Berlinale 2008: Retrospektive Luis Buñuel
Die Berlinale ist nicht nur ein Ort, an dem man sich ein Bild über die vielen Facetten der gegenwärtigen Kinolandschaft und mögliche Zukunftsperspektiven des Mediums machen kann, sie bietet immer auch den Blick zurück, um Filmgeschichte lebendig zu halten. Zu den zahlreichen Sektionen des Festivals gehört seit 1977 die Retrospektive. Jedes Jahr werden dort Filme bedeutender Regisseure oder Werke zu einem filmhistorischen Thema wieder auf die große Leinwand gebracht, oft in restaurierter Fassung oder neuer Kopie. So waren in der Vergangenheit etwa Arbeiten von Billy Wilder, Ernst Lubitsch, William Wyler oder Friedrich Wilhelm Murnau zu sehen, aber auch Filme zu Themen wie Exil, Special Effects, European 60s oder New Hollywood. Dieses Jahr ist die Berlinale-Retrospektive dem Oeuvre des spanischen Regisseurs Luis Buñuel gewidmet. Dabei wird dessen gesamtes Regie-Werk, sowie Produktionen, bei denen er als Produzent, Regieassistent oder Drehbuchautor tätig war, wiedergegeben. So erhält man die einmalige Gelegenheit, sich einen Überblick über den ebenso spannenden, wie heterogenen Werdegang eines der großen Filmkünstler des 20.Jahrhunderts zu verschaffen.
Buñuel, Jahrgang 1900, beginnt seine Karriere 1929 in Frankreich als surrealistischer Provokateur. Der Schnitt eines Rasiermessers durch ein menschliches Auge in seinem Debütfilm Ein andalusischer Hund (Un chien andalou) hat sich tief ins kollektive Kino-Gedächtnis gebrannt und mag als symbolisches Schlüsselbild für Buñuels künstlerisches Kredo verstanden werden: fortan wird er mit seinen Werken unsere Sehgewohnheiten attackieren, die Oberfläche des schönen Scheins sezieren und eine Welt des Irrationalen und Obsessiven im verborgenen Innern des Menschen freilegen. Mit seinem nächsten Film Das goldene Zeitalter (L’âge d’or, 1930) knöpft er sich – wie so oft in seinen folgenden Werken – die Scheinheiligkeit von Bourgeoisie und Christentum vor, wodurch er heftige Proteste unter Konservativen, sowie klerikalen Anhängern auslöst.
Anfang der dreißiger Jahre zieht es Buñuel in seine spanische Heimat zurück. Er hört auf, Filme im strengen Sinne des Surrealismus zu drehen, doch der Einfluss der künstlerischen Bewegung wird sich zeitlebens in seinem Oeuvre bemerkbar machen. Der Bezug zum Unbewussten und der Charakter des Traumhaften ist allen Filmen Buñuels zu Eigen. Selbst in einem Dokumentarfilm wie Land ohne Brot (Las Hurdes, 1933) vermeidet er die Abbildung von bloßer „Wirklichkeit“ und dringt in Sphären des rational schwer Fassbaren ein, etwa durch das Aufspüren grotesker Momente im Alltag. Trotz traumartiger Strukturen und Momente, die seine Filme durchziehen, wahrt Buñuel den Bezug zur Realität und bleibt immer auch politisch brisant: Land ohne Brot, der die abgeschiedene, damals rückständige Bergregion Las Hurdes mit seinen von Krankheit und Inzuchtfolgen gezeichneten Bewohnern porträtiert, wird von der rechten Regierung Spaniens als Affront der nationalen Ehre verstanden und daraufhin verboten. Mitte der Dreißiger gründet Buñuel zusammen mit seinem Freund Ricardo Urgoiti eine eigene Produktionsfirma namens Filmófono und überwacht von 1935 bis 1936 die Herstellung von vier Filmen, die jedoch die Subversivität seiner eigenen Regieprojekte vermissen lassen.
