Bettgeflüster ohne Wärme – Kurzkritiken vom DOK Leipzig 2019
Kino-Knäckebrot von Farocki und Bitomsky, ein Knetmännchen in Beckett-Tradition und ein Schriftstellerporträt zwischen Bibel und Bukowski: Studierende der Uni Hildesheim besprechen zwei Dokumentar- und einen Animationsfilm aus dem diesjährigen Programm.
Portret Suzanne (Polen 2019; Regie: Izabela Plucinska)

Der Animationsfilm Portret Suzanne, eine clay animation, ist eine Verfilmung der Kurzgeschichte „Portrait en pied de Suzanne“ (1978) von Roland Topor und erinnert an einen kafkaesken Fiebertraum. Ein Knetmann wacht in einem Hotelzimmer auf und klagt über unbändigen Hunger. Ein Page erhält kurz darauf von ihm Geld, um Speisen zu besorgen. Im Verlauf des Filmes ist der Knetmann in- und außerhalb seines Zimmers immer wieder auf der Suche nach Nahrungsquellen und kann zuweilen an nichts anderes mehr denken als an Sauerkraut. Sein Verhalten scheint allerdings weniger auf eine kulinarische Begierde als auf den Verlust seiner Gefährtin Suzanne zurückzuführen zu sein.
Während eines Spazierganges zieht sich der ohnehin schon Leidende eine Verletzung am Fuß zu, die kurz darauf zu einem Abbild von Suzanne mutiert. Das Schmerzphantom Suzanne entwickelt alsdann eine Souveränität, die so weit führt, dass der Leidende bei dem Zusammentreffen mit einem anderen Knetmann eifersüchtig wird. Nach weiteren Stationen in einer Bar und einem Krankenhaus findet der irre Traum sein Ende an einem Gleis. Die somnambule Atmosphäre, das langsame Leiden und das Mienenspiel der Figur ebenso wie der, wenn auch brutale, Moment der Erlösung wecken immer wieder Assoziationen zu Becketts’ „Eh Joe“ (1966).
Moritz Hüper
Die Teilung aller Tage (BRD 1970; Regie: Harun Farocki, Hartmut Bitomsky)

Mit den Worten „Knäckebrot des Kinos“ wird der Film von Farocki und Bitomsky als letzter in der Reihe des dritten Filmblocks BRDDR angekündigt. Im Abspann bleibt der Begriff Programm haften: Als programmatisch und lehrhaft lässt sich Die Teilung aller Tage beschreiben. Er ist der letzte und wohl kritischste Beitrag zur Thematik des Strebens nach ewigem Wachstum und des Versprechens der Wohlstandgesellschaft in der BRD.
Den Anfang bei den Besitz- und Produktionsverhältnissen macht hier nicht der Lohnarbeiter, sondern der Sklave als Produktivkraft ohne Lohn: die reine Ausbeutung. Nach Abschaffung der Leibeigenschaft und im Zuge der Industrialisierung lassen die neuen Produktionsverhältnisse verschiedene Möglichkeiten der Verteilung des Mehrwerts entstehen: Nicht kapitalistische Ausbeutung und kapitalistische Ausbeutung stehen sich gegenüber.
Das monotone Geräusch des Stanzens der Maschinen, das Schweifen der Kamera entlang einzelner Arbeitsschritte, die sich wiederholenden Gesten am Fließband, die im Standbild eingefangen werden – das alles sind audiovisuelle Korrelate der Untertitel, die den Film Die Teilung aller Tage strukturieren: Rohmaterial, Produktionsanlage, Lohnarbeit, Kapitalismus ist progressiv etc.
Der Film liest sich wie die schriftliche Darlegung einer Leitidee zum humanen Wirtschaften. Dem Dualismus zweier Weltanschauungen verhaftet, schreiten die Zwischentitel linear von Kapitel zu Kapitel voran. Am Ende eine nüchterne Frage, auf die nur der Arbeiter, nicht aber der Sklave Antwort weiß: Wie kann man Ausbeutung abschaffen? Der Sklave: Er wird für mich arbeiten. Der Lohnarbeiter: Wir werden für uns arbeiten.
Elodie Sacher
In Bed with a Writer (Estland 2019; Regie: Manfred Vainokivi)

Man sagt, große Schriftsteller müssen an ihrem Werk leiden, sich den Text abringen. Da ist viel Leid in Peeter Sauter. Aber ist es wirklich das Schreiben, was den estnischen Autor so quält? Vielleicht sind es eher die Frauengeschichten, vergangene, gescheiterte Beziehungen, unerfüllte Hoffnungen, das Älterwerden, der Bierbauch, der Tod. Ziemlich absurd, dieser Mann im mittleren Alter, mit nichts als seinen Boxershorts bekleidet, wie er da auf dem Sofa liegt, mal in einer Galerie, mal in einem Fitnessstudio. Der Kontrast zu der fein gearbeiteten Frauenstatue nach römischem Vorbild oder zu den braungebrannten Bodybuilderinnen könnte kaum größer sein.
Regisseur Manfred Vainokivi verbindet in In Bed with a Writer Fakt mit Fiktion, lässt inszenierte Bilder auf dokumentarische folgen. Die Verbindung liefert Sauters Monolog. Aus dem Off sinniert er über das Leben und über das Schreiben, über die Liebe und das Scheitern an ihr. Sauter zeigt sich, meist unbekleidet, von allen Seiten, in grellem und in abgedunkeltem Licht. Der Film ist so intim, wie nur Bettgeflüster es sein kann, aber Wärme oder Gemütlichkeit kommen nicht auf. Vielleicht ist das Porträt zu nah dran an dem nackten Körper, an der entblößten Seele.
Lisa Schlegel
Die Eingangsszene: Menschen fotografieren wie unter einem Zwang ein Schaufenster. Dahinter präsentiert sich Peeter Sauter, der Mittelpunkt der folgenden Filmerzählung, in Unterwäsche auf einem Art-déco-Sofa. Ein wiederkehrendes Motiv in diesem sehr nackten Porträt, das Strippen, aber kein Teasen kennt.
In Bed with a Writer entführt in eine häufig gesucht wirkende Komposition aus Sauters Biografie, Auszügen aus seinen Romanen und Inszenierungen vor der Kamera. Der Film ist bereits die dritte Kooperation Vainokivis mit dem estnischen Autor, dessen Äußerungen denkbar ambivalent sind: zwischen größter Sehnsucht nach Frauen und schwelender Misogynie, zwischen Sinnsuche und Provokationsgesten.
Die Szenen wechseln zwischen dialogischer Suche nach Verständigung mit dem anderen Geschlecht und der wiederholten Einstellung des nackten Sauter: vor der Waschmaschine, auf seinem Bett, allein, depressiv, alkoholkrank. Zwischen Charles-Bukowski-Referenzen und Bibelpassagen entsteht in radikaler Ehrlichkeit eine Odyssee durch die Sexualität und das Werk eines Autors, der auch eine Figur in einer Analyse Theweleits sein könnte.
Hannah Tatjes
Diese Texte entstanden im Rahmen des Seminars „Fragen an den aktuellen Dokumentarfilm“ der Stiftung Universität Hildesheim.
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