Berlinale 2024: Empfehlungen
Morgen beginnt der Vorverkauf für die 74. Berlinale. Wir haben uns schon mal ein wenig in den Nebensektionen umgesehen und berichten, welche Filme man sich nicht entgehen lassen sollte.
Forum / Forum Special
Maria Lassnig: Kurzfilme / Mit einem Tiger schlafen

Laszive Stühle, die zur Stummfilmmusik die Beine schwingen, zum Bersten anschwellen und ihr Innerstes ausstoßen. Paare, die ineinanderfließen, gegeneinander kämpfen, sich zerschneiden. Eine nackte Frau mit Busengebirgen, Schenkeltälern und Pobacken im Zerrspiegel. Maria Lassnig lässt keinen Zweifel daran, worum es in ihren Kurzfilmen geht. Körpergefühle, Schmerz, Wut, Mann-Frau-Beziehungen, die Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen den Geschlechtern waren das Lebensthema der österreichischen Künstlerin, die 1919 in Kärnten als uneheliches Bauernkind zur Welt kam und 2014 in Wien als gefeierte Malerin starb. Ein Jahr vor ihrem Tod erhielt sie auf der Venedig-Biennale den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk.
Ihr Malerei-Studium an der Wiener Akademie war noch überschattet von der NS-Zeit, wo ihr farbig-expressionistischer Stil als „entartet“ beschimpft wurde. Um dem konservativen Klima der Nachkriegszeit zu entkommen, ging Lassnig 1960 nach Paris, wo sie zu ihrem eigenen körperbetonten Malstil fand, ansonsten aber ziemlich enttäuscht war von den surrealistischen Salonlöwen, die Frauen lieber als Sexobjekte stilisierten, als sie als ebenbürtige Künstlerinnen anzuerkennen. Auf der Suche nach einer weltoffeneren Szene zog sie 1968 nach New York, wo viele ihrer ikonischen Selbstporträts entstanden, oft nackt, verzerrt und schonungslos in grünlich schimmernden Fleischtönen. Damals startete sie auch ihre ersten Filmexperimente. Sie kaufte eine 16-mm-Kamera und drehte in ihrem Atelier kurze Zeichentrickclips. Die Animationen mit Schablonen, Spiegeln, verfremdeten Fotos vertonte sie selbst, oft mit klimpernder Barockmusik oder bissigen, selbst gesungenen Reimen. Das wirkt aus heutiger Sicht alles ruckelig-improvisiert, rührend handgemacht, manchmal auch kauzig-komisch. Damals war es unerhört – und selbst für den New Yorker Kunstgeschmack too much.
In den besten Momenten blitzt in diesen kleinen Filmen die ganze anarchisch-explosive Energie auf, die Maria Lassnig schließlich doch noch zur einer der bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart werden ließ. 1980 wurde sie an die Wiener Hochschule berufen – als erste Frau im deutschsprachigen Raum, die eine Professur für Malerei erhielt –, und ihre Karriere nahm endlich Fahrt auf. Sie vertrat Österreich auf der Venedig-Biennale, wurde mehrmals zur Documenta eingeladen, bekam große Museumsausstellungen und konnte endlich von ihrer Malerei leben. Als Professorin gründete sie auch das Lehrstudio für experimentellen Animationsfilm und drehte selbst weiter Trickfilme. Im Forum Special-Programm laufen jetzt einige davon. Besonders sehenswert sind die frühen Kurzfilme aus New York: Chairs, Couples, Shapes, Selfportrait und Iris.

