Berlinale 2018: Für ein flüchtiges Kino

Keine Angst vor Relevanz! Drei Filme aus dem diesjährigen Berlinale-Programm verbauen die sogenannte Flüchtlingskrise in ihre Werke. Weil die dabei sowohl dem Nähe- wie dem Distanzfetisch entsagen, enthalten sie eigene Vorschläge eines politischen Kinos.

Karim Aïnouz’ Dokumentarfilm Zentralflughafen THF endet mit einem letzten Voice-over seines Protagonisten Ibrahim, der vom schrecklichsten Tag in seinem Leben erzählt. Dazu sehen wir nochmals ein Bild vom Tempelhofer Feld, ein Kind geht von links nach rechts, im Hintergrund der Tower des ehemaligen Flughafens, in dessen Hangars Ibrahim über ein Jahr lang gelebt hat. Er erzählt nicht, was genau an diesem schrecklichen Tag in seiner syrischen Heimat passiert ist, nur davon, dass er seine Mutter trösten musste und dass er entschied zu flüchten. Aïnouz verweigert uns also, was manch anderer Filmemacher zu brauchen glaubt, um menschliche Tragödien nachfühlbar zu machen: Wir sehen Ibrahim nicht ins Gesicht, und in unserem Kopf entsteht kein konkretes Bild von Krieg und Elend. Nur ein schrecklicher Tag im Voice-over und das Bild eines Ortes, der mit diesem Tag in Beziehung steht.

Die Frage nach der Bausubstanz

Dass die Berlinale sich als politisches Festival versteht und dass sich dieses Label ebenso gut vermarkten lässt, wie es Filmkritiker zu Vorwürfen der Kunstfeindlichkeit einlädt, ist bekannt. Tatsächlich gewinnt man jedes Jahr aufs Neue den Eindruck, dass einige der Wettbewerbsbeiträge noch vor jeglicher Sichtung aufgrund „heikler Sujets“ und „tagesaktueller Relevanz“ ausgewählt wurden. Allerdings: So berechtigt diese Inhalt-beats-Form-Kritik am Festival ist, manchmal droht sie abzugleiten in einen Kunstfetisch, der das Kino als reine Form idealisiert anstatt als die Formung von Material, das natürlich stets im Verhältnis zu einem Außen steht. Da scheint manchmal schon die Relevanz an sich verdächtig und nicht erst das mit ihr betriebene Kalkül, und der Film, der sich um wenig schert, per se diesem reinen Kino näher, weil auf keinen politischen Begriff zu bringen. Natürlich sind Filme niemals bloße Repräsentationen einer Realität, sondern immer Produktionen, eigenständige Werke – aber eben solche, die aus Welt gebaut sind.

Die entscheidende Frage, die die Kritik an diesen Konstruktionsprozess stellen kann, lautet dann bekanntlich nicht, welches Material da genommen wurde, sondern wie es im filmischen Gebäude verbaut ist, also nicht ob und wie viel, sondern auf welche Weise die Welt, die Realität, die Politik, ja vielleicht sogar die Relevanz da reingekommen sind. Wie konkret etwa, wie spezifisch wollen Filme von den Dingen da draußen reden, mit welchen Instrumenten bearbeiten sie das Material vor seinem Einsatz, und wie transparent bleibt es im fertigen Bauwerk? Und da Filme nicht nur denkende, sondern auch affizierende Werke sind: Mit welchem (vielleicht neuen) Zuschauer-Verhältnis zum Material wollen sie uns zurück in die Welt schicken?

Zum Beispiel Flüchtlinge

Blickt man auf filmisches Schaffen rund um die Flüchtlingsdebatte, kommt man an Alejandro González Iñárritu wohl nicht vorbei. In seiner letztes Jahr in Cannes vorgestellten Virtual-Reality-Show Carne y arena wird der Zuschauer in einem mit Sand ausgelegten Hangar der Illusion ausgesetzt, selbst ein Migrant zu sein, der von Hubschraubern verfolgt durch die nordamerikanische Wüste flüchten muss. Ein enormer technischer Ressourcen-Einsatz, der letztlich durch den Glauben an die Empathie als eine steigerbare Größe legitimiert wird: je näher, desto gleich.

Am anderen Pol säße wohl jemand wie Philip Scheffner, dessen Film Havarie [LINK] vor zwei Jahren auf der Berlinale lief. Scheffner zerdehnte ein kurzes, auf YouTube hochgeladenes Video von einem im Mittelmeer treibenden Flüchtlingsboot zu einem Film, der weniger „die Flüchtlinge“ als vielmehr unseren Blick auf sie ins Zentrum rückte. Nicht der Versuch, uns selbst in die Lage und emotionale Verfassung des Flüchtenden zu bringen, war zentraler Fluchtpunkt des Bauprojekts, sondern die These, dass ein solcher Versuch notwendig in eine Sackgasse führt. Dem humanistischem Iñárritu-Ansatz, der suggeriert, wir seien ja ohnehin alle aus dem gleichen Holz und könnten mithilfe eigens dafür hergestellter Trigger mal eben das Subjekt wechseln, setzt ein solches Meta-Kino die Entblößung dieser Menschel-Brücke als Holzweg entgegen, der emotionale Betroffenheit herstellen mag, aber um den Preis einer gefährlichen Illusion. Geht es dem einen Ansatz ums Innen, geht es dem anderen um jenes Außen, das unterschiedliche Innerlichkeiten erst herstellt und deshalb erst einmal selbst in den Blick geraten muss.

