Buntes, verlockendes Lichterspiel - San Sebastián Film Festival 2024

Von der Kritik wurde Audrey Diwans Neuinterpretation des Softcore-Klassikers Emmanuelle sehr verhalten aufgenommen. In seiner gestalterischen Souveränität kann das diesen klugen, wunderschön fotografierten Film, in dem Erotik auch mit Verzicht zu tun hat, aber nicht erschüttern. Andrea Arnold beweist dagegen einen fatalen Hang zum Vogelmenschenkitsch.

Es beginnt mit schnellem Sex im Flugzeug. Emmanuelle (Noémie Merlant) folgt einem hübschen Mitfliegenden nach zielstrebiger Kontaktaufnahme auf die geräumige und geschmackvoll eingerichtete Erste-Klasse-Toilette, dreht sich zum Spiegel, zieht sich den Rock hoch, und er dringt in sie ein. Gleich darauf folgt ein Schnitt auf Emmanuelles Gesicht, dessen Minenspiel Konzentration eher als Lust evoziert. Eine Minute Filmzeit beansprucht der erste von gar nicht mal so vielen Geschlechtsakten des Films zunächst höchstens – eine Szene später im Film, in der Emmanuelle denselben Akt hoch in den Lüften auf Bitten von Kei (Will Sharpe) nacherzählt, dauert dann freilich deutlich länger. Nicht der Vollzug, sondern die Reflexion von Sex ist das primäre Interesse des neuen Emmanuelle-Films.

Der Rhythmus von Sex und Arbeit

Keineswegs folgt daraus, dass der Film selbst nicht sexy wäre; dass das Reden über Sex bereits Teil des erotischen Spiels ist, war selbstverständlich bereits vor Audrey Diwans Neuinterpretation des 1970er-Softcore-Klassikers geläufig. Und doch: Selten wurde im Kino zuletzt derart anregend über Sex gesprochen wie im diesjährigen Eröffnungsfilm des San Sebastian Film Festivals. Noémie Merlants Emmanuelle – nicht mehr wie im Original eine Ingenieursgattin, sondern die ungebundene Angestellte einer Hotelkette – beschreibt den Koitus im Gespräch mit Kei unter anderem, indem sie mit ihrem Zeigefingernagel rhythmisch auf die Tischplatte schlägt. Tack-Tack-Tack-Tack, so hat er mich von hinten genommen.

Später im Film schlägt eine andere Frau mit ihrem Finger einen anderen Rhythmus auf eine andere Tischplatte: Ti-Ta-Ti-Ta-Ta, das ist der Rhythmus, in den sich die Bewegungsabläufe in meinem Hotel fügen, erläutert Margot (Naomie Watts), die Chefin des Hongkonger Hotels, in dem Emmanuelle als von der Konzernzentrale entsandte Qualitätstesterin logiert. Margot beschreibt, wie Gäste sich durch ihr Hotel bewegen, wie ihnen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wird, wie ihre Sinne innenarchitektonisch umschmeichelt werden, wie sich der Hotelbesuch zu einem einzigen flüssigen Ti-Ta-Ti-Ta-Ta-Erlebnis fügt. In das fügen sich schließlich auch die Escort-Girls und -Boys ein, die, von der Geschäftsführung geduldet, am Hotelpool ihrer Arbeit nachgehen und die Gäste mit auf ihre Zimmer begleiten. Auf dass das Ti-Ta-Ti-Ta-Ta ins Tack-Tack-Tack-Tack übergeht.

Kapitalismus als ästhetisches Phänomen

Auch Emmanuelle (wer den Originalfilm und dessen Sequels kennt, wird es sich schon denken können) macht die intime Bekanntschaft eines dieser Escort-Girls. Diese und ein paar andere Begegnungen, respektive teils auch autoerotische Erregungen (die schönste, die das Zeug zum Genreklassiker hat, involviert einen Eiswürfel) haben zur Folge, dass sie den Auftrag, der sie nach Hongkong führt, aus den Augen verliert. Der Konzern möchte nämlich, stellt sich bald heraus, gar nicht Emmanuelles echte Meinung über die Qualität des mit allen Wassern des Luxustourismus gewaschenen Etablissements erfahren; vielmehr soll Emmanuelle vor Ort einen Vorwand finden, der es der Zentrale ermöglicht, die nicht ausreichend effiziente Margot ohne Abfindung zu entlassen.