Außerdem gibt’s im Forum-Programm die Weltpremiere von Mit einem Tiger schlafen, einem Biopic mit Spielszenen und dokumentarischen Sequenzen von Anja Salomonowitz. Maria Lassnig wird darin von Birgit Minichmayr gespielt. Man sieht sie in Unterwäsche im Atelier brüten, leiden, Grimassen schneiden, während sie sich an ihre raue Kindheit in Kärnten erinnert. Später dann grantelt sie im Leopardenfellmantel und exzentrischer Sonnenbrille mit Galeristen, Kuratoren oder Sammlern. Das entspricht vermutlich alles der Wahrheit. Lassnig galt als hochsensibel, eigenbrötlerisch, schwierig. Auf YouTube zeugen viele Videos davon, darunter auch der Porträtfilm Maria Lassnig – Es ist die Kunst, jaja … von Sepp Dreissinger, der die Künstlerin zehn Jahre lang begleitete und sie beim Malen, Nachdenken im Atelier oder Grashalme-Schneiden auf der Wiese zeigt.
Mit einem Tiger schlafen heißt auch eines ihrer bekanntesten Gemälde. Darauf sieht man die Künstlerin am Boden, überwältigt und ekstatisch, beim Sex mit dem Raubtier. Überhaupt erschließt sich Maria Lassnigs Wesen und Gefühlswelt wohl am besten im Dialog mit ihren Werken. Dazu lohnt sich ein Abstecher in die Neue Nationalgalerie, wo gerade zwei tolle Gemälde von ihr in der Sammlungspräsentation hängen: Die Patriotische Familie und Self-Portrait as Native American Girl. Bewegende Bilder statt Bewegtbild.
Ute Thon
True Chronicles of the Blida Joinville Psychiatric Hospital in the Last Century, when Dr Frantz Fanon Was Head of the Fifth Ward between 1953 and 1956

Der ausführliche Titel legt es schon nahe: Bei diesem Film handelt es sich um eine eher nüchterne Chronologie sehr konkreter Ereignisse. Ein neuer Arzt kommt an in der psychiatrischen Klinik von Blida in Algerien. Der Autor und Theoretiker und Aktivist der Dekolonisierung Frantz Fanon hat 1953 schon sein großes Werk Schwarze Haut, weiße Masken geschrieben, doch vor allem arbeitet er als Psychiater. In Blida wird ihm zunächst die Station für (weiße) Frauen überlassen, später aber wird er in den Bereich versetzt, in dem die arabischen und muslimischen Patient*innen mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen sind. Fanon führt auch hier neue Praktiken ein, und die psychiatrische Arbeit, so legt es auch der Film nahe, wird wichtige Grundlage für seine Rassismusanalyse und Kritik der kolonialen Logik, die immer psychosoziale Realitäten mitdachte.
Dass der Film seinem Protagonisten nicht als komplexe Persönlichkeit, sondern durchaus ehrfürchtig begegnet, daraus macht Regisseur Abdenour Zahzah keinen Hehl. Nicht der Mensch, sondern sein Wirken soll uns nähergebracht werden, ein Wirken, das mit Fanons zunehmender Involviertheit in den algerischen Befreiungskampf mit Hindernissen zu kämpfen hatte. Nach seinem Dokumentarfilm Frantz Fanon, mémoire d’asile (2002) ist aus den damals ausgiebigen Recherchen zwanzig Jahre später nun ein Spielfilm entstanden, und genau so kommt er auch daher: Kontrastreiche Schwarzweißbilder, von denen nur wenige den erzählten Ereignissen etwas Eigenes hinzufügen, ein nüchternes Schauspiel, Alexandre Desane in der Hauptrolle, Fanons Sohn Oliver übernimmt eine Nebenrolle. Das funktioniert außerordentlich gut. Die True Chronicles ... werfen ein Licht in die Geschichte, erzählen, was unbedingt erzählenswürdig ist.
Till Kadritzke
The Cats of Gokogu Shrine

