Bewegung als Analyse – Retrospektive John Cassavetes
„What’s Yr Take On Cassavetes“ fragte Kathleen Hannas Elektropunk-Kombo Le Tigre einst. Einen ganzen Monat lang hat man im Berliner Arsenal nun Zeit, auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Nach einer gewissen Zeit verschwimmen die Erinnerungen an Filme von John Cassavetes, und dann fließen sie manchmal ineinander, und es bleibt eine unruhige Überblendung, in der nur noch ein paar Dinge deutlich erkennbar sind: riesige Häuser, die enge Leben beherbergen, beiläufige Close-ups, die nicht Zeichen, sondern Bewegung sind (zittrige Lippen, nervöse Lächelversuche), und natürlich der ruhelose Körper von Gena Rowlands, Cassavetes’ Ehefrau, die immer wieder eine andere Frau war, Namen wie Myrtle oder Mabel trug, von Männern umgeben, die sich der eigenen Existenz, der eigenen Kontrolle sicherer waren oder sich das wenigstens so lange einredeten, bis es gar nicht mehr ging.
Suche nach Wahrhaftigkeit

Dass diese Überblendung nicht nur die jeweils eigene Welt verschleiert, die jeder von Cassavetes’ Filmen ist, sondern auch Ergebnis einer Verkürzung dieses Werks auf Filme wie Gesichter (Faces, 1968), Eine Frau unter Einfluss (A Woman Under the Influence, 1974) oder Opening Night (1978) ist, davon darf man sich im folgenden Monat im Berliner Arsenal überzeugen. In einer ausführlichen Retrospektive sind alle Regiearbeiten des „unabhängigsten aller Independent-Filmemacher“ (Martin Scorsese) zu sehen, vom zwischen Avantgarde-Anspruch und dem beginnenden radikalen Figureninteresse lavierenden Debüt Shadows (1959) bis zur großen Implosion namens Love Streams (1984) – darunter also auch der von Stanley Kramer zum Unmut des Regisseurs umgeschnittene A Child Is Waiting (1963) oder der einst gefloppte, heute von vielen verehrte Ausflug ins Genrekino The Killing of a Chinese Bookie (1976). Daneben sind weitere Filme zu sehen, die Cassavetes’ darstellerisches Schaffen würdigen, etwa Martin Ritts Edge of the City (1957) oder Don Siegels Noir-Neuverfilmung The Killers (1964).
„To risk everything to express it all“, so ist die Retrospektive überschrieben, und das deutet bereits auf das wahnwitzige Wahrhaftigkeitsbegehren hin, das Cassavetes’ Kino auszeichnet. Scheint Faces noch den Spirit der Sixties in dem Maße zu atmen, in dem sich hinter der bürgerlichen Fassade ein ehrlicheres Leben zumindest potenziell verbirgt, so lösen sich derlei Dualismen in den 1970ern völlig zugunsten einer kompromisslosen Mission auf, dem Leben mit aller Macht ein paar Wahrheiten abzuringen. In kaum einem Film ist das so spürbar wie im zweieinhalbstündigen Eine Frau unter Einfluss, in dem Gena Rowlands in einer ersten Bewegung durchdreht, in einer zweiten Bewegung aus der Nervenklinik zurück nach Hause kehrt. Das US-Kino der 1970er war ja ohnehin fasziniert vom Wahnsinn, rief die Herrschaft des Irrationalen aus, suchte nach der ruhelosen Bewegung und nach der Intensität des Kontrollverlusts. Lauter couples on the run, lauter method acting stars, deren größtes Kapital keine virtuose Schauspielkunst, sondern die eigenen Idiosynkrasien waren. In Cassavetes’ Film ist die der Romantik des Wahnsinns zugrunde liegende Geschlechterdynamik gekippt, die Männer und ein ganzes Milieu überfordert von einer Frau, die ganz unromantisch dem Wahnsinn verfällt.
Das Leben als Schauspielkino

