Bildpolitische Interventionen: Das 66. Filmfestival von Locarno

Das Filmfestival Locarno überzeugte 2013 mit konzentrierter Vielfalt und starken asiatischen Filmen.

When Evening Falls on Bucharest or Metabolism 03

Corneliu Porumboius dritter Spielfilm When Evening Falls on Bucharest or Metabolism (Când se lasă seara peste Buchareşti sau metabolism) hatte nicht nur den rätselhaftesten Titel des diesjährigen Filmfestivals von Locarno, sondern stand auch exemplarisch für eine Reihe von Arbeiten, die Fragen der Ästhetik und Wahrnehmung thematisierten. Im Zentrum von Porumboius Film stehen mehrere Gespräche zwischen einem Regisseur und seiner Schauspielerin. Die beiden haben eine leidenschaftslose wie pragmatisch anmutende Affäre begonnen. Für ihren letzten Drehtag ist eine Nacktszene geplant, doch dem Regisseur kommen Zweifel an der Idee, er täuscht Magenprobleme vor, und die Dreharbeiten geraten ins Stocken. When Evening Falls on Bucharest or Metabolism ist voller Leerstellen. Über den Film im Film erfährt man so gut wie nichts, und die eigentlichen Dreharbeiten werden praktisch ausgeblendet. Stattdessen lässt sich das Werk am besten als eine bildpolitische Intervention umschreiben, in der es unter anderem um dem Einfluss handwerklicher Mittel (hier die Verwendung von 35mm-Material) auf die Form und den Inhalt eines Filmes geht.

Exhibition

Mit der klugen Entscheidung, diesen Beitrag gleich zu Beginn des Festivals zu zeigen, setzte die Auswahlkommission unter der Leitung des neuen künstlerischen Direktors Carlo Chatrian nicht nur ein erstes Ausrufezeichen, sondern unterstrich das Interesse an einem Kino, das ästhetisch-formale Aspekte besonders aufmerksam verfolgt. Ausgangspunkt des britischen Wettbewerbsbeitrag Exhibition von Joanna Hogg ist der Verkauf eines Hauses, in dem das Künstlerpaar D. und H. seit 18 Jahren wohnt. Das Gebäude fällt dabei nicht nur durch seine moderne Architektur auf, sondern vor allem aufgrund seiner überdimensionalen Fenster, die einen großzügigen Einblick in das Leben der Bewohner gewähren. Wie auch Porumboiu lässt Hogg vieles offen und interessiert sich nicht für Erklärungen. Drängende Fragen laufen ins Leere. Warum verkaufen sie das Haus? Exhibition ist eine zurückhaltende Momentaufnahme des Paares und ein Dokumentarfilm über das Haus. Die Offenheit des Gebäudes führt Hogg in der Erzählung fort und lässt den Zuschauer entscheiden, ob er den dokumentarischen oder den fiktionalen Charakter des Films stärker gewichtet.

Instabile Bilder

The Dirties

Von hohem Irritationspotenzial war der US-amerikanische Film The Dirties von Matt Johnson, der in der Nebensektion Cineasti del presente gezeigt wurde. Die beiden Schüler Matt und Owen, Filmnerds und offizielle Außenseiter der Schule, stellen sich ihr Leben als einen endlosen Film vor. Als das Mobbing immer heftiger wird und Owen sich in eine Mitschülerin verliebt (die seinen Avancen nicht einmal abgeneigt scheint), beschließt der enttäuschte Matt, die Mobbing-Täter in der Schule zu erschießen. The Dirties treibt das postmoderne Zitat-Kino eines Quentin Tarantino auf die Spitze. Es gibt kaum eine Szene, in der nicht ein Film zitiert wird oder die beiden sich nicht inszenieren. Gefilmt wird das Geschehen im Dokumentarstil. Sehen wir also ein Mockumentary? Vielleicht. Gut möglich auch, dass The Dirties der erste Found-Footage-Film ist, der ganz auf Archivbilder verzichtet.

Real

Ein nicht minder prekärer Status kommt den Bildern in Kiyoshi Kurosawas Real zu. Seit ihrem Selbstmordversuch ein Jahr zuvor liegt die junge Mangazeichnerin Atsumi im Koma. Erfolg auf Besserung versprechen sich die Ärzte einzig von einer neurochirurgischen Behandlungsmethode namens „Sensing“, die es erlaubt, mit den Patienten in Kontakt zu treten. Doch als Atsumis Freund Koichi dies tut, misslingt es ihm nicht nur, seine Freundin zum Aufwachen zu überreden, es treten auch plötzlich in seinem realen Leben Momente auf, die er zuvor in den Gedanken von Atsumi erlebt hat. Real beginnt als Science-Fiction-Film, der unsere Konzeption der Realität hinterfragt. Was ihn von thematisch ähnlichen Werken unterscheidet, ist der fragile Status, den Kurosawa seinen Bildern einräumt. Hier scheint nichts mehr sicher zu sein, immer wieder wird die glatte und kühle digitale Ästhetik durch Störelemente durchbrochen, Bilder kollabieren und transformieren sich. Dies alleine würde den Film bereits aufregend machen. Doch Kurosawa vollzieht in der Mitte nicht nur einen radikalen Wechsel der Erzählperspektive, sondern bricht auch die enge Genrestruktur auf. Und so befindet man sich schließlich an einem melancholischen Ende und sieht sich einem Dinosaurier gegenüber.

