Berlinale 2021: Empfehlungen
Morgen startet der Vorverkauf für die diesjährige Sommer-Berlinale (9.-20.6.). Wir empfehlen Filme aus dem Wettbewerb und den Nebensektionen.
Wettbewerb:
Bad Luck Banging or Loony Porn

„Was von Judes Film übrig bleibt, sind keine Argumente, die abgewogen werden könnten, dafür ist hier jede Haltung zu sehr eine Karikatur ihrer selbst. Übrig bleibt vielmehr ein Gefühl der Leere: Nichts scheint die in Judes Film stets nebeneinanderliegenden Diskurse verbinden zu können, kein hier anwesender Standpunkt diese Figuren als verschiedene Seiten ein und desselben Problems zu begreifen. Der letzte Teil des Triptychons deutet damit stärker als alle anderen auf das Vakuum hin, das eine moderne Erzählung mit Anspruch auf Totalität füllen könnte. „A sketch for a popular film“ nennt sich Bad Luck Banging or Loony Porn in einer Einblende zu Beginn selbst. Am Ende ist die Skizze entfaltet, die einzelnen Themen, Abgründe, Krisen liegen in diesem Rumänien, wahrscheinlich auch diesem Europa, ganz offen da. Die ewigen Widersprüche zwischen den Standpunkten bieten das Potenzial, die Gesellschaft kippen zu lassen. In welche Richtung das aber geht, wer aus dieser Skizze am Ende einen populären Film macht, ist ungewiss.“
Fabian

„Mit seiner Lust an der Form ist Fabian ganz bei den Kunstavantgarden der 1920er Jahre, mit der Lust am Spiel seiner Darsteller beim Sprech von vor 90 Jahren und den mal ziemlich wortwitzigen, mal melancholischen Dialogen Kästners. Graf taucht mit Fabian aus einem Deutschland 2021 direkt in die Weimarer Republik 1931 ein und nicht wieder auf, so wie seine Kamera am Beginn durch die U-Bahn Haltestelle am Heidelberger Platz schwebt: vorbei an Smartphone haltenden und Sneaker tragenden Figuren und dann die Treppe hoch, wo schon die roten und braunen Wahlplakate hängen. Umso beeindruckender dann, wie wenig Gegenwart Graf in die Vergangenheit trägt und wie viel er davon trotzdem aus ihr herausholt.“
Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?

„Ein Sommerfilm, ein Märchenfilm, ein … ach komm, ich sag’s: ein Sommermärchen! Ein ganz echtes, mit Liebe und ganz viel Fußbällen, um die wir uns Sorgen machen, wenn sie im reißenden Fluss landen. Und vor allem ein Sommermärchen, von dem wir nicht wussten, dass wir es tatsächlich noch verdient hätten.“
Herr Bachmann und seine Klasse

„Es ist ein herausragender Film, den Maria Speth gemacht hat, und das ist erstmal ganz wortwörtlich gemeint: Sowohl mit einer Laufzeit von dreieinhalb Stunden als auch in seiner dokumentarischen Form hebt er sich von den anderen 14 Beiträgen im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb ab, fällt aus der Reihe, stört den Betrieb, während er sich gleichzeitig einen zweiten vorknöpft. Herr Bachmann und seine Klasse ruft dazwischen, ins Homeoffice und Homeschooling hinein, um einen schulischen Alltag zu zeigen, der nicht alltäglich ist, aber es sein sollte. Obwohl der Film sich gegen einen solchen Dogmatismus gewiss selbst wieder wehren würde. […] Herr Bachmann und seine Klasse ist eine Abhandlung über das, was möglich ist in der Welt (und im Kino), nicht zu schön, um wahr zu sein. Eine Einladung, zusammen abzutauchen und Märchen über Gitarren und Tischen zu spinnen, bis sich alle heimlich aus der Schule schleichen, wenn Herr Bachmann heute wieder früher Schluss macht.“
Petite Maman

„Zu Beginn ein Abschied, zum Ende ein Wiedersehen: Solch eine Klammer setzt Sciamma um ihren Film, die Linearität verspricht. Petite Maman unterläuft sie allerdings und schlägt andere Pfade ein, berichtet mit schlichten wie zauberhaften Bildern von den rites de passage, feiert Übergangsszenarien und Herbstfarben, die der Winter demnächst vertreiben wird. Doch nur dem Anschein nach hat dieser Film nicht die Wucht, die Porträt einer jungen Frau in Flammen auszeichnet. Petite Maman hat es ganz schön in sich. Seine Kraft will nur anders entdeckt werden, wenn er über Sehnsucht und Trauer fabuliert, über Lichtschalter, die Kinder in ein Morgen teleportieren, und Geheimnisse, die sich nicht verstecken, sondern denen nur ein Gegenüber fehlt, dem sie erzählt werden wollen.“
Wheel of Fortune and Fantasy