Ein großer Katzen-Film. Nicht weil er eine tierische Perspektive einnimmt, sondern weil er den eigenen Blick in Richtung Boden richtet. Möchte man Katzen beobachten, muss man zwangsläufig nach unten schauen, was Kazuhiro Soda im wörtlichen Sinne tut, weil er die Kamera selbst führt und auch als Stimme immer wieder im Film auftaucht. Er verortet sich selbst als beobachtendes Subjekt im Film und schaut sehr genau hin, wie die Katzen einen Raum besetzen, der sich zwischen sakraler Heiligkeit und fluidem Community-Raum bewegt. Auf angenehme Weise lässt er sich durch die verschiedenen Gruppen und Orte in Ushimado treiben, ohne allzu offensichtliche Verbindungen zwischen der Gemeinschaft der Katzen und der Menschen ziehen zu wollen.
Beide laufen nebeneinander her, passen aufeinander auf und üben sich im Umgang miteinander. Keine Naturromantik, sondern der Versuch, ein Verhältnis zur eigenen Umgebung zu entwickeln. Alternde Männer, die für die Katzen Fische fangen, Kinder, die mit den Straßenkatzen spielen, oder die zwischen den Bewohner*innen ausführlich diskutierte Frage, wie man denn nun mit dem Kot der Katzen umgehen soll. Die Zärtlichkeit im Umgang mit den Katzen in The Cats of Gokogu Shrine (Gokogu no Neko) liegt nicht im Streicheln oder der ihnen im Kino allzu oft zugeschriebenen cuteness, sondern in der Ernsthaftigkeit, mit der sowohl der Film als auch die von ihm beobachteten Menschen mit den Katzen umgehen. Am Ende stehen Kerzen am Grab einer Katze und Abschiedsgrüße im Abspann.
Luca Schepers
Panorama
Sex

Zwei heterosexuelle Männer reden miteinander. Und wie: Einer erzählt von einem Traum, in dem ihn David Bowie als Frau angesehen hat, der andere, dass er am Vortag Sex mit einem anderen Mann hatte. In einer langen Einstellung mit mehreren Schwenks nimmt Dag Johan Haugerud diesen ersten Dialog in den Blick, von dem ausgehend sich dieser schöne Film entfaltet. Sex meint es ernst mit der Verunsicherung des Hetero-Mannes in Zeiten von Gendergaga, von der derzeit viel Soziologisches zu lesen ist. Was aber, fragt der Film vielleicht, wenn sich die derart Verunsicherten nicht in Rückzugsgefechten verlieren, sondern die Verunsicherung für eine aufrichtige Bestandsaufnahme eigener Wünsche und Identitäten nutzen?
Allein der Umgang der beiden Männer mit diesen Ereignissen wäre genug Stoff für einen Film, aber Haugerud bringt glücklicherweise noch viel mehr darin unter. Vor allem gelingt es ihm, die dramatische Fallhöhe einerseits in schwindelerregende Höhen zu treiben – mit dem Geständnis des Seitensprungs steht nicht nur eine Ehekrise ins Haus, sondern auch existenzielle Fragen um die Möglichkeit unbedingter Liebe im Raum –, mit absurden Nebensträngen und feinem Humor andererseits den im Film angelegten Ernst wieder zu hintertreiben. So ist Sex nicht die straighte Makeover-Geschichte, die sich Queerness bloß parasitär aneignet, die der Film auch hätte werden können, sondern ein gelungener Balanceakt, der im besten Fall etwas aus der falschen Balance bringt.
Till Kadritzke
Meanwhile on Earth

Welche Folgen es haben kann, sich ein außerirdisches Samenkorn ins Ohr zu stopfen, erleben wir mit Protagonistin Elsa (Megan Northam) nicht nur hautnah, sondern förmlich im eigenen Gehörgang mit – Jérémy Clapins zweiter Langfilm Meanwhile on Earth (Pendant ce temps sur Terre) setzt mit einer Form von Body Horror zu, gegen die Augenzuhalten nicht hilft. Die unangenehm dröhnende Stimme aus dem All rekrutiert Elsa zur Helferin einer Body-Snatcher-Invasion: Wenn sie ihren auf einer Weltraummission verschollenen Bruder zurückhaben möchte, muss sie den Aliens zum Austausch fünf Leute ihrer Wahl als Wirtskörper in den Wald bringen. Was Elsa natürlich eine untragbare moralische Bürde auferlegt.
Als eine in ein Science-Fiction-Gewand gekleidete Parabel darüber, wie man aus dem Schatten eines Menschen tritt, der das eigene Leben noch in der Abwesenheit bestimmt, ließe sich der Film leicht auflösen. Umso besser steht es ihm zu Gesicht, dass seine Teile nicht als streng kohärentes Ganzes, sondern als um seine Bruchstellen recht unbekümmertes Patchwork daherkommen. Bilder der Einsamkeit aus den Tiefen des Alls und des Waldes, Szenen aus Elsas trübem Alltag im realistischen Modus mit surrealen Einsprengseln, mit sakraler Musik unterlegte Animationsfilmszenen, in denen Elsa ihrem Bruder im Weltraum noch einmal begegnet, eine im Bild exponierte Kettensäge, die wohl nicht nur zum Holzfällen eingesetzt werden wird – zusammen ergibt all das nicht das Lehrstück, das aus dem Stoff auch hätte werden können, sondern ein Nachtstück von eigentümlicher, leicht schrulliger Poesie.
Maurice Lahde
Janet Planet