Emmanuelle soll, kurz gesagt, dafür sorgen, dass sich die Räder des kapitalistischen Betriebs geschmeidig weiter drehen. Sie allerdings macht nicht mit; und verliert sich stattdessen lieber in einem bunten, verlockenden Lichterspiel, das seinen Ursprung freilich gleichfalls in der ökonomischen Sphäre hat. Emmanuelle ist, darin ihrer 1970er-Jahre-Vorgängerin, mit der sie sonst nicht viel gemein hat, doch wieder ähnlich, eine Frau, die den Kapitalismus primär als ein ästhetisches Phänomen begreift.

Die Traurigkeit bannen

Nach dem Prolog im Flugzeug spielt der Großteil des Films im Luxushotel; einem monetär wattierten Reich der fein drapieren Speisen, leise surrenden Aufzüge und blitzblank polierten Badfließen. Die Frage, was als das Außen dieses Reiches zu gelten hätte, beziehungsweise ob es ein solches Außen überhaupt gibt, ist nicht leicht zu beantworten. Ein Unwetter mitsamt apokalyptischen Sturmwinden wird von den Hotelangestellten zunächst als ästhetisches Spektakel bepriesen – bis plötzlich doch der Strom ausfällt und aus einer Baustelle gar Wasser ins Hotel einzudringen droht. Ein metaphorisches Manöver, klar, und nicht gerade ein unsubtiles. Das gelegentlich etwas bemüht wirkende Winken mit dem kulturkritischen Zaunpfahl (ein anderes Beispiel: früh im Film setzt die Kamera neben Emmanuelles adrett gestutztem Schamhaar auch einen Bluterguss ins Bild, ohne dass wir etwas über dessen Entstehung erfahren würden) kann den von der Kritik bislang äußerst verhalten aufgenommenen Film in seiner erstaunlichen gestalterischen Souveränität glücklicherweise kaum erschüttern. Als Film über die flüssige Navigierbakeit und inhärente Melancholie kapitalistischer Oberflächen ist Emmanuelle höchstens mit David Finchers gleichfalls unterschätztem The Killer vergleichbar. Auch David Cronenbergs ironischen Analysen eines entnaturalisierten Begehrens kommen Diwans aufregend unterkühlten Triebbildern näher als die diversen Body-Horror-Etüden der letzten Jahre.

Jedenfalls ist auch nach dem Sturm nicht geklärt, ob es irgendwo da draußen tatsächlich einen Ort gibt, an dem der vom neuen Emmanuelle gleichzeitig zelebrierte und sezierte Zusammenhang zwischen Geld und Begehren keine Geltung mehr hat. Zwar verlässt Emmanuelle, auf den Spuren des mysteriösen Keis, das Hotel irgendwann doch noch; aber den künstlichen Lichtern und warenförmigen Begehrensstrukturen entkommt sie deshalb noch lange nicht. In die finale Schwarzblende hallen Lustschreie, und doch steckt in diesem klugen, wunderschön fotografierten Film, in dem Erotik viel mit Distanz und gelegentlich auch mit Verzicht zu tun hat, ein düsterer Kern. Sex haben und kein Sex haben sind, zeigt uns Emmanuelle, letzten Endes nur zwei vielleicht gar nicht mal so unterschiedliche Versuche, die Traurigkeit zu bannen.

Den Deutschen entkommt man nicht

Ein eher unspezifischer, oder jedenfalls unreflektierter Unmut überkommt mich fast immer, wenn ich auf Auslandsreisen plötzlich Passanten deutsch sprechen höre. Ich habe doch extra das Land verlassen, um eben diese Sprache nicht zu hören, zumindest nicht von irgendwelchen Randos, deren Geschwätz mir stets allzu grob vor Augen führt, dass ich einer von ihnen bin: ein (deutscher) Tourist. Tatsächlich fühle ich mich in San Sebastian auch deshalb wohl, weil dieses Erlebnis hier seltener ist als zum Beispiel auf dem Cinema Ritrovato, dem einzigen anderen Festival im nichtdeutschsprachigen Ausland, das ich regelmäßig besuche. Es gibt hier schlichtweg wenig deutsches Publikum.