Anders als bei vielen seiner Zeitgenossen sind der Wahnsinn und das Expressive bei diesem Filmemacher immer auch Ausdruck eines existenziellen Scheiterns am Sozialen, die ruhelose Bewegung – dank Cassavetes’ berüchtigtem Primat der Improvisation und seiner Methode einer möglichst freien, auf alles reagierenden Handkamera auf die Spitze getrieben – ist niemals Selbstzweck, sondern immer auch Analyse. Zugleich bewahrt die Bewegung in den Einstellungen und was zu ihr gehört – die Autonomie der Darsteller, die Mehrdeutigkeit eines jeden Dialogsatzes, die Unabschließbarkeit einer jeden Sequenz – diese Analyse vor jenen Wahrheiten, zu denen die Filme selbst doch immer wieder zu streben scheinen. Denn worauf der schmerzhaft genaue Blick auf menschliche Interaktion bei Cassavetes letztlich hinausläuft, ist weniger eine kritische Auseinandersetzung mit spezifischen Verhältnissen als ein Blick auf die conditio humana, der auch Geschlechterverhältnisse – das große Cassavetes-Thema – als durchaus unveränderliche denkt: Was heißt es Mann, was Frau zu sein, wie gehen wir miteinander um, wie können wir uns lieben? Das Selbstbild des nichts als der Wahrheit verpflichteten Künstlers, der von außen ins Innenleben des Wesens namens Mensch blickt, hat Cassavetes immer wieder auch selbst genährt, in ausführlichen Kommentaren, Einleitungen und Interviews zu seinen Filmen.
Andererseits wird nirgends so deutlich wie in Opening Night, in dem wiederum Gena Rowlands als Theaterschauspielerin in große Zweifel gestürzt wird, dass der Cassavetes’sche Existenzialismus einer der zweiten Ordnung ist, einer, der um die Performance im Existieren, nicht nur um die Falschheit und Willkür sozialer Codes weiß, sondern auch um ihre Wirkmacht und Unhintergehbarkeit. Wir sind alle Klischees, hat Cassavetes einmal gesagt. Nicht nur als Methode oder als Vorliebe einer bestimmten Dimension des Kinos ist sein Werk deshalb als Schauspielkino zu beschreiben, sondern gerade in diesem Blick aufs Leben, der das Manselbstsein weniger als Ideal denn als zum Scheitern verurteilte Lebensaufgabe erkennt – weshalb wiederum nicht unwichtig ist, dass die Filme im Arsenal als 35mm-Kopien zu sehen sind und nicht digital sie selbst sein müssen.
What’s your take?

Der US-Schriftsteller Jonathan Lethem beschreibt sein Erweckungserlebnis in seinem Essay „On Cassavetes“ in genau dieser Übertragungsleistung. Er ließ sich einst mitschleppen in einen Film des Regisseurs, obwohl er gewarnt worden war, dessen Arbeiten seien nur eine Reihe von Schauspielübungen. Nach der Sichtung fand er das auch, nur erschien ihm in einem vorher ungeahnten Ausmaß das Leben selbst als eine Reihe von Schauspielübungen.
Lethem beginnt seine kritische Würdigung mit einem fiktionalisierten, wenn auch autobiografischen Dialog zwischen einem Mann und einer Frau nach einer Sichtung von Faces, die in Geschrei endet. Und auch in Kathleen Hannas feministischem Elektropunk-Projekt Le Tigre wurde darüber debattiert, ob dieser Typ nun ein Frauenhasser oder ein Genie, ein Alkoholiker oder ein Messias sei, woraus schließlich der Track „What’s Yr Take On Cassavetes“ entstand. Im besten Fall also wird man im folgenden Monat nicht nur eines der außergewöhnlichsten Werke der US-Filmgeschichte (wieder)entdecken, man wird sich auch, analog zur Cassavetes’schen Wahrheitssuche, erneut auf die Suche nach einer eigenen Haltung zu ihr begeben können, mit sich selbst strugglen, mit anderen streiten, bevor dann alles wieder verschwimmen darf.
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