„Bemerkenswert an diesem Triptychon, dessen Teile lose miteinander in Beziehung stehen (und dessen zweiter Teil sich gar nicht so sehr als Kernstück lesen lässt), ist die Sinnlichkeit des Sprechens, die sich zwischen den Figuren entfaltet. Yukiko Iiokas Kamera löst sie in ihren Drehungen auf, hält drauf und dagegen, beobachtet die epischen Verwandlungen der Fremden in Bekannte und wieder zurück. Wheel of Fortune and Fantasy zeugt von der Unsicherheit, die mal im Gegenüber, mal im Selbst wohnt, vom Ungesagten, Träumerischen, vom Sprung in der Zeit, den Hamaguchi in seiner Hoffnung auf Besserung zelebriert. Die Welt hält hier (Un-)Wahrscheinliches bereit, ganz c’est la vie, und Resignation bedeutet das nicht. Stattdessen legt Wheel of Fortune and Fantasy die machtvollen Dramaturgien des Lebens offen, in denen sich Menschen bewegen, die von Menschen hervorgebracht werden, auch wenn es sich für die gelegentlich nicht so anfühlen mag.“
Introduction

„Hach ja, Hong Sang-soo ist der richtige Regisseur für sozial distanzierte Zeiten, so produktiv wie er seit eh und je ist, so wenig wie er benötigt für einen Film. Selbst für Hongs Verhältnisse fühlt sich Introduction so nach Sparflamme an, aber die brennt und wärmt in ihrem schönen Schwarz-Weiß nur umso besser. Und wenn am Ende eine junge Frau traurig am Strand sitzt, weil ein Deutscher sie für eine andere Koreanerin verlassen hat, hilft man ihr hoch.“
Encounters
Das Mädchen und die Spinne

„Unschärferelationen, wo man auch hinsieht. Die Störung des Systems ist kein Ereignis, sondern Prinzip, weil nicht sie, sondern das reibungslose Funktionieren der Erklärung bedarf. Das zerschossene PDF erscheint gerade deshalb als existenzielle Verunsicherung, weil in ihm zwar der Grundriss von Lisas neuer Wohnung nicht mehr erkennbar ist, vielleicht aber der Grundriss des Lebens. Und wenn das Potenzial des Kinos darin besteht, uns einen Blick auf die Welt zu ermöglichen, den wir ohne es niemals haben könnten, dann steckt es auch in diesem alternativen Grundriss. Mit nur zwei Filmen haben die Zürchers einen völlig eigenen ästhetischen Kosmos gebaut, den Regeln des narrativen Kinos eine Art filmische Quantenphysik entgegengesetzt.“
Blutsauger

„In diesem Sinne ist Radlmaiers Blutsauger tatsächlich ein Bild in Bewegung: ein dialektisches, das es zusammen mit dem Material der Vergangenheit auf das der Gegenwart abgesehen hat und nur mit der Gegenwart überhaupt auf die Vergangenheit sehen kann. Die Ostsee-Fabriken des Jetzt, ihr Äußeres wie ihr Inneres dienen hier ganz unverhohlen für die Darstellung von 1928. Und sie können das nur, weil sie noch 1928 in sich tragen. Weil sie eben Fabriken sind, die nicht der Arbeiterschaft gehören, ihr aber bedürfen, eine Arbeiterschaft, die also nach wie vor an den Geräten steht und stumpfe, manuelle Arbeit verrichtet. Sicherlich ist das für Radlmaier auch gar nicht anders möglich, die materiellen Umstände eines jungen Filmemachers würde den Nachbau historischer Kulissen wohl kaum erlauben. Aber wie schon in seiner Meta-Komödie Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes macht er auch hier Nachteile so produktiv wie kaum ein anderer.“
Nous

„Wie der Zug bindet Nous bescheidene Schicksale aneinander, beobachtet in klassisch dokumentarischer Tradition das Alltagsleben, ist dabei eher Erzählband als Roman. Erzählt von einer Jagdclique im ländlichen Norden ebenso wie von einem Automechaniker in der Vorstadt, guckt der Gruppe Jungs, wie sie sich über einen alten Chanson lustig machen, ebenso gern zu wie der Gruppe Mädchen, die kichernd Messenger-Nachrichten der Jungs analysieren. Aus dem Titel spricht also nicht die Ambition einer Analyse, sondern der Wunsch nach Zukunft. Diop versteht Gemeinsamkeit nicht organisch oder teleologisch, sondern als prekäre Konstruktion.“
Forum
A River Runs, Turns, Erases, Replaces