Erst auf den zweiten Blick entfaltet sich das Besondere an diesem Debüt, das die Schriftstellerin Annie Baker bereits auf Festivals in Telluride und New York zeigte. Sorgfalt und Detailtreue sind hier Marker eines Kinos, das auf Entschleunigung und Authentizität setzt, das gleichzeitig aber vor starker Formgebung (und Drehbuchgestaltung) nicht zurückschreckt. Ein elfjähriges Mädchen (Zoe Ziegler), das keine Freunde hat und es nicht im Sommercamp aushält, steht im Mittelpunkt. Doch schon bald verschiebt sich der Fokus auf die Beziehung zu ihrer Mutter Janet (Julianne Nicholson) und schließlich immer stärker auf deren (emotionalen und psychischen) Haushalt. Durch die Freiheit, die sich der Film gibt, Akzente zu setzen und leichte Verschiebungen im naturalistisch anmutenden Gestus vorzunehmen, entsteht nach und nach ein immer schöneres und produktiveres Verhältnis zur Fiktion, die die Ode an die Mutter auch sein kann.
Frédéric Jaeger
Verbrannte Erde

Die Zeit der Deals ist endgültig over, man haut sich nur noch übers Ohr. Der Übergang von der Logik der Verhandlung in die der Gewalt, und damit auch von einem Kino der Kausalketten zu einem Kino der Affekte, ist dem Gangsterfilm schon immer eingeschrieben, aber so eindeutig heruntergebrochen wie hier habe ich das selten erlebt. Thomas Arslan hat seine Figur Trojan aus Im Schatten wieder herausgeholt, Mišel Matičević spielt den Ganoven wie einst mit meist steinerner Miene und kompromissloser Körperlichkeit. Und dann heißt es Heist: Ein Team wird zusammengestellt, ein Plan konzipiert, in ein Museum eingebrochen, ein Kunstwerk erbeutet. Aber die Zeit der Deals ist vorbei, und alle wollen alles: das Kunstwerk, das Geld, wenn’s geht, noch das eigene Leben.
Elegant und gemächlich ist dieser Film, Reinhold Vorschneiders Berlin-Bilder, vor allem die nächtlichen, sind wie immer toll, das Drehbuch präzise und niemals zu vorhersehbar, die Dialoge gerade in ihrer Klischeehaftigkeit effektiv, das Schauspiel manchmal hölzern, aber ohnehin nur Aufführung des Bekannten, des Genres und seiner Geschichte. Und dann ist da noch Fahrerin Diana (Marie Leuenberger), die noch mit Polizeiautoatem im Rücken so unglaublich cool bleibt, dass sich dieser Film davon affizieren lässt, selbst im Moment potenzieller Hektik nicht zum schnell geschnittenen Action-Film wird, sondern ganz elegant und gemächlich bleibt.
Till Kadritzke
Andrea lässt sich scheiden

