Cannes 2019: Die Palmen von critic.de
Wer warum die Goldene Palme gewinnen sollte und ein paar dringend notwendige Sonderpreise: Bevor die Jury um Alejandro González Iñárritu ihre Gewinner kürt, haben wir schon mal vorgelegt.
Goldene Palme: Atlantique von Mati Diop

Mit geschlossenen Augen liegt die junge Ada in einer schmucklosen Strandbar an der senegalesischen Küste. Hellgrüne Laserpunkte streifen durch den Raum und über ihr Gesicht: eine körperlose Berührung, die ihr Ziel nicht wirklich erreichen kann. Mati Diop schildert in Atlantique das Schicksal einer Hinterbliebenen, oder eher: Sie spürt dem Zustand des Hinterbliebenseins nach – einem Zustand, der die Grenzen des eigenen Ichs, die Grenzen zwischen Leben und Tod, die Grenzen zwischen Heimat und Fremde mehr und mehr auflöst. Diops gleichermaßen träumerischer wie präziser Film ist ganz geprägt von den Rhythmen und den sich ständig wandelnden Formen des Ozeans – er verbindet äußere Ruhe mit innerem Tumult, seine Bilder sind gleichermaßen offene Flächen wie bedrohliche Abgründe. (PS)
Großer Preis der Jury: Portrait of a Lady on Fire von Céline Sciamma

Ob man als Jury sagen darf, dass es ein knappes Rennen um die Goldene Palme war? Der Grand Prix du Jury 2019 geht an Céline Sciamma für ihre Lust an der Reduktion, das in den Blicken ihrer Darstellerinnen lodernde Feuer, ihren modernen Klassizismus. Viele kleine, leise Momente machen Portrait of a Lady on Fire aus. Momente, die gestohlen werden vom tragischen Schicksal, nicht das richtige Leben, nicht die lesbische Liebe leben zu dürfen. Dem Fluss der Konventionen tritt Sciamma vollkommen souverän entgegen, indem sie nicht die Konventionen negiert, sondern die kleinen Lücken im System sucht und nutzt. Auf dass sie größer werden, bis die Normen platzen. (FJ)
Preis der Jury: A Hidden Life von Terrence Malick

Es gibt kein Zurück ins Paradies, und es gibt die transzendente Kamera des Terrence Malick nicht ohne die Welt, die diese Kamera immer wieder zum Neuansetzen zwingt. Der Einbruch des Nationalsozialismus ins paradiesische Oberösterreich stört nicht nur das Leben des Franz Jägerstätter, sondern zerschneidet auch den Film. A Hidden Life ist eine verzweifelte Suche, keine moralische Zwickmühle oder Aufzeichnung eines Leidenswegs. Und er besteht aus so viel, dass man in ihm noch für lange Zeit entdecken wird. Zweimal taucht etwa Franz Rogowski auf, einmal als Soldat und einmal als Mithäftling, und lispelt so herzzerreißend in Malicks Tonspur hinein, dass man tatsächlich kurz im finstersten Tal ans Gute glaubt. (TK)
Beste Regie: Matthias & Maxime von Xavier Dolan

Eine Instagrammerin will für ihren ersten richtigen Film einen Kuss zwischen zwei Männern drehen, aber Matthias & Maxime geht in die Schwarzblende, sobald sich die beiden Köpfe annähern. Xavier Dolan greift in den Film seiner jungen Kollegin aus der eigenen Figurenschaft ein, um aus dem, was ein Kuss in einem Film-im-Film hätte sein können, eine Leerstelle zu machen, aus dieser Leerstelle dann die emotionale und dramaturgische Substanz des eigenen Films zu ziehen. Und was für ein Film: Dolan wirkt auf seine Figuren niemals von außen ein, lässt sie aber auch niemals einfach in Ruhe. Er wühlt sie auf, von innen. Wie er das hinbekommt, weiß ich nicht, aber es ist immer wieder aufregend. (TK)
Bestes Drehbuch: Parasite von Bong Joon-ho

