Bürgerkriegs-Brettspiele – Kurzkritiken vom DOK Leipzig 2020

Ein russischer Zirkus als System aus Macht und Kontrolle, der Amerikanische Bürgerkrieg als Familienspaß – und zwei politische Kurzfilme, die es ganz unterschiedlich mit der Wahrheit halten: Festivalnotizen von Studierenden der Uni Hildesheim.


Joy
(Russland 2020, Regie: Daria Slyusarenko, 63′)

Wenn der Film Joy etwas ist, dann ein intensives Innen. Man bewegt sich um die Wohnwagen der Zirkusleute herum als Beobachter*in eines Geschehens, das umzäunt ist. Der Blick ist im wahrsten Sinne des Wortes begrenzt. Hier durch einen provisorischen Zaun oder ein flatterndes Vorzelt, dort durch einen Baum oder einen Käfig. Begrenzt ist damit auch der Blick der Figuren auf sich selbst. Keine Weite, kein Durchblick. Ein Wirrwarr an Lichtern und Auftritten, an Hass und Liebe, Armut und Frust.

Einzig die Tiere scheinen etwas zu verkörpern, das darüber hinausgeht: Obwohl sie ein Teil des Systems aus Macht und Kontrolle sind, schaffen sie es, den Blick ins Außen zu lenken. Bricht der Luchs aus, droht innen alles zusammenzubrechen. Die Szene, in der das Tier wieder eingefangen wird, ist ein Wechsel: vom Innen zum Außen. Öffnet sich der Blick der Kamera, öffnet sich auch der Mikrokosmos des Zirkus. Trotzdem gewinnt man nicht an Übersicht – eine neue Art der Unübersichtlichkeit entsteht. Die zerstreuten Zirkusleute in einer wilden Landschaft, Lichtkegel der Taschenlampen, Befragungen der Nachbarn und am Ende: der eingefangene Luchs, zurück im Mikrokosmos, zurück im Innen.

Charlotte Schönnagel

 

„Warte, das muss aufgenommen werden. Sie spürt den Zirkus-Vibe“, sagt Valeri, während er in die Kamera blickt. „Sie“ ist Yana, seine neue Show-Partnerin. Die Protagonist*innen von Daria Slyusarenkos Film Joy arbeiten in einem Zirkus. Gemeinsam mit einem Zelt, zwei Luchsen und einem Bären, der nie im Bild ist, reisen sie durch verschiedene russische Kleinstädte und spielen ihre Nummern vor oft nur spärlich besetzten Bänken. Die Kamera ist nahezu immer dabei. Sie dokumentiert den rauen Umgangston zwischen den Akteur*innen abseits der Manege, den beengten Alltag im Wohnwagen sowie das Chaos aus nassen Zeltplanen und viel zu kleinen Käfigen zwischen den Wagen.

Das alles wird aus großer Nähe gefilmt, die insbesondere in den langen Streitsequenzen nur schwer auszuhalten ist. Immer wieder illustriert der Film die Begrenzungen dieses Zirkus-Kosmos. Vorhänge, Zäune und Sträucher begrenzen die Bilder. Es gibt nur selten Momente der Weitsicht oder Durchsicht. Die wenigen Bewegungen aus der Zirkuswelt nach außen, als zum Beispiel einer der Luchse zu fliehen versucht, erscheinen umso prägnanter. Joy produziert ein eindrückliches Nebeneinander aus Momenten „hinter den Kulissen“ und „in der Manege“, aus Aufführung und Probe, aus privatem und öffentlichem Raum.

Christina Sandmeyer

 

The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant (USA 2020; Regie: Jim Finn, 61′)

Welche Spuren und Narben hinterlässt die Geschichte in den Landschaften der Gegenwart? The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant nimmt uns mit zu den Orten des US-amerikanischen Bürgerkriegs. Peach Orchard, Fort Pillow, Yellow Tavern: verblichene, oft idyllische 16mm-Aufnahmen von Baumwollfeldern, Seen, moosigen Wäldern, Gedenktafeln, Kriegsgräbern. Wie Gespenster dringen Lichtbrechungen und Geräusche in die Bilder ein, ihre Ruhe nimmt eine unheimliche Qualität an. Durch diese Wälder, hören wir, sind Sklavenfänger patrouilliert, und in den Feldern ist Blut versickert.

Die Off-Stimme des Regisseurs rast atemlos dahin. Episodenhaft und extrem verdichtet erzählt sie von Menschen, Daten, Orten. Das überfordert oft und soll es wahrscheinlich auch. Auf Bürgerkriegs-Brettspielen zeichnet der Film die Schlachten nach: das Chaos des Kriegs als Familienspaß. Wir sehen steinerne Südstaaten-Generäle auf Sockeln, Gebäude, die ihre Namen tragen, die Konföderierten-Flagge auf Denkmälern, Werbetafeln, bunten Sammelkarten. Zeugnisse einer gewaltvollen Geschichte, die zwar allgegenwärtig ist, aber längst nicht verarbeitet oder abgeschlossen.

Roberta Huldisch

 

Namen, Daten, Schlachten und noch mehr Namen. Die Informationsdichte der Audiospur trifft in The Annotated Field Guide of Ulysses S. Grant auf Bilder, die im Vergleich dazu leer erscheinen. Menschen zeigt der Film kaum. Stattdessen gibt es viele Landschaftsaufnahmen, Bilder von Friedhöfen, Denkmälern und Gedenkstätten. Dazwischen Sequenzen, in denen sich animierte Spielsteine wie von selbst über die Felder von Kriegsbrettspielen bewegen. Sie illustrieren schematisch das, was die Off-Erzählstimme berichtet. Aber die Beschriftungen der Steinchen und Spielbretter sind kaum zu erkennen.

Ob man durch diese Anhäufung von Orten und Informationen wie von unterschiedlichem Bildmaterial etwas über den Sezessionskrieg lernt, ist fraglich; ob der Film das überhaupt will, ebenso. Es gibt hier von allem zu viel und gewiss auch noch zu viele Denkmäler von Feldherren eines brutalen Krieges, die heute, im Jahr 2020, in den USA zu finden sind. An dieser Stelle den kritischen Gestus des Films auszumachen, wäre eine mögliche Lesart. Einer Nach-lese, eines nachträglichen Lesens, bedarf es bei der komplexen Struktur allemal.

Christina Sandmeyer

 

Hello,“ We Lied (USA 2020, Regie: Laura Gamse, 12′) und Operation Moonbird (Deutschland 2020, Regie: Dustin Lose, 22′)

Wie kann politischer Film aussehen, in einer Zeit, in der Wahrheit ein umstrittenes Gut und unsere Aufmerksamkeit an hundert Orten gleichzeitig ist? Zwei Kurzfilme des Programms „It’s Politics, Stupid“ finden darauf ganz unterschiedliche Antworten. „Hello“, We Lied begibt sich ins Nervenzentrum der US-amerikanischen Fake-News-Maschine. Statt zu ordnen, eignet er sich die Bildsprache der Desorientierung an: Browserfenster, Katzenmemes, eine Stadtlandschaft voller Bildschirme, zwei Autos fahren auf dem Freeway und heben ab. Die Stimmen und Bilder kommen von überall und nirgendwo. Was ist echt und was ist fake?

Von der Reizüberflutung zum bewussten Reizentzug: In Operation Moonbird kreist die Kamera mit zwei Rettungspiloten der Sea-Watch über dem Mittelmeer. Unten entfaltet sich eine Szene wie auf einem Spielbrett. Ein Boot voller flüchtender Menschen, ein Frachtschiff, das sich weigert, sie aufzunehmen. Das tiefblaue Meer funkelt, zynisch und schön. Über den Bildern liegt das Surren des Flugzeugmotors, das gleichzeitig aufreibt und betäubt. Der Film weigert sich, zu verkomplizieren oder zu emotionalisieren. Er steht für ein radikales Hinschauen. Wir kreisen, wir werden Zeuginnen.

Roberta Huldisch

 

Did this just happen? „Hello,“ We Lied ist ein Kurzfilm, der sich humorvoll und kritisch mit der US-amerikanischen Berichterstattung beschäftigt. Der Film legt den Fokus auf den von Donald Trump viel propagierten Begriff der „Fake News“. Inmitten der Debatte um Wahrheit oder Lüge erzeugt ein neues Format hier ein noch größeres Chaos und hinterfragt die Seriosität von großen Nachrichtensendern wie zum Beispiel Fox News. Eine satirische Berichterstattung, die tatsächlich Fake News erfindet und veröffentlicht. Die offen und, ohne es zu verstecken, sagt: „Hello, we lied.“

Wahrheit und Täuschung, truth or fake oder Verzerrung der Realität? Der Film von Laura Gamse bezieht politisch Stellung. Durch ein genial zusammengeschnittenes Geflecht von Animationen und Ausschnitten von Fernsehbeiträgen gestaltet die Regisseurin eine Partitur im essayistischen Stil, in der die Absurdität der Situation auf den Punkt gebracht wird, die aber auch einen bitteren Beigeschmack hinterlässt. Did this just happen?

Laura Wiesinger

 

Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „Fragen an den aktuellen Dokumentarfilm“ der Stiftung Universität Hildesheim.

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