Starkes asiatisches Kino

Backwater

Real war nicht der einzige asiatische Beitrag, der zu überzeugen wusste. Neben dem schönen taiwanesischen Spielfilm A Time in Quchi (Shu jia zuo ye) von Tso-chi Chang konnte vor allem Kurosawas Landsmann Shinji Aoyama mit Backwater (Tomogui) überzeugen. In einer japanischen Kleinstadt wächst der 17-jährige Toma bei seinem Vater und dessen Freundin auf. Der Vater verhält sich Frauen gegenüber gewalttätig. Als Toma die junge Chigusa kennenlernt und mit ihr schläft, stellt er erschrocken fest, dass er wie sein Vater Gewalt als sexuell stimulierend empfindet. Aoyama stellt beunruhigende Fragen in Backwater. Dabei interessiert den Filmemacher nicht in erster Linie, wie das Verhalten des Vaters den Sohn beeinflusst und prägt, sondern vielmehr die Suche nach einem Ausweg: Muss der Vater sterben, damit der Sohn frei sein kann? Was kann Toma tun, damit er nicht so wird? Angesiedelt ist diese düstere Geschichte 1988, ein Jahr vor dem Tod des Kaisers Hirohito, der, wie die Mutter Tomas resigniert bemerkt, Japan in den Zweiten Weltkrieg geführt hat. Zusammen mit Tomas Vater bildet Hirohito das dunkle Zentrum, um das dieser außergewöhnliche Film kreist. Im Ende dieser beiden unterschiedlichen Vaterfiguren sieht Aoyama jedoch weniger einen Neuanfang als eine Familie und ein Land, die mit einem schwierigen Erbe leben müssen.

Our Sunhi 04

Mit Hong Sang-soo wurde ein weiterer bekannter Filmemacher in den Wettbewerb eingeladen. Nach Nobody’s Daughter Haewon (2013) präsentierte Hong mit Our Sunhi (U ri Sunhi) bereits seine zweite Arbeit in diesem Jahr auf einem internationalen Festival. Hierin sucht die Filmstudentin Sunhi ihren ehemaligen Professor auf und bittet ihn um ein Empfehlungsschreiben für eine amerikanische Universität. Prompt erhält sie dies auch, doch es entspricht nicht ihren Vorstellungen, und sie fordert ihn auf, etwas Positiveres zu schreiben. In der Zwischenzeit trifft sie auf ihren Ex-Freund Munsu und kurze Zeit später auf ihren ehemaligen Kommilitonen Jaehek. Man geht trinken, redet über Charakterzüge und verliebt sich. Als Sunhi auch noch mit ihrem Professor im Bett landet, sieht sie sich plötzlich drei verliebten Männern gegenüber. Die Leichtigkeit, mit der Hong Sang-soo diese Geschichte erzählt, ist schlicht umwerfend. Dabei hat er über die Jahre ein Kino perfektioniert, das von Anspielungen und Lücken lebt, das Erwartungen einlöst und dabei trotzdem überrascht.

Monumente des zeitgenössischen Kinos

Norte  the End of History 01

Der Erfolg des diesjährigen Festivals lag nicht nur in einem überzeugenden Wettbewerbsjahrgang und einer herausragenden Retrospektive zu George Cukor. Carlo Chatrian und seinem Auswahlkomitee ist es gelungen, ein vielfältiges Programm zu gestalten, das nicht in Beliebigkeit verfiel und in allen Sektionen Höhepunkte aufweisen konnte. So muss an dieser Stelle noch kurz der philippinische Filmemacher Lav Diaz erwähnt werden, der diesjährige Jury-Präsident des internationalen Wettbewerbes, von dem zwei Filme zu sehen waren: der monumentale und lange nicht aufführbare Batang West Side (2001) in einer vom österreichischen Filmmuseum restaurierten Fassung und das neueste Werk Norte, the End of History (Norte, hangganan ng kasaysayan, 2013). Diese beiden Kunstwerke thronten über dem Festival, und wenn man wissen möchte, wie das Kino im Jahr 2013 aussehen kann, dann muss man sich die Filme von Lav Diaz anschauen.

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