Ein Drehbuch wie ein Schweizer Uhrwerk haben Bong Joon-ho und Han Jin-won auf der Grundlage des Mangas von Hitoshi Iwaaki verfasst. Bei der Unterwanderung einer reichen durch eine arme Familie ist jedes Detail großartig platziert, der Rhythmus perfekt gesetzt, wird der Wechsel der Erzählperspektiven locker beherrscht, werden die Figuren geschickt zueinander ins Verhältnis gebracht, sodass der Thriller die Geschwindigkeit anziehen kann und das Drama darin seine Kraft entfaltet. Wie ein Schweizer Uhrwerk, nur mit Seele, mit Überschwang, mit Blick für Klassenfragen und Leidenschaft für das Menschliche in unmenschlichen Situationen. Parasite lässt Suspense, Action und Sozialdrama ineinandergreifen, bis wir nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. (FJ)
Bester Hauptdarsteller: Antonio Banderas in Pain and Glory von Pedro Almodóvar

Antonio Banderas lässt einen alternden Filmregisseur zu einer besonderen Art von Virtuosen werden: zu einem Virtuosen des körperlichen Schmerzes. Ob einsam schwebend in einem leuchtenden Pool oder lachend auf einem Klappstuhl mit einem Schuss Heroin in der Lunge: die Bearbeitung und Moderierung diverser körperlicher Leiden wird hier zur unsteten Abfolge von Starrheit und überschwänglicher, lustvoller Bewegung. Der Schmerz sondert ab und organisiert die Möglichkeiten des menschlichen Miteinanders neu. In Banderas’ gleichermaßen offenen wie ironisch-distanzierten Blicken und in den Bewegungen seines Gesichtes, dessen Ausdruckskraft sich stets vor allem nach innen zu richten scheint, trifft die Sehnsucht nach persönlicher Verbundenheit auf den instinktiven Widerwillen gegen alles Soziale. (PS)
Beste Hauptdarstellerin: Ophélie Bau in Mektoub My Love: Intermezzo von Abdellatif Kechiche

Ophélie Bau heißt auch im Film Ophélie und ist die unbestrittene queen of the club in der dreistündigen Partyszene von Mektoub: My Love. Sie weiß, was sie will, hebelt die unbeholfenen, manchmal schlichtweg feigen Avancen der Männer selbstbewusst aus, holt sich dann aber auch, worauf sie gerade Lust hat. Nicht nur wegen ihrer 13-minütigen Sexszene verkörpert sie auch das große Problem eines Regisseurs, der Frauen zu fast absurd souveränen Subjekten macht und gleichzeitig ihre Körper objektiviert. Was unabhängig davon, wie man sich diesem Problem nähert, offensichtlich ist: dass Kechiche, der sich selbst gern als Bildhauer oder Maler sehen würde, ohne seine jungen Darstellerinnen ein Nichts wäre. Ophélie Bau etwa beschwört mit ihrem Spiel mühelos die ganze Vertrautheit eines Familien- und Freundeskreises, der immer schon gemeinsam am Strand rumhängt und abends feiern geht. Sie regiert nicht nur den Club in jedem Moment, sondern versammelt in sich eine ganze Vergangenheit und lässt, eine der schwersten Übungen, das Eingespielte eingespielt aussehen. (TK)
Weitere Preise
Beste Kondomszene: Parasite von Bong Joon-ho
Niedrigsthängende Meta-Ebene: The Dead Don’t Die von Jim Jarmusch
Souveränstes Mansplaining: Oh Mercy! von Arnaud Desplechin
Schönste Spuckefäden: Portrait of a Lady on Fire von Céline Sciamma
Alejandro González Iñárritu Award für die besten Absichten: Thierry Frémaux für die Wahl des Jury-Präsidenten
Beste Hollywood-Hommage: The Whistlers von Corneliu Porumboiu
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