In der österreichischen Gemeinde Unterstinkenbrunn steht inmitten eines Kreisverkehrs eine sechseinhalb Meter große Zwiebelskulptur mit einem Leuchtkörper an der Spitze. In Josef Haders neuem Film rückt dieses Ding immer wieder mal ins Bild, beiläufig und doch unübersehbar (oder andersrum), und diese Art, vom leicht Grotesken, das man halt so vorfindet, achselzuckend Notiz zu nehmen, ist durchaus typisch für Haders Blick auf die Leute in der Gegend und was sie so tun. In der Geschichte um eine Polizistin (Birgit Minichmayr), die ihren Exmann in spe nachts auf der Landstraße totfährt und dann Fahrerflucht begeht, und einen Religionslehrer (Hader), der sich für den Schuldigen hält und darauf wieder dem Suff verfällt, kommen das Makaber-Komische und das Tragisch-Menschliche im gleichen entspannt melancholischen Ton daher und finden vielleicht eine bessere Balance als in Haders Regiedebüt Wilde Maus. Im diesjährigen Berlinale-Programm ist Andrea lässt sich scheiden, und das ist nicht despektierlich gemeint, ein sehr angenehmer Film für zwischendurch.
Maurice Lahde
Between the Temples

Nathan Silver spielt alle seine Karten aus in dieser süßen, weirden und vor allem kurzweiligen Komödie. Sie hat die quirkiness seiner anderen Filme, und auch wenn sie inzwischen etwas aus der Mode gekommen sein mag, muss man sie aushalten. Ums Altern geht es just, und das ist die Rettung dieses Films, der sonst schnell ins Selbstmitleidige abrutschen könnte. Jason Schwartzmans Ben singt und gibt Unterricht in einem Tempel, wobei er nicht mehr singen kann, seitdem seine Frau verstorben ist, was auch schon über ein Jahr her ist. Alle wollen ihn verkuppeln, vor allem seine beiden Mütter, aber auch der Rabbi. Doch der Zufall treibt ihn in die Arme einer (viel) älteren Frau, seiner ehemaligen Musiklehrerin Carla (der famosen Carol Kane), die längst verwitwet und in Rente ist. Als sie spontan entscheidet, ihre Bar Mitzvah nachzuholen, entspannt sich ein aufgeregter Reigen, voller Konflikte, Situationskomik und gesuchter Nähe. Between the Temples meint es sehr ernst mit den entstehenden Affekten, hat seine besten Momente aber immer dann, wenn er sich selbst und die Figuren nicht zu ernst nimmt.
Frédéric Jaeger
Berlinale Special
At Averroes & Rosa Parks (Berlinale Special)

Nicolas Philibert beginnt seinen neuen Dokumentarfilm – nach dem Goldene-Bär-Gewinner Auf der Adamant (2023) – mit Luftaufnahmen von Paris. Genauer: mit den kreisenden Bildern einer Drohne, die aus der Ferne auf das Gelände herabschaut, wo die titelgebenden Abteilungen der psychiatrischen Klinik gelegen sind. Die Distanz zum restlichen Film könnte nicht größer sein. Auf den Drohnenaufnahmen erkennen die Patienten sich und die Institution nicht wieder. Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse, aus der Distanz alles ähnlich, sagt einer. At Averroes & Rosa Parks ist keine Fortsetzung von Auf der Adamant, aber widmet sich demselben Thema, der Pflege psychisch kranker Menschen in Paris, auf eigenständige Weise. Der neue Film ist noch intimer, lässt den Worten von Patient*innen, Sozialarbeiter*innen und Psychiater*innen noch mehr Raum. Als wollten diese Menschen und ihre Situationen den Regisseur einfach nicht loslassen. Es ist faszinierend, intensiv, lustig und immer wieder erhellend, dem zuzuschauen.
Frédéric Jaeger
Berlinale Classics
Godzilla