Der Fall Styx

Im Programm der diesjährigen Berlinale benutzen neben Aïnouz noch zwei weitere Regisseure die Figur des Flüchtlings als Baumaterial – und verorten sich auf dem Kontinuum zwischen der Produktion konkreter Erfahrung und der (Selbst-)Reflexion. Da wäre zum einen Wolfgang Fischers Styx, der, ebenso wie Zentralflughafen THF, im Panorama läuft. Einerseits könnte es hier konkreter, direkter, körperlicher kaum zugehen, ist die Protagonistin doch eine Rettungsärztin, die es mit einem Notfall der besonderen Art zu tun bekommt: Auf ihrem Segeltrip in Richtung einer paradiesischen Insel trifft sie vor der westafrikanischen Küste auf ein sinkendes Boot mit Flüchtlingen, für das sich die Küstenwache nicht so recht zu interessieren scheint, die deutsche Seglerin sogar dazu verpflichtet, nicht einzugreifen, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Einer der Geflüchteten überwindet die Distanz zwischen dem überfüllten Fischkutter und der Segelyacht und wird von der Heldin erstversorgt und gesundgepflegt, während dort hinten am Horizont Dutzende andere ins Meer springen oder sich irgendwie an Bord halten.

Andererseits erinnert das Boot am Horizont, das immer wieder ins Bild kommt, während unsere Heldin im Vordergrund mit einem Kraftakt den Jungen auf ihr Boot hievt, ein wenig an Scheffners Meta-Film, und das Flüchtlingsboot scheint mehr Zeichen denn Realität. Die deutsche Notärztin, die aus ihrer Yacht aus dem Fenster guckt und mit dem Überlebenskampf konfrontiert wird, ist ein Bild, das sich leicht metaphorisch lesen lässt. Auch das spezifische Verhältnis zwischen dem einen erschöpften Teenager, der es auf die rettende Yacht schafft, und den nicht zählbaren anderen, die da hinten sinken, lässt sich in das numerische Verhältnis zwischen den Deutschland erreichenden und den an diversen Grenzen gestoppten oder im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen überführen. Dieses Spiel mit Debattenelementen – die Flüchtlingskrise als Notfall, die Empathie mit dem einzelnen Kinderflüchtling, die anonyme Masse am Horizont, der Anruf staatlicher Autoritäten, die stets utilitaristisch argumentieren – spielt Styx mitunter beeindruckend gut. Allerdings scheint Fischer letztlich doch weniger auf eine strukturelle Analyse aus zu sein als auf ein individual- oder kollektivpsychologisches Dilemma zwischen moralischer Verpflichtung und ihrer praktischen Verunmöglichung. Vielleicht bleibt am Ende doch auch ein eher schlichtes Iñarrativ: Wie würdest du handeln?

Der Fall Transit

Im großartigen Transit, seiner Aktualisierung von Anna Seghers’ Roman über einen jungen Deutschen, der vor den peu à peu Frankreich erobernden Nazis in Richtung Marseille fliehen muss, verarbeitet Christian Petzold auf gänzlich andere Weise gegenwärtige Diskurse – auf die sein eindrucksvoll zwischen allen Ebenen schwebender Film freilich nicht reduziert werden darf. Zunächst verweigert sich Petzold dem Historiendrama (das auf jene einfache Intervention hinauslaufen würde, wir Europäer seien ja auch mal Flüchtlinge gewesen), indem er den historischen Kontext in die bildliche Gegenwart einbaut: gepanzerte Cops, die Jagd auf Papierlose machen, arabische Migranten, die als Großfamilie in engen Wohnungen hausen, eine erbarmungslos willkürliche Bürokratie. Aktuelle Autos, aktuelle Schiffe, eine aktuelle Welt, aber durch diese Bilder hindurch flieht einer vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Dritten Reich, will Mexiko erreichen. Der Transitraum, den Petzold hier entstehen lässt, ist ein Raum, in dem der Konflikt zwischen konkreter Erfahrbarmachung und Meta-Reflexionen keinen Sinn mehr ergibt. Weder glaubt Transit an eine simple humanistische Gleichung, in der Augenhöhen austariert werden können, noch behauptet er die fatalistische Verstrickung in den eigenen Blick, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Der Transitraum ist vielmehr der Raum, in dem wir – jenseits der bloßen intensiven Emotionen, an die Iñárritu so stark glaubt, aber auch jenseits des intellektuellen Essays, der alles durchdenkt – die teilbaren, die gemeinsamen Bestandteile des Realen erstmal vermessen, und zwar so vorsichtig wie der Protagonist in Transit, der gemeinsam mit einem kleinen Jungen ein Radio repariert und danach behutsam am Rad dreht, um nach jener Frequenz zu suchen, die ein Gemeinsames herstellt. Karim Aïnouz hat ein solches Gemeinsames im stillgelegten Flughafen Tempelhof gefunden, einem Transitraum ganz anderer Art; er erzählt ebenso wie Petzold davon, dass Heimat ein ewiger Durchgang ist.

Überhaupt wäre eine solche Suche nach der gemeinsamen Frequenz vielleicht nicht das schlechteste Bild für einen Begriff von politischem Kino, das dem Medium selbst wie der Komplexität des Politischen gerecht würde, ein Kino, das nicht schon vorher weiß, dass wir alle gleich oder alle anders sind, alle im selben oder alle in unterschiedlichen Räumen sitzen, ein Kino, das weder in ein reines Denkvakuum noch in ein ort- und zeitlich so konkret wie möglich identifiziertes Setting flüchtet, sondern vielmehr ein fragendes, ein flüchtiges Kino bleibt.

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