Classics, Cinéma de la Plage und Hommage weggelassen, was nachvollziehbar ist, weil es überwiegend alte Filme sind; allerdings ist die Auswahl bei Retrospektiven ebenso eine Entscheidung, die man unterschiedlich treffen kann. Nicht minder aussagekräftig ist es, dass bei den vier „Rendez-vous“ genannten Masterclasses vier Männer auf drei Männer und eine Frau treffen.

Natürlich sind Zahlen nicht alles, manche sind sogar ziemlich bedeutungslos, wenn man zu wenig Kontext schafft. Etwa die Aufstellung des Teams des Festivals. Dass von den Leuten, die ab Januar für Cannes arbeiten, 61 % Frauen sind (66 von 109), erinnert eher daran, dass Festivalarbeit oft eine Domäne von Frauen ist, nur nicht auf den höheren Stufen der Hierarchie.

Den Willen des Festivals, etwas zu ändern, erkennt man daran, dass gerade in sensiblen Bereichen Fortschritte gemacht wurden, das Auswahlkomitee inzwischen paritätisch besetzt ist (wenn man den Festivaldirektor nicht mitzählt) und der Leiter der Filmabteilung eine Frau als künstlerische Beraterin zur Seite gestellt bekommen hat. So viel ist bekannt. Spannender noch wäre es, die Geschichten hinter den Zahlen zu erfahren.

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