70 Jahre Godzilla: Das Jubiläum des allegorischen Monsterfilmklassikers ist dem altehrwürdigen Studio TOHO Anlass, eine neue 4K-Restauration vorzustellen. Und wie letztes Jahr der internationale Achtungserfolg von Takashi Yamazakis Godzilla Minus One bewies, ist beim Franchise auch jenseits regelmäßiger Hollywood-Aufgüsse die Luft noch nicht raus. Die neue TOHO-Produktion dockt sogar deutlich stärker als viele der über dreißig vorhergehenden Reihentitel an die ernsthaft vorgetragene Bedrohlichkeit und emotionale Wucht von Ishirō Hondas Original von 1954 an. Der Urfilm erzählt nämlich nicht zuletzt ein bewegendes Melodram junger Menschen, die gemeinsam versuchen, dem drohenden Untergang ihrer Welt zu begegnen. Umschlossen wird es von einem sich langsam aufbauenden Katastrophen- und Horrorfilm in auffällig düsteren bis hin zu rauen Schwarzweißbildern.
Sowieso ist der Film, der bekanntlich von einem Seeungeheuer handelt, das nach Atombombentests aus seinem Schlaf erwacht und Japans Küstenstädte verwüstet, vieles zur gleichen Zeit: Da wäre einerseits das Kammerspiel der Labore und Schaltzentralen, andererseits das Drama epischen Ausmaßes, das seine Spannung auch daraus bezieht, dass wir oft nur Andeutungen vom Monstrum inmitten weiter Landschaften bekommen. Godzilla (Gojira) ist offensichtlich ein Film ausgeprägter Skepsis gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt (speziell gegenüber der Atomkraft und wofür sie der Mensch nutzte), zugleich aber auch einer, der seinen Fimmel für Reagenzgläser, Apparaturen und Co. schlecht verbergen kann. Letztlich ist er sowohl semi-pulpiger Genrefilm als auch zeitkritisches Pamphlet auf menschliche Destruktionspotenziale, voller Bildeskalationen und dazwischengeschalteter Nachdenklichkeit, ein tricktechnischer Kraftakt und nationale Traumabewältigung.
Tilman Schumacher
Reifezeit

Der einzelne Uhrenschlag ist so etwas wie das Elementarteilchen in Sohrab Shahid Saless’ Reifezeit von 1976, einer filmischen Primfaktorzerlegung prekären Lebens im Post-Wirtschaftswunder-Deutschland. Über unausmessliche Intervalle hinweg tickt da eine Standuhr in einer ärmlichen Berliner Mietwohnung. Dort lebt der vielleicht zehnjährige Michael (Mike Henning) mit seiner Mutter (Eva Manhardt), die nachts immer sehr spät und sehr stark geschminkt nach Hause kommt. Im Stockfinstern zerlegt Ramin Reza Molais Kamera den Raum in einzelne Lichtinseln – die Küche, der Schminktisch, das Bett –, dazwischen herrscht körperverschlingende Dunkelheit, die so tief scheint wie die Zeit zwischen den Uhrenschlägen endlos. Und ebenso wie hier jeder Gegenstand quasi aus Schatten modelliert für sich allein steht, so schneidet auch das Sounddesign fast schmerzhaft deutlich einzelne Geräusche aus der Stille. Ein vorüberfahrendes Auto. Der laufende Wasserhahn. Ein zerspringender Teller. [...] Die Alltage von Mutter und Sohn fügen sich aus Einzelhandlungen allmählich zusammen, wie ineinander greifende Glieder einer Kette, oder besser: wie zwei unabhängige, aber aufeinander eingespielte Rhythmen, denen die unerbittlich tickende Uhr den Grundtakt vorgibt. Dieses Aufeinander-eingespielt-Sein ist getragen von einer berührenden Intimität, die sich paradoxerweise aus sorgsam gewährten Distanzen ergibt. Selten bis nie ist man physisch zärtlich zueinander, streichelt, umarmt oder küsst sich. Aber wenn die zerschmetterte Mutter nach dem Ritual des nächtlichen Abschminkens noch ein Pausenbrot einwickelt und ein paar Münzen herauslegt, wenn der auf Zehenspitzen schleichende Sohn diese Dinge am nächsten Morgen einpackt, bevor er die Tür vorsichtig zuzieht, um die Mutter nicht zu wecken, dann sind all dies am Anderen geformte Gesten, gezeichnet von gleichzeitiger Zuneigung und Rücksichtnahme, unselbstverständlich und füreinander gemacht wie immer neu dargebotene Geschenke. In Miniatur scheint hier eine komplette interpersonale Ethik ausbuchstabiert. Zur vollständigen Kritik.
Nino Klingler
Battle in Heaven

