Cannes 2018: Die Palmen von critic.de
Wer warum die Goldene Palme gewinnen sollte und ein paar dringend notwendige Sonderpreise: Bevor die Jury um Cate Blanchett ihre Gewinner kürt, haben wir schon mal vorgelegt.

Goldene Palme: Lazzaro Felice von Alice Rohrwacher
Lazzaro Felice zeigt ein Wunder, das nichts ist als eine Lücke im Lauf der Geschichte, und einen Heiligen, der deshalb in unserer Welt so fremd erscheint, weil er sich in ihr vollkommen zuhause fühlt. In ihrem Film verschränkt Alice Rohrwacher ländliche Vergangenheit und städtische Gegenwart, changiert befreit zwischen unterschiedlichen Tonfällen – und weiß, dass die Musik nicht denen gehört, die sie spielen, sondern nur denen, die ihrer würdig sind. (PS)
Großer Preis der Jury: Sorry Angel von Christoph Honoré
Zwei Männer, die sich lieben, ohne dass ihrer Liebe Zeit gegeben würde, was wiederum der Kern der Liebe ist. Die Zeit fließt der Liebe davon, dafür hat sie Raum – einen breiten, weit über Stadtgrenzen hinweg erstreckten, mit einem gigantischen, liebevollen Nebenpersonal bevölkerten Raum. Sorry Angel ist ein wunderschöner, tieftrauriger, sogar cinephiler Film über die Raumzeit der Liebe. (LS)
Preis der Jury: BlacKkKlansman von Spike Lee
Nach 27 Jahren Abwesenheit ist Spike Lee mit gewohnt nonchalanter In-Your-Face-Geste nach Cannes zurückgekommen – und einem period piece, in dem die 1970er die Gegenwart spielen. BLacKkKlansman trägt seine politische Relevanz vor sich her, aber bewegt sich dabei niemals gegen das Kino, sondern immer mit ihm. (TK)
Beste Regie: The Wild Pear Tree von Nuri Bilge Ceylan
Gehen beim Telefonieren, Gehen beim Philosophieren, Gehen beim Nachdenken und umgekehrt: Ob Hafenstadt oder Bergdorf, Nuri Bilge Ceylan erkundet die türkischen Landschaften und die in ihnen beheimatete Gesellschaft immer gleichzeitig topografisch und diskursiv. Er überlädt seine Bilder mit verbalen Tiraden, um plötzlich fantastische Tricks aufzufahren – mit Fröschen, einem trojanischen Pferd und einem trockenen Brunnen. Die Liebe ist da, sie kostet aber was. Selten liegen emotionale Belagerung und Erkenntnis so dicht beieinander. (FJ)
Bestes Drehbuch: Shoplifters von Hirokazu Koreeda
Shoplifters schildert die unscheinbare Umwälzung menschlichen Zusammenseins, die sich ereignet, wenn Vertrautheit nicht erarbeitet werden muss, sondern von Anfang an gesetzt ist, wenn Nähe nicht das Ziel, sondern die Grundlage für alles Kennenlernen ist. Hirokazu Koreedas Film ist durchdrungen von einer ruhigen Zuversicht – von einer freudigen Endgültigkeit, die darin besteht, dass man sich den Anderen zum Schicksal macht, ungesehen und bedingungslos. (PS)
Bester Hauptdarsteller: Yoo Ah-in in Burning von Lee Chang-dong
Yoo Ah-in bekommt in der ersten Sequenz von Lee Chang-dongs Burning unbemerkt ein Lotterie-Los untergejubelt, mit dem er prompt einen Preis gewinnt, schon ist sein Schicksal besiegelt. Und so spielt er dann diesen Yongsu: als wäre dieser kein Akteur seiner Geschichte, als würde ihm dieser Film die ganze Zeit nur zustoßen. Eine mimische Bandbreite der Passivität, von irritiert bis verwirrt bis fassungslos, bis er dann schließlich doch zu handeln beginnt. (TK)
Beste Hauptdarstellerin: Zhao Tao in Ash Is Purest White von Jia Zhang-ke
Das Äußere ändert sich: das Gesicht, die Frisur, die Kleidung, der Gang. Nach fünf Jahren Gefängnis erkennen wir Qiao erst nicht wieder. Zhao Tao spielt eine Frau auf der Suche nach Anschlüssen an ein früheres Leben, eine frühere Identität; sie spielt zwei Frauen, die in einem Gesicht zusammenfinden müssen. Weder dieselbe geblieben noch zu einer anderen geworden, wird ihr Gesicht zur Projektionsfläche einer Zerrissenheit, die weit über die einer Figur hinausgeht. (LS)
Bestes Darstellerensemble: Knife + Heart von Yann Gonzalez
Erstmal sind die Schauspieler, wie alles in diesem Film, nur Flächen, egal wie zerfurcht und eigenartig ihre Gesichter sind, wie krumm ihre Rücken, wie holprig ihr Gang. Vanessa Paradis ist merkwürdigerweise der Mittelpunkt der schwulen Welt, die Yann Gonzalez entwirft, und beleuchtet mit ihrem harten, verletzten Blick die Jungen und Männer, die sich ergänzen, sich widerstreben, sich widersetzen, sich verführen. Knife + Heart lebt von seinem Ensemble, das Tradition und Gegenwart des französischen queeren Kinos verbindet, von Jacques Nolot bis Bertrand Mandico. (FJ)

Weitere Preise
Beste Kondomszene: Sorry Angel und Burning (ex aequo)
Blumigste Badezimmertapezierung: Mandy von Panos Cosmatos
Bester Wikipedia-Ausflug: The House That Jack Built von Lars von Trier
Bester Nachbar: Denis Podalydès in Sorry Angel von Christoph Honoré
Alejandro González Iñárritu Award für die besten Absichten: A.B. Shawky für Yomeddine
Beste abwesende Hauptdarstellerin: Isabelle Huppert
Bester Godard-Film: Le livre d’image von Jean-Luc Godard
Kommentare zu „Cannes 2018: Die Palmen von critic.de“
ijb
Dem Vorschlag, einen Preis für den "besten Godard-Film" zu vergeben, ist die Jury ja tatsächlich nachgekommen.
Frédéric
Der Film drängt sich für eine Sonderpalme tatsächlich auf, so eigen ist er. Schade nur, dass damit kein Godard-Preis eingeführt wurde beim Festival!