Berlinale 2018: Das Kauen der Anderen
Wer hat seinen Kaugummi in den Berlinale-Teppich geschmiert? Gründe für derartige Akte der Wut bietet der Wettbewerb leider kaum. Eine erste Spur führt unsere dritte Berlinale-Kolumne ins Jahr 2004.
Es kleben Kaugummis auf dem Berlinale-Teppich. Nicht auf dem roten (der wird gut bewacht), sondern auf dem mit massivem Stein umschlossenen Korridor, der in den Pressekeller des Berlinale-Palasts führt. So frage ich mich jeden Tag, wenn ich den Keller hinabsteige, wer diese etwa fünfzig Kaugummis erzürnt im Mund gewälzt und anschließend in den Teppich geschmiert hat. Und wenn es die Kollegen Filmkritiker waren, stellt sich dazu eine fast interessantere Frage: Wann gab das letzte Mal einen Film im Berlinale-Palast, der eine solche Reaktion provoziert hätte?
Keine Jubelblasen

In den Stunden, die auf die Weltpremiere von Romuald Karmakars Die Nacht singt ihre Lieder im Berlinale-Jahrgang 2004 folgten, ließe sich durchaus ein Tatzeitpunkt für das Kaugummi-Attentat vermuten, wenn man der offenkundig feindseligen Stimmung auf der Pressekonferenz nach urteilt. Hier ließen sich einige Kollegen dazu herab, von Karmakar eine Stellungnahme zu ihrem „Gelächter an der falschen Stelle“ einzufordern, um den Filmemacher anschließend dafür zu attackieren – der wenig Lust zeigte, die geforderte emotionale Hilfestellung zu geben. Nun möchte ich mir nicht wünschen, dass jemand für Karmakar sein Kaugummi in den Teppich spuckt, sondern vielmehr, dass mehr Filme ihren Weg in den Wettbewerb finden, die zumindest eine ähnliche Durchschlagskraft zu entwickeln vermögen. Filme, die einem ihr Kaugummi ins Haar schmieren. Filme, die man nicht loswird. Im positiven Sinne hat das bisher wohl nur Christian Petzolds Transit geschafft, Wes Andersons Isle of Dogs taugt als Beispiel wohl weniger, aber als gefälliger Opener ist er immerhin gleichzeitig ein toller Film.
Der großen Masse des Wettbewerbs hängt eben das Problem an, das über die Jahre von der Filmkritik breiter getreten wurde als jedes Hubba-Bubba auf dem Pausenhof: Die Filme des Wettbewerbs sind nicht schlecht, sie sind vielmehr weitgehend unbedeutend. Filme wie Benoît Jacquots Eva, Laura Bispuris Daughter of Mine, David und Nathan Zellners Damsel, Emily Atefs 3 Tage in Quiberon oder Gus Van Sants Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot bringen niemanden dazu, den Bodenbelag zu beschmutzen, geschweige denn eine Jubelblase für die kuratorische Wagnis aus seinem Spearmint zu formen.
Cinephiles Kauen

Der Berlinale-Wettbewerb scheint weiterhin kraftlos und einer Marktlogik oder zumindest einer berechenbaren Gefälligkeit unterworfen. Das Kino ist hier die heruntergekommene Filmkunst, die Susan Sontag in The Decay of Cinema betrauerte. Der zynische Marktmechanismus, der geistlos vergangene kommerzielle Erfolge zu reproduzieren versucht, scheint als kuratorisches Konzept der Berlinale noch so akut zu sein wie in Sontags Bewertung eines Jahrhunderts Filmgeschichte im Jahre 1996. Mit dem Zerfall der Idee des Films als der Kunst des 20. (und 21.) Jahrhunderts sah Sontag auch die Cinephilie in der Krise – gescholten (aus heutiger Sicht vielleicht durchaus zu Recht) als snobistisch und antiquiert. Doch auch wenn Sontag mit keinem Wort auf die Festivals dieser Welt verweist, ist zumindest spürbar, dass die neue Cinephilie, eine wiederaufkeimende Liebe zum Film, die sie als Antidot herbeisehnt, eben genau auf Filmfestivals noch denkbar scheint. Freilich sind damit nicht die mitteilungsbedürftigen Kollegen gemeint, die sich während der Vorstellung von Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot zu affektierten Abgängen hinreißen lassen, sondern vielmehr diejenigen, bei denen das Kauen noch ein körperlicher Ausdruck ihrer Cinephilie ist. Denn wie schlecht der Wettbewerb nun insgesamt ausfallen mag, ein Publikum, das konzentriert kauend zusieht, muss es wohl ebenso geben wie die jährliche Neuauflage der Wettbewerbsschelte. Mein Kollege Philipp Schwarz arbeitet sich in einem Film von Petzold oder Gröning gleich durch vier Streifen Doublemint und legt beim Schreiben im Pressekeller nochmal eine halbe Packung nach. In den Teppich hat sich bisher keins verirrt.
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