Ein allmächtiger Blick dringt an intimste Orte und schaut genau: Menschliche Leiber, männlich wie weiblich, in zahlreichen und langen Groß- wie Detailaufnahmen kommen dem Betrachter in diesem Film gelegentlich unerträglich nahe, verbleiben jedoch empathisch zugleich auf Abstand. Keine der Figuren lüftet ihr Geheimnis. Bis zum Schluss bleiben sie unergründlich und fern, so nah sie uns auf der Leinwand auch zu sein scheinen. Diese Spannung spaltet. Zwischen Unwohlsein und Faszination gebannt, schützt jene emotionale Distanz zugleich und macht Darstellungen von solcher Intensität erst ertragbar. Doch der Schock geht über den ästhetischen hinaus, Reygadas lässt die Provokation der Bilder nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern macht das Gezeigte zum Ausgangspunkt für universellere Dinge. Die Komplexität von Moral, gefangen zwischen Körper und Geist, steht zur Verhandlung. Zur vollständigen Kritik.
Andrea Wildt
Retrospektive
Denk bloß nicht, ich heule

Im Dezember 1965 kassierte das 11. Plenum des Zentralkomitees der SED eine Reihe von DEFA-Produktionen ein, die sich kritisch mit Entwicklung und Gegenwart des Lebens in der DDR auseinandersetzten. Das Ganze kam einer kulturpolitischen Zäsur gleich. Auf Jahrzehnte waren Kinofilme wie Denk bloß nicht, ich heule nun undenkbar. Frank Vogels Film, den man etwa von Seiten der FDJ-Funktionäre vorwarf, ein Film zu sein, der „gegen uns, gegen unsere Partei, gegen unsere Republik und gegen unsere Jugend ist“, bekam man erst 1990 zu Gesicht. Tatsächlich ist die von Zensureinschnitten befreite Fassung nicht bloß chiffriert, sondern ganz offen gegen das damalige Regime gerichtet – so zumindest aus der Erzählperspektive des jugendlichen Helden Peter Naumann, den wir durch seinen Weimarer Alltag in den 1960er Jahren begleiten. Unliebsamer Coming-of-Age also.
Während die filigran gebauten Schwarzweißbilder im Cinemascope-Format die Ruhe ausgewogen-grafischer Kompositionen suchen, strotzt der Filminhalt vor Unruhe und emotionaler Gereiztheit. Der rebellische Peter (Peter Reusse) hat nämlich etwas getan, was für die Funktionäre um ihn herum unverzeihlich ist: Er hat in einem Schulaufsatz „staatsfeindliche“ Äußerungen geäußert. Folglich fliegt er von der Schule, nimmt Reißaus und paukt dennoch – halb aus Trotz? – auf dem Land fürs Abitur. Dort lernt er die (zunächst) systemgläubige Anne (Anne Kathrein-Kretschmar) kennen und lieben, was sein Leben nicht unkomplizierter macht. Sieht man von der Tendenz zur DEFA-Drehbuchlaberigkeit ab, ist Denk bloß nicht, ich heule nicht nur ein interessantes Zeitzeugnis, sondern auch ein sinnlicher Parkour durch ein eingeengtes Jugendleben mit angenehm losen Enden und einer verspielten Inszenierungsweise, die versucht, sich ebenfalls in kein Korsett pressen zu lassen.
Tilman Schumacher
Supermarkt

