Berlinale 2006: Perspektive Deutsches Kino

Ein Überblick zum Filmprogramm

 

Mit lebensfrohem, hoffnungsvollem Credo läutet der Spielfilm Esperanza von Zsolt Bács die Perspektive Deutsches Kino ein und Dietrich Brüggemanns Neun Szenen diese Berlinale-Reihe, die dem deutschen Nachwuchsfilm ein exklusives Forum bietet, wieder aus. Dazwischen wartet die Perspektive anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens mit nicht besonders vielen freudigen Themen und rosigen Bildern auf. Das Erfundene in den sechs Spielfilmen und vier Kurzspielfilmen sowie das Gefundene in den zwei Dokumentarfilmen der Reihe vermitteln stilistisch äußerst unterschiedliche, oftmals triste Stimmungsbilder und einen durchwachsenen Eindruck der jungen deutschen Filmproduktion.

Zunächst jedoch sticht im gleichnamigen Eröffnungsfilm Zsolt Bács’ abgehalfteter Ausflugsdampfer Esperanza am Sylvesterabend in See, an Bord eine Hand voll Passagiere, die alle aus unterschiedlichen Gründen die reguläre Fähre nach Kopenhagen verpasst haben. Gefangen im heruntergekommenen Schick des Schiffsbauches treibt die skurrile Schiffsbesatzung unbemerkt von den Fahrgästen ein abgekartetes Spiel und versucht im Verlauf der Überfahrt jedem sein wahres Ich zu entlocken. Filmtechnisch tadellos zelebriert der Schauspieler Zsolt Bács in seiner ersten Regiearbeit die detailverliebte Typenkomödie und hat dabei zum Glück keine Angst, den Film und sein erstklassiges Ensemble ins Groteske entfliehen zu lassen. Unter anderem Ben Becker als unsichtbarer Kapitän, Anna Thalbach, Mavie Hörbiger und Zsolt Bács selbst verkörpern die Ticks und Tricks der Figuren mit schauspielerischer Perfektion. Obgleich der inszenatorisch sehr gut umgesetzten Vision dieser ungewöhnlichen Schiffsreise, leidet der Film unter der Belanglosigkeit seiner Geschichte.

Ebenfalls wasserdicht erzählt und gefilmt präsentiert Florian Gaag sein Spielfilmdebüt Wholetrain, das im Münchner Graffiti-Milieu angesiedelt ist. Im Zentrum steht die Clique um David, die sich gegen die immer härter werdende Konkurrenz mit einem „wholetrain“, einem vollständig besprühten S-Bahn-Zug, durchsetzen will. Fern von der Romantisierung einer Subkultur erzählt der Film die eher traurige Geschichte einiger Jungs, die durch ihre illegal ausgeübte Kunst ins Straucheln geraten. Die Aggressivität der jungen Männer und ihre an Verzweiflung grenzende Graffiti-Sucht übersetzt Gaag mit einem sprayerähnlichen Gestus: Hektische Kameraführung, viele Großaufnahmen und schnell geschnittene Sequenzen untermalt von eigener Hip-Hop-Musik betonen die hyperaktive Nervosität der Protagonisten. Visuell interessant, glaubwürdig und spannend ist dieser Film weitaus mehr als ein deutscher Abklatsch von Wild Style (1982).

Nach dem realismusorientierten Wholetrain wendet sich das Programm der Perspektive mit dem nächsten Film nun vollends dem dokumentarischen Genre zu. Katharina Bullin – Und ich dachte ich wär’ die Größte versucht über das Einzelschicksal einer ehemaligen DDR-Volleyballnationalspielerin und Olympiamedaillengewinnerin einen Einblick in den Doping-Usus der DDR zu geben. Kommentarlos lässt Marcus Welsch Katharina Bullin ihren Leidensweg als häufig verletzte und unwissentlich gedopte Sportlerin rekonstruieren. Er begleitet sie in ihrem mühsam erkämpften Alltag und kontrastiert die Bilder der sichtlich vermännlichten und gesundheitlich geschädigten Frau mit im Rückblick zynisch wirkenden, fröhlich-naiven Archivmaterialien von Spartakiade, Fotos von Katharina Bullins aktiver Zeit bis hin zur Berichterstattung über die Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Katharina Bullin verweist so mit schlichten Mitteln auf den furchtbaren Kontrast zwischen den viel gefeierten „Diplomaten im Trainingsanzug“ und dem rücksichtslosen Umgang der DDR mit der Gesundheit ihrer Spitzensportler.

Einen großen Satz ins Fiktionale und Fantastische zurück macht der nächste Filmbeitrag Der die Tollkirsche ausgräbt, für den sich Franka Potente erstmals hinter die Kamera gewagt hat. In dem 40-minütigen Schwarzweiß-Stummfilm liegt das deutsche Kaiserreich in den letzten Zügen und Cecilie soll einen reichen Mann heiraten, um die Existenz ihrer Familie zu sichern. Aber ein Punk aus der Jetztzeit und ein magisches Ritual um einen Tollkirschenschössling bringen die Pläne der Eltern durcheinander. Auch dieser Film, der sich mit Überblendungen, Zwischentiteln und Irisblenