Blubbern und Schmatzen: Ausstellung in Berlin

Schweißperlen und Schaffelle im silent green: Eine Ausstellung bietet die Gelegenheit, in die körperlichen Bild- und Tonwelten einzutauchen, in denen Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor Grenzbereiche des Sinnlichen erkunden.

Besonders in den heißen Monaten bietet die unterirdische Betonhalle im silent green Zuflucht vor Sommerschwüle und Gewitter. Solange sie von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor bespielt wird, setzt sie dem Körper jedoch auf andere Weise zu: Schweißperlen tauscht man ein gegen wohlige Schauer. Schon hinter dem Eingang lauert ein veritabler Schlund, aus dem es schmatzt und blubbert. Last Judgement (2013) heißt die Arbeit, mit der die Besucher*innen begrüßt werden, sobald sie die Ausstellung Breathing Matter(s) über eine Rampe betreten – einst Zufahrt zur Leichenhalle des Krematoriums Wedding. Tatsächlich fühlt es sich ein wenig so an, als würde man langsam in die Unterwelt hinabsteigen. Raumgreifende Projektoren werfen geisterhafte Schemen an die Wände und veranstalten gemeinsam mit der entsprechenden Klangkulisse ein tosendes Schauspiel an der Schwelle von Himmel und Meer, Leben und Tod.

Die elementare Sogwirkung, die dabei entsteht, ist ein typischer Charakterzug der künstlerischen Zusammenarbeit von Paravel und Castaing-Taylor. Last Judgement gehört zu einer Serie von Filmen, die sich mit den Kräften des Meeres beschäftigt und deren knapp 90-minütiges Herzstück Leviathan (2012) dem Duo kritische Aufmerksamkeit im Festival-Kosmos bescherte. Über ein Jahr verbrachten Paravel und Castaing-Taylor an Bord eines industriellen Fischtrawlers im Atlantik und begleiteten die Arbeit der Crew mit Mini-DV-Kameras aus ungewöhnlichen Perspektiven, die weniger den Menschen selbst als dessen Geworfenheit ins Visier nehmen.

Die Kamera als teilnehmende Beobachterin

Paravel und Castaing-Taylor sind mit dem Sensory Ethnography Lab (SEL) der Harvard University verbunden, das letzterer 2006 gründete und bis heute leitet. Ihrer angestammten Disziplin, der Anthropologie, haben die beiden dezidiert abgeschworen, weil sie der akademische Jargon und überhaupt die Beschränkung auf das Ausdrucksmedium Sprache störte. Am SEL, das mittlerweile zur Marke geworden ist (und vielleicht selbst eine Art filmischen Jargon benutzt, über den sich ironischerweise hervorragend promovieren ließe), funktioniert Wissensgenerierung nicht semantisch, sondern somatisch: durch einen interdisziplinären Ansatz, der ethnografische Felder ästhetisch beackert und die Sinnlichkeit körperlicher Erfahrung an erste Stelle setzt. Obwohl sie sich teilweise auf Maximen des beobachtenden Dokumentarfilms beruft, sucht diese filmisch verankerte Phänomenologie darüber hinaus nach dezentrierten Blickweisen, um vermeintlich ausgeforschten Bereichen des Realen neue Facetten abzugewinnen – die Kamera als teilnehmende Beobachterin.

Die umfassende Werkschau im silent green bringt die Filme in eine Reihenfolge, an die man sich zwar nicht halten muss, die aber – wenn man es tut – eine Reise ins Innere des menschlichen Körpers beschreibt und zum Schluss sogar ins Unbewusste vordringt. Zu Beginn weiten die Meeresarbeiten den Ausstellungsort ins Kosmische, sie versprühen eine Mischung aus Erhabenheit und ozeanischem Gefühl – so nannte Freud den frühkindlichen Eindruck einer grenzenlosen Verbundenheit von Ich und Außenwelt. Die ebenfalls auf Spielfilmlänge konzipierten Caniba (2017) und De humani corporis fabrica (2023) widmen sich der Fragilität des menschlichen Körpers. Caniba, die ethisch wohl herausforderndste Arbeit, ist ein Flirt dem Abjekten. Sie porträtiert den japanischen (Ex-?)Kannibalen Issei Sagawa, der im Alter auf die Hilfe seines Bruders angewiesen ist. Die extremen Nahaufnahmen des zerfurchten Körpers Sagawas werden mit Super-8-Home-Movies aus der Kindheit des Brüderpaars kontrastiert, die analog auf eine separate Leinwand projiziert werden.

Arbeitsstress tanzend abreagieren

Während Caniba den Körper als Oberfläche abtastet, unter der sich fleischliches Verlangen verbirgt, dringt De humani corporis fabrica auf alle erdenklichen Arten in den Körper ein. In Pariser Krankenhäusern drehten Paravel und Castaing-Taylor über einen Zeitraum von sieben Jahren ein mitreißendes Institutionenporträt, das nicht nur interne Prozesse des Klinikalltags offenlegt, sondern mittels moderner Kameratechnologien auch durch die Arterien, Organe und Gefäße der Patient*innen wandelt. Die abstrakten Gewebsstrukturen erinnern mitunter an entfernte Galaxien. Das silent green präsentiert den Film als 8-Kanal-Installation, was zwar seine lineare Struktur auflöst, aber dafür die SEL-Maßgabe eines aus dem Lot gebrachten Anthropozentrismus räumlich nachempfindet.

An der Stirnwand der Betonhalle ist eine Sequenz zu sehen, in der die Krankenhausangestellten ihren Arbeitsstress tanzend abreagieren. Alle 20 Minuten schwillt die Partymusik auf der Tonspur derart an, dass sie die anderen Exponate übertönt und auch die Ohren der Besucher*innen zu überwältigen droht. Das ist mehr als ein kuratorisches Gimmick: Die Überbeanspruchung verweist auf das Grundanliegen Paravel und Castaing-Taylors, die Grenzen zwischen dem sinnlichen Erleben und der Umgebung verschwimmen zu lassen.

Angenehm flauschiges Echo

Es überrascht nicht, dass der Schlaf, jener Urzustand des Dazwischen, ein gefundenes Fressen für das Duo ist. In somniloquies (2017) werden zwar ebenfalls Körper aus nächster Nähe gefilmt, mindestens genauso wichtig ist allerdings die Tonspur (wie in den meisten anderen Arbeiten auch). Auf ihr hört man das erstaunlich kohärente Gebrabbel des Schlafredners Dion McGregor, das sein Mitbewohner in New York in den 60er-Jahren aufgezeichnet hat. Die Inhalte changieren zwischen erotischen Fantasien, misogynen Tiraden und äußerst unterhaltsamen Ergüssen, wie der Erfindung einer vielversprechenden neuen Zeitform: snail time.

McGregors ungefiltertes Unbewusstes ist in einem stark abgedunkelten Raum zu hören; nebenan ist die kryptische Solo-Installation Bats in my Belfry von Véréna Paravel untergebracht, die ähnlichen Abgründen der Psyche nachspürt. An der Wand hängen Skizzen und Zeichnungen, die Paravel während ihrer Sitzungen beim Psychoanalytiker wie automatisch vor sich hinkritzelte. Neben genitalen Motiven (Gustave Courbets berühmtes Gemälde L’Origine du Monde hängt auch in der Ecke) ist manchmal ein Esel auf den Bildern zu sehen. Mit seinen gespitzten Eselsohren gibt er den idealen Analytiker ab, bleibt selbst aber stumm.

Das Mobiliar der Ausstellung wartet seinerseits mit einigen taktilen Einfällen auf: In dem Raum, der den Fischerei-Film Leviathan beherbergt, liegen vereinzelte Schaffelle aus – ein angenehm flauschiges Echo aus der Kurzfilm-Pastorale Hell Roaring Creek (zu sehen im „Raucherraum“), in der eine Schafsherde einen Bachlauf in den Bergen Montanas überquert. Außerdem stehen in vielen Räumen Sitzsäcke bereit – eine doppelte Einladung zur Immersion: erst im Sitzsack versinken, dann in den Filmen.

Die Ausstellung läuft bis zum 24. August, der Eintritt ist frei. Mehr Infos gibt es hier

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