Willi (Charly Wierzejewski) ist ein Getriebener, ein jugendlicher Problemfall, der seinen Platz im Leben sucht, ihn aber vor allem deshalb nicht findet, weil er es nirgends lange genug aushält. Schaut man ihm ins von Enttäuschung und Resignation gezeichnete Gesicht, könnte man fast vergessen, wie jung er eigentlich ist. Kaum angefangen, aber schon längst verloren. Und Roland Klick folgt ihm dabei, wie er trotzdem versucht, gegen sein Schicksal anzukämpfen, sich immer wieder aufrappelt, was Dummes ausheckt und sich in die Arme von Leuten flüchtet, die sich eigentlich gar nicht für ihn interessieren. [...] Klick versammelt dafür ein Arsenal an Archetypen, füllt sie mit den Widersprüchen des Lebens und beweist, wie wichtig das Casting für einen Film ist. Selbst die kleinsten Nebenrollen sind in Supermarkt genial besetzt, bis zu einem gewohnt atemlosen Alfred Edel als Chefredakteur und der späteren Fernsehmama Witta Pohl als Geisel. Und natürlich ist da noch Eva Mattes als Hure Monika, die mit blonder Perücke und blauem Ledermantel ein weiteres Mal zeigt, dass man auch als Trampel eine gewisse Anmut haben kann. Sie ist denn auch die Einzige, der Willi selbst helfen will, einfach weil sie mindestens genauso verloren ist wie er. Zur vollständigen Kritik.
Michael Kienzl
Die endlose Nacht

Ein autobiografisches Erlebnis soll die Idee geliefert haben; im Jahr zuvor verbrachte Tremper selbst eine Nacht auf dem Berliner Flughafen Tempelhof, auf dem wegen dichten Nebels der Flugverkehr eingestellt war. Er beschloss, einen Film – den man heute einen klassischen Ensemblefilm nennen würde – über die Situation und eine Gruppe gestrandeter Reisender daraus zu machen, deren Pläne durch den Wettersturz vereitelt werden (denn stattdessen mit dem Zug durch die „Zone“ zu fahren kommt für keinen in Frage). [...] In neoveristischer Attitüde realisiert und sichtlich inspiriert von Vorbildern wie Das süße Leben (La Dolce Vita, 1960) oder Außer Atem (À bout de souffle, 1960), bleibt Die endlose Nacht ein bis heute faszinierendes und erfrischend selbstbewusstes Zeitbild bundesdeutscher Realitäten und – mehr noch – der Träume einer Gesellschaft, die die Nachkriegszeit überwunden, aber noch keine neue Bestimmung gefunden hat. Wie im populären Kriminalkino jener Zeit die Gier nach Reichtum, so nehmen hier zeitgenössische (und zeitlose) Sehnsüchte Gestalt an. Das blonde Fräulein hinter dem Schalter ist in Gedanken schon auf ihrer Farm im sonnigen Afrika. Der verzweifelte Geschäftsmann, der zum Wechselfälscher wurde, erscheint ebenso wie ein hilfloses Kind geplatzter Wirtschaftswunder-Versprechungen wie die Hausfrau, die sich vom italienischen Verführer die Befreiung aus der heimischen Enge erhofft. Zur vollständigen Kritik.
Bodo Traber
Tobby

Deutschland Anfang der 1960er Jahre: Der Schlager regiert die Charts. Der Jazz gastiert als Underground-Phänomen in den Kellern der Republik. Verehrt von der Jugend, gespielt von einigen Liebhabern aus Leidenschaft, mit der sich eher schlecht als recht Geld verdienen lässt. Vor diesem Hintergrund folgt Hans Jürgen Pohland in seinem ersten Langspielfilm Tobby (1961) dem Jazz-Sänger und Perkussionisten Toby Fichelscher durch West-Berlin. Der düst auf seinem Fahrrad von einem nächtlichen Auftritt zur nächsten Jam-Session, anschließend von der Party zum Frühschoppen. Immer in Begleitung treibender Jazz-Rhythmen. Im Morgengrauen kommt er zu Hause an, um dort von seiner Ex-Frau, mit der er samt ihren beiden gemeinsamen Söhnen als moderne Patchwork-Familie immer noch unter einem Dach lebt, mit „Bier oder schlafen“ begrüßt zu werden. Toby nimmt das Bier, schläft, raucht eine Zigarette zum Aufwachen und isst sein Frühstück aus dem Topf. Das Image des verwegenen Rockstars – zumindest für damalige Verhältnisse – bestätigen auch vornehmlich weibliche Konzertbesucherinnen in Interview-Situationen. Er sei „animalisch, ursprünglich und etwas verranzt“. Heute würde man ihn wohl einfach als Lebemann bezeichnen. Zur vollständigen Kritik.
Nina Linkel
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