Big City Blues: Streaming-Tipps
Taipeh, Seoul, Tokio – drei Filmschauplätze voller Einzelschicksale. Über ein sublim bebildertes Kinorätsel, einen pessimistischen Autorenfilm aus dem Giftschrank und eine neo-dadaistische Sex-Collage mit hoffnungslosen Minderjährigen.
Eine Stadt der Traurigkeit: The Terrorizers

Am Anfang und am Ende steht jeweils ein Gewaltakt. Es beginnt mit einer Razzia inmitten von Taipeh; während eine ruhige Totale die Plattenbauten einfängt, fallen Schüsse. Man sieht einen reglosen Männerkörper auf der Straße liegen, das Gesicht zum Straßenpflaster gewendet, ganz würdelos. Eine Frau kann sich hingegen dem Zugriff durch das Spezialkommando, das wohl gerade dabei ist, eine illegale Spielhöhle auszuheben, knapp entziehen. Die Prostituierte wird später noch wichtig werden, denn ein Fotograf, der das Geschehen zufällig festhält, fängt flüchtig ihre Gesichtszüge ein, bastelt sich daraus ein riesiges Wandfoto und stellt ihr nach.
Wenn diese Frau nicht gerade mit Freiern in einer schummrigen Absteige zu tun hat, ruft sie wahllos Menschen an. Einmal hat sie eine andere Frau am Apparat, eine depressive Schriftstellerin, der sie falsche Andeutungen macht, dass ihr karrieregeiler Ehemann mit ihr bekannt sei. Am Ende fließen in einem von Regisseur Edward Yang verstörend in Szene gesetzten Amoklauf Realität und Traum ineinander. Auch hier liegt ein Mann leblos und verrenkt auf dem Boden, doch gibt es im Gegensatz zum Shootout-Intro einen Twist: Die Gräuel entspringen bloß der Fantasie eben dieses Ehemanns, der, anstatt auf andere zu schießen, sich im Badezimmer eines Polizistenfreundes mit dessen Waffe selbst richtet.
Zwischen diesen beiden Eruptionen rollt The Terrorizers (1986) einen Teppich poetisierter Alltäglichkeit und zwischenmenschlicher Dramen aus, der so sublim bebildert wie rätselhaft erzählt ist. Man kann kaum auseinanderdröseln, ob der Film ein in Gesten und Blicken sein Zentrum findendes Liebesdrama, ein kühler Blick auf entfremdete Lebens- und Arbeitswelten, ein entschleunigter, in Kunstlicht getauchter Milieukrimi oder der Versuch eines elliptisch-verrätselten Mystery-Thrillers sein möchte. Und nicht nur am Ende gehen Realität und Fiktion Hand in Hand. Auch die parallel verlaufenden, sich nur hier und da kreuzenden Geschichten kreisen um diese Verbindung: die Schriftstellerin in ihrem Roman; der obsessive Fotograf, der seiner Bild-Ikone hinterherrennt; die Betrügerin, die Lust am Telefon-Prank findet.
Taipeh ist eine traumhafte Stadt und eine der Traurigkeit. Seine Bewohner sind auf der Suche nach Nähe, erfahren diese aber kaum. Eine drückende Melancholie liegt über allem. Schönheit ist so (nur) im Kleinen zu finden, im Ephemeren. Wie das Licht sanft in einen Raum fällt, wie der Wind eine Gardine in Bewegung versetzt, wie eine rote Mappe einen Farbakzent in einem ansonsten in Grüntönen gehaltenen Büroraum setzt, all das gibt dem Ganzen eine eigene Harmonie (und erinnert an die sorgfältigen Gestaltungen von Kiyoshi Kurosawa). The Terrorizer liegt dankenswerterweise in einer farbsatten Restauration vor, die sowohl dem Material seine analoge Körnung erhält wie auch die tiefenscharfen, lichtmodellierten Räume angemessen durchmisst. Bilder, die in die Tiefe gehen, Details erfahrbar machen, dabei aber zugleich noch als materielle Träger, als Flächen wirken. Das geht in der Nachbearbeitung sonst leider häufiger mal verloren.
Kostenlos für MUBI-Abonnenten in der Videothek zu sehen.
Alles ist gestaltet: A Day Off