„Zhus Film ist eine melancholische Annäherung an eine Stadt, die immer nur einem Versuch gleichkommen kann, weil dieses Wuhan so schnell ist, sich immer schon neu entworfen hat, wenn die Kamera gerade aufgestellt wurde. Nicht nur in diesem Versuch der Abbildung geht es in A River Runs, Turns, Erases, Replaces um Verlust, um ein Zuspätsein. […] Obgleich es sich bei A River Runs, Turns, Erases, Replaces nicht nur eine filmische Auseinandersetzung mit der Pandemie und ihren Auswirkungen handelt, läuft dies bei der Betrachtung von Zhus Film auf berührende Weise mit.“
From Where They Stood

„Schon die schiere Existenz des fotografischen Materials ist beeindruckend. Gefangene in Konzentrations- und Vernichtungslagern machten unter Einsatz ihres Lebens Bilder: von Appellplätzen und Bänken, dem rauchenden Schornstein des Krematoriums, ankommenden Waggons, den Mithäftlingen. […] From Where They Stood ist eine ernsthaft-spielerische Auseinandersetzung mit den Herstellungsprozessen, die zu den jeweiligen Bildern geführt haben. […] In From Where They Stood wird das Bewegt-Sein im Stillstand nachvollziehbar. So werden Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Überlagerung, Geschichte als Schichtung markiert. Die fotografischen Tätigkeiten der Gefangenen fallen mit denen der Tourist*innen von heute zusammen, die die Gedenkstätten besuchen. Die Figuren auf den Bildern scheinen sich aus ihrer Stillstellung zu lösen, wenn sich die Menschengruppen in Farbe hinter der Glasplatte mit dem schwarz-weißen Original in Bewegung setzen.“
Panorama
All Eyes Off Me

„All Eyes Off Me ist angenehm unvorhersehbar, ohne das als Unique Selling Point vor sich herzutragen, eine anderthalbstündige Ausbremsung, die bei der wilden Party beginnt und bei zwei sehr unterschiedlichen Menschen landet, die nebeneinander auf dem Boden liegen und gemeinsam für zwei Minuten schweigen wollen. Einer hat nichts gesucht, aber gefunden, eine andere etwas gesucht und vielleicht wieder nichts gefunden. Denn ein gewisser Pessimismus, was Intimität angeht, scheint im zweiten Film von Hadas Ben Aroya durchaus vorzuliegen, dann aber auch eine in diesen sozial distanzierten Zeiten so schmerzhafte Sehnsucht nach Nähe.“
Generation
From the Wild Sea

„Petrés Film ist erst einmal unscheinbar, gerade im Kontext eines Dokumentarkinos, das sich zunehmend der Klimakatastrophe widmet. Die statischen Bilder, die Auslassung eines kontextualisierenden Voice-overs hat man schon öfter erlebt, im Kino Nikolaus Geyrhalters etwa. Und die radikalsten, sich vom anthropogenen Blick befreiende Filme liefern sowieso andere, in erster Linie das Sensory Ethnography Lab der Harvard University und ihr fraglos überwältigendes Zugpferd Leviathan (2013). Umso überraschender und beachtlicher, dass Petré auch ohne das große Formexperiment einen Film auf die Beine gestellt hat, der mit viszeralen Bildern ziemlich invasiv wirken kann, der die Gewalt allgegenwärtig macht, ohne ihr Epizentrum zu suchen, der mit seiner Beobachtung des menschlichen Blicks auf die Tierwelt auch den eigenen Standpunkt reflektiert. Und die Natur mit ihrem stets wütenden Meer und den fauchenden Tieren weiß den Blick der Kamera stets zu erwidern.“
A School in Cerrro Hueso

„A School in Cerro Hueso ist kein Film großer Worte; reden, das tun hier eh die anderen. Aber es ist ein Film über das Große, das im Kleinen steckt: die Ermutigungen einer Lehrerin, das Aushalten von Augenkontakten, das Haareschütteln mit der besten Freundin, das vermeintlich unauffällige Küsschen, das Irina Ema in der Pause auf die Wange drückt. Verbales wird bei Cappato nicht ersetzt. In A School in Cerro Hueso verschieben sich bloß die Prioritäten. Gesten und Geräusche werden vergrößert, Vögel schnattern, Kies knirscht, kein stummer, wohl aber ein leiser Film, bei dem es aufmerksam hinzuschauen und hinzuhören gilt.“
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