Freilich: Man entkommt den Deutschen einfach nicht. Wenn sie sich einmal auf den Festivals rar machen, suchen sie dafür die Leinwände heim. Zum Beispiel in Bird, der dieses Jahr in Cannes Premiere feierte und in San Sebastian in der Sektion Perlak gezeigt wird. Man ist ja, das kommt in diesem Fall erschwerend hinzu, immer auch Sklave seiner Vorurteile: Sowohl britische Sozialdramen als auch die Filme der Regisseurin Andrea Arnold waren in der Vergangenheit selten wirklich mein Ding. Dennoch gefällt mir Bird zunächst ziemlich gut: eine (noch nicht mal ganz) Teenierebellion, die Zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams) soll zur Hochzeit ihres Vaters Bug (Barry Keoghan) ein – schon ziemlich spektakuläres – pinkes Leopardenmusterkleid anziehen, trägt aber lieber Schlabberlook und lässt sich eine Jungsfrisur schneiden. Der Vater – der am liebsten mit Elektrorollern die Gegend unsicher macht und dessen wenig solide Zukunftsplanung sich um eine hoffentlich bald wertvollen Schleim absondernde Kröte dreht – drängt. Die Stiefmutter in spe versucht zu vermitteln, Bailey stürmt wütend in ihr Zimmer und schmeißt die Türe zu. Die Kinderzimmerwand, das ist ein besonders schönes Bild, wird zum Splitscreen und flüchtige Naturimpressionen drängen sich zwischen die Tapetenmuster – der gesamte Film ist auf 16mm gefilmt, die Materialität, die grobe Körnigkeit scheinen in fast jeder Einstellung durch.

Ein Herumtreiber, der bedeutungsschwanger in die Welt schaut

…und dann kommt wenig später Franz Rogowski. Leider ist er, stellt sich schnell heraus, der titelgebende Vogel (oder jedenfalls der wichtigste unter den diversen Vögeln des Films). Rogowskis Bird ist ein Herumtreiber, der öfter Röcke als Hosen trägt und Bailey zunächst in den Wiesen vor der Stadt begegnet. Außerdem ist er, stellt sich ebenfalls schnell heraus, eine wandelnde Metapher, die, unter anderem, auf Baileys Identitätssuche und vielleicht auch auf ihren nur angedeuteten Gender Trouble verweist. Das Problem an der Figur ist freilich nur in zweiter Linie der Bedeutungsüberschuss, den sie in den vorher angenehm kleinformatigen Film hinein trägt; in erster Linie nervt Rogowski, weil er in einem Fort wirklichkeitsfremd und bedeutungsschwanger in die Welt schaut, ein entrücktes Lächeln auf seinen Lippen. Weil er eine statische poetische Sentimentalität absondert, die einem der schlechteren Wim-Wenders-Filme entsprungen sein könnte, und die die variantenreiche Direktheit der übrigen Performances – Adams ist durchweg sehr gut und Keoghan richtiggehend spektakulär – ausbremst.

Man muss natürlich präzisieren: Mich nervt diese Figur. Andrea Arnold hingegen hat offensichtlich an Rogowski und ganz besonders an seinem Gesicht einen Narren gefressen. Das Rogowski-Gesicht ist ja in der Tat äußerst expressiv, und es gibt durchaus auch Filme, in denen ich ihn großartig finde. Hinzu kommt, dass seine Figur vielleicht auch nur Probleme sichtbarer macht, die Bird auch ohne sie hätte. Allzu eifrig drängt der Film darauf, die Geschichte um Bailey und Bug zu einem umfassenden Working-Class-zentrierten Sozialpanorama – gelegentlich fast zu einer Kosmologie des ewigen Flüggewerdens diverser Jungmenschen und -tiere – zu erweitern.

Ganz verschwindet der warmherzige Coming-of-Age-Film, den mir die erste Viertelstunde versprochen hatte, unter all dem Ballast glücklicherweise nicht. Insbesondere eine Szene kurz vor Schluss, die dem Eurodance-Klassiker “Cotton Eye Joe” sowie den erwähnten pinken Leopardenmusterkleidern ein rührendes Doppeldenkmal setzt, tröstet über den fatalen Hang zum Vogelmenschenkitsch momenthaft hinweg.

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