37 Jahre nach Fertigstellung, das heißt, ganze dreißig Jahre nach dem Tod des Regisseurs Lee Man-hee, feierte Hyu-il (A Day Off, 1968) seine Premiere in der südkoreanischen Heimat. Man hatte eine Kopie des 73-minütigen, in den Giftschrank verbannten Films zufällig im Koreanischen Filmarchiv gefunden. Zu düster, zu pessimistisch war der rigiden Zensur des Militärregimes damals dieses Werk, das einem verzweifelten Liebespaar durch ein prosperierend-unterkühltes Seoul folgt. Dass hier ständig ein Sandsturm umherweht, während das Paar beim sonntäglichen Treffen Konflikte austrägt, sich fragt, wie das Geld für eine Abtreibung aufzutreiben ist, erscheint als Sinnbild ihrer aufgewühlten Psychen.
Der ebenso anmutige wie von einer tiefen Leere zeugende Blick auf den Stadtraum lässt einen an Michelangelo Antonionis bürgerlich-realistische Filmkartografie von La Notte (1962) denken. Einzelschicksale auf der einen Seite, das winterliche Seoul-Panorama, vom Namsam-Hügel aus gesehen, auf der anderen. Nie werden sich die Figuren mit ihrer Umgebung richtig verbinden. Sie sind Fremdkörper, und das ist nicht wirklich ihre Stadt. Der Sound unterstreicht das: entweder Dialog oder Umgebungsgeräusche, nur selten geht beides zusammen.
Aber man tut Hyu-il Unrecht, wenn man nur seine augenscheinliche Nähe zum zeitgenössischen europäischen Autorenfilm betont; in ihm fließen verschiedene Einflüsse zusammen, die sich – und das macht einen der vielen Reize dieses Films aus – nie zu einem schlüssigen Ganzen fügen. Da ist neben der modernistisch in den Bildkader eingefügten Zeitdiagnose noch das altehrwürdige, over-the-top-Melodram, das immer wieder grelle Akzente und heftige Score-Einschübe in eine Story einwebt, die ansonsten eher melancholisch-gemächlich dahingleitet.
Aus jeder Einstellung spricht das Formschöne. Diese Schönheit wird von den Figuren selbst gar nicht wahrgenommen, sie ist nur für uns da. Nichts ist hier bloß funktional, jede Komposition macht auf sich aufmerksam, es geht weniger darum, einen Ausschnitt von etwas zu zeigen, als alles in ihm zu gestalten. So findet man gerade beim dynamischen Anfang von Hyu-il kaum mal eine einfache Scope-Einstellung. Oft gibt es harte, radikal bildhafte Unter- und Aufsichten, in denen sich die grafischen Strukturen, auch dank des Chiaroscuros, aufeinander beziehen. Tableaus werden entfaltet, in die wir uns einsehen können, weil die Story nicht allzu hastig voranschreitet.
Bei allem Künstlichen gibt es da aber auch einen dokumentarischen Kern, um den sich der Film organisiert. Man bekommt etwas mit vom Südkorea der 1960er Jahre; von seinen Straßenhändlern, typografischen Reklamen, westlich poppigen Barinterieurs. Auch von den Abgehängten, wie den Straßenverkäufern und kleinen Angestellten, und vom Alkoholismus. Die Besäufnisse, in denen zusehends die Stimmung kippt, und auf die im südkoreanischen Gegenwartskino kaum ein Film Hong Sang-soos verzichtet, gibt es hier nämlich auch schon zu sehen.
Kostenlos im YouTube-Channel des Korean Film Archives zu sehen.
Kälter als der Tod: Gushing Prayer

Im Shinjuku-Bezirk von Tokio, einem von lichtsensiblen Scope-Bildern gespenstisch eingefangenem Ort, haben die Schüler Yasuko, Yoichi, Koichi und Bill so etwas wie eine Zelle gebildet. Zwar planen sie keinen Bombenterror, doch die Gesellschaft, wie sie gegenwärtig besteht, wird ihnen durchaus zur Zielscheibe. Sie spüren und fühlen nichts, in ihnen ist eine Leere, gegen die sie schreiend anrennen, während über die Straßen Panzer der Staatsmacht rollen. Die fünfzehnjährige Yasuko, deren mädchenhaften Körper wir häufig, zumindest so weit, wie es die japanische Moral zulässt, nackt sehen, verliest aus dem Off einen Abschiedsbrief. Erst denkt man, es ist ihr eigener, aber dann kommen im Laufe von Masao Adachis Gushing Prayer (1971) weitere hinzu; allesamt von Minderjährigen, die keine Hoffnung mehr haben.
Die abgeschirmte Jugendbande ergründet den Sex: ob er über das Körperliche hinaus noch etwas bedeuten kann, wie man ihn letztlich zerstört. Immer wieder machen sie seltsam mechanisch ‚Liebe‘. Yasuko prostituiert sich für die Gruppe, aber nicht des Geldes, sondern der Einblicke wegen. Ihr Lehrer liegt im Freien auf ihr und rezitiert dabei George Bataille. Die Story hat keine Höhepunkte, nimmt nur diesen komischen Mikrokosmos ernst, dessen Bewohner eigentlich gar nicht wissen, wonach sie konkret suchen und für was sie kämpfen, außer dass es anders sein muss als das, was sie umgibt.
Die Parallelwelt aus Innenräumen, denen nur die Fischaugenoptik hier und da eine Weite verleiht, wird von eigenartig aufgesagten Sätzen und grobschlächtigem Dubbing begleitet. Es passt zum entrückten Rest, zum Kopfgeburthaften des Ganzen. Permanent wird man auf Distanz gehalten. Vor allem auch die Sexszenen haben – es handelt sich immerhin um einen pinku eiga, um einen Beitrag zum japanischen Erotikfilmgenre – nichts Erotisches an sich.
Adachi, der wenige Jahre nach Gushing Prayer in den Untergrund ging und sich der japanischen Variante der RAF anschloss (siehe auch Lutz Dammbecks durchaus dröges Doku-Porträt Bruno & Bettina, 2018), hat hier ein querstrebendes Filmpamphlet gestaltet, das seine Politik nicht derart vor sich herträgt wie der Brecht und Mao rezitierende Agitprop der Zeit. So wie das Ziel der Jugendlichen kryptisch bleibt – gegen den Sex, für den Sex, gegen das Bürgertum, für die Mutterschaft –, so springt die Form permanent von einem Einfall zum nächsten. Momente voller Poesie im grellen Gegenlicht wechseln sich mit Passagen brüchiger Farbigkeit ab, der schöne Folk-Score Masato Minamis legt sich einfühlsam über die Bilder, aus denen eigentlich eher Rohheit und Verzweiflung spricht. Der Film ist weniger Message, profunde Kapitalismus-Kritik oder dergleichen, als vielmehr (pseudo-)intuitive Collage trotziger Gedankenschnipsel, die sich nie zu einer eindeutigen Parabel formen. Man könnte vielleicht sagen: filmischer Neo-Dada der Siebziger.
Für 2,99€ beim Label Rapid Eye Movies als VoD leihbar.
Mehr Streaming-Tipps gibt es hier.
Kommentare zu „Big City Blues: Streaming-Tipps“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.