Nach Ausbruch des Bürgerkriegs verlässt Buñuel Spanien und flieht – über die Stationen Paris, New York und Hollywood – ins mexikanische Exil. Ab 1946 hat er hier die produktivste Phasen seines Lebens, inszeniert in nur vierzehn Jahren zwanzig Filme, die sich zwischen avantgardistischer Kunst und populärem Genrekino bewegen. Meisterwerke wie das neorealistische Jugenddrama Die Vergessenen (Los Olvidados, 1950), die schwarzhumorige Serienkillerfantasie Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (Ensayo de un crimen, 1955) und die Christus-Persiflage Nazarin (1958) entstehen. Auch Buñuels nach eigenem Bekunden persönlichster und unter seinen eigenen Werken liebster Film kommt zu Stande: Er (Él, 1952), das tragikomische Porträt eines vor Eifersucht wahnsinnig werdenden Ehemannes. „Das ist vielleicht der Film, in den ich mich selbst am meisten eingebracht habe“, verrät er in einem Interview. „Im Protagonisten steckt ein Stück von mir.“ Der Psychoanalytiker Jacques Lacan nutzt den Film später als Anschauungsmaterial für Freudsche Theorien über Paranoia.
1961 kehrt Buñuel, der nun als größter Regisseur Mexikos gilt, mit Viridiana auf die europäische Filmbühne zurück. Das in Spanien produzierte Drama erzählt von den vergeblichen Bemühungen einer jungen Novizin, christliche Werte auf dem Landsitz ihres Onkels zu etablieren, einer moralisch völlig maroden Umgebung, die als Repräsentation des Spaniens unter Franco gelesen werden kann. Einmal mehr zieht der stets provozierende und niemals ein Blatt vor den Mund nehmende Regisseur den Zorn von Kirche und Politik auf sich, so dass Viridiana in Spanien für mehr als ein Jahrzehnt verboten wird. Künstlerisch wird sein Film zum grandiosen Erfolg, bei den Filmfestspielen von Cannes 1961 erhält er die Goldene Palme.
In den sechziger und siebziger Jahren pendelt Buñuel zwischen Spanien und Frankreich hin und her. Im hohen Alter stehend, befindet er sich auf dem kreativen Höhepunkt seiner Karriere, zeigt sich formal sehr experimentierfreudig, scheut inhaltlich vor keinem Tabu zurück. Belle de jour – Schöne des Tages (Belle de jour, 1966) markiert den Beginn seiner Spätphase und wird zu einem der kommerziell erfolgreichsten Werke des Regisseurs, wohl auch aufgrund der erotischen Szenen, in deren Zentrum eine engelsgleiche Catherine Deneuve mit einem teuflisch pervertierten, sexuellen Begehren zu sehen ist. Ein weiterer Höhepunkt von Buñuels Spätphase stellt die sozio-politische Satire Der diskrete Charme der Bourgeoisie (Le charme discret de la bourgeosie, 1972) dar, die ihre episodische, fragmentarische Erzählung um die Missgeschicke einer Gruppe Großbürgerlicher bis zur Absurdität treibt und für ihre abenteuerliche formale Radikalität mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film belohnt wurde. Schließlich beendet Buñuel seine einzigartige Karriere im Jahr 1977 mit Dieses obskure Objekt der Begierde (Cet obscur objet du désir), einem der größten Vermächtnisse der Kinogeschichte. Die tragische Amour Fou zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau stellt wohl eine der gelungensten filmischen Darstellungen über das Wesen des Begehrens dar. 1983 stirbt Buñuel an den Folgen einer Leberzirrhose.
Die Retrospektive der Berlinale bietet nun die Möglichkeit, nicht nur den großen Meisterwerken des spanischen Auteurs (wieder) zu begegnen, sondern sich darüber hinaus auch mit dessen weniger bekannten Arbeiten vertraut zu machen. Insbesondere die selten zu sehenden – und auch auf DVD nur teilweise erhältlichen – Filme seiner mexikanischen Phase sind lohnenswert für eine tiefergehende Beschäftigung mit Buñuel. Für Aficionados des Maestros besteht zudem die Gelegenheit, Einblicke in dessen Arbeiten als Regieassistent unter Jean Epstein, als Drehbuchautor in Hollywood und Mexiko, sowie als Produzent für die Filmófono zu erhalten. Ergänzend zum Filmprogramm findet eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen und Diskussionen statt, bei denen unter anderem Buñuels Sohn Juan Luis, sowie sein langjähriger Drehbuchautor Jean Claude Carrière anwesend sein werden.
Weiterführende Links:
Berlinale-Programm
Webseite der Retrospektive
Veranstaltungsprogramm der Retrospektive
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