Cannes 2019: Ein bisschen was für alle

Die Jury um Alejandro González Iñárritu hat ein breites Spektrum an Filmen mit Preisen bedacht, einige Kritikerlieblinge sind darunter, der große Knall aber nicht.

Mit der Goldenen Palme für Parasite von Bong Joon-ho hat die Jury ein Zeichen für inszenatorische Brillanz gesetzt. Die neunköpfige Jury, der in diesem Jahr eine Rekordzahl an acht Regisseurinnen und Regisseuren angehörte, unter anderem Kelly Reichardt, Alice Rohrwacher und Yorgos Lanthimos, privilegierte mit dem Werk des Südkoreaners die formale Kohärenz vor dem Experiment. Zwar war das, wenn man einmal den streitbaren Beitrag von Abdellatif Kechiche Mektoub, My Love: Intermezzo ausnimmt, ohnehin kaum im Wettbewerb zu finden, aber immerhin zeichnete die Jury das stärkste Beispiel dafür mit dem zweiten Preis aus, dem Grand Prix: Atlantique von Mati Diop. Die Französin, Tochter eines Senegalesen und einer Französin, war mit ihrem ersten Spielfilm im Wettbewerb vertreten, der traumwandlerisch und assoziativ arbeitet und einen großen Sog entwickelt.

Die größte Verwunderung bei Kritikern dürfte die Entscheidung auslösen, Jean-Pierre und Luc Dardenne mit dem Preis für die beste Regie zu ehren. Im Presseraum war die Erregung nach deren Nennung bei weitem am größten. Was nicht nur daran liegen dürfte, dass die belgischen Filmemacher bereits zwei Goldene Palmen erhalten haben, sondern mit ihrem neuen Film ein Minenfeld politischer Fragen betreten. Ihr Protagonist ist ein radikalislamistischer Junge, der Terrorist werden will. Der für die Dardennes typische Hindernislauf, bei dem sich die Regisseure an seine Fersen heften, gerät dadurch so ambivalent, dass sie keine richtige Haltung zu ihm entwickeln. Doch genau das lässt sich auch als eine Qualität des Films verstehen. Antworten liefern andere genügend. Schade an dem Preis ist vor allem, dass er die Tradition des Festivals bestärkt, immer wieder dieselben Regisseure einzuladen.

Der ex-aequo vergebene Preis der Jury wirkt dagegen wie ein Kompromiss zwischen politischen Setzungen und filmischer Ambition. Bacurau von Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles ist eines von wenigen Werken das sich Genre-Exzessen hingibt. Die wichtigen politischen Dimensionen scheinen sich dabei eher aus der Lust am Kino zu ergeben. Das ist bei Les Misérables von Ladj Ly umgekehrt: Mit der Konfrontation von Polizei und Banlieue steht zunächst das Politische im Vordergrund, weswegen die Wahl an repräsentationslogische Erwägungen denken lässt. Noch dazu ist Ly schwarz und hat einen unüblichen professionellen Weg beschritten, macht Filme ohne eine Filmschule besucht zu haben, was gerade in Frankreich, dem nach Elite-Institutionen so süchtigen Land, keine kleine Leistung ist. Im Unterschied zu Bacurau ist Les Misérables sehr viel konventioneller, beinahe erwartbar in seiner narrativen Herangehensweise (ein neuer Cop wird eingeführt in den Job, der Zuschauer mit ihm) – bis der Schluss den ganzen Film unter neuem Licht erscheinen lässt und die Gewalt der Misere in den Banlieues ganz unmittelbar erfahrbar macht.

Die Verteilung der Preise wirkt insgesamt vor allem vernünftig: Céline Sciammas Portrait of a Lady on Fire, Kritikerliebling und herausragend inszeniertes, klassizistisches Drama, wird immerhin für ihr Drehbuch geehrt. Überhaupt finden sich drei der vier Filme, die unter weiblicher Regie entstanden, in der Siegerehrung vertreten. Neben Diop und Sciamma verhilft Jessica Hausners Little Joe, der so schön merkwürdig ist und bleibt, seiner Hauptdarstellerin Emily Beecham zum Preis als beste Darstellerin. Und der vermutlich größte Favorit der Presse, Pedro Almodóvars Pain and Glory sorgt zwar nicht für die in den Augen vieler überfälligen Palme für den Spanier, aber für einen Sieg in der Kategorie bester Schauspieler: Antonio Banderas hat den Preis auch von der critic.de-Redaktion erhalten.

Unter den Preisträgern fehlen mindestens zwei Regisseure mit starken eigenen Handschriften: Terrence Malick (A Hidden Life) und Xavier Dolan (Matthias and Maxime), die wir in unserem Abschluss-Podcast ausgiebig diskutieren. Beide hätten für einen deutlich größeren Knall an der Croisette gesorgt und ein Zeichen für künstlerische Ambition setzen können. Doch ihre Filme spalten. Ganz im Gegensatz zu Elia Suleimans It Must Be Heaven, der am letzten Tag des Wettbewerbs viele Kritikerspiegel im Sturm erobert hat. Angesichts meiner allergischen Reaktion auf den Film bin ich erleichtert, dass er nur eine besondere Erwähnung erhält.

Es passt zur Ausgabe 2019 von Cannes, dass auch die Preisverleihung für wenig Aufruhr sorgt. Aus der Reserve locken ließen sich die Festivalbesucher die zwölf Tage über kaum. Das tun auch die Preise nicht. Das hätte vermutlich nur eine Goldene Palme gekonnt, die im Gegensatz zu Parasite nicht einstimmig verliehen worden wäre. Oder eine Jury, die für den Hauptpreis nicht auf das Smarte, Gekonnte, Bewiesene vertraut, weil Kino nicht nur funktionieren, sondern inspirieren sollte. Viggo Mortensen fasste es in einem Zitat von Agnès Varda bei der Preisverleihung schön zusammen: Um einen guten Film zu machen, muss man nichts zeigen, sondern Lust aufs Hinschauen machen. Parasite zeigt. Atlantique macht Lust aufs Hinschauen. Aber ein Grand Prix fürs Debüt ist ja auch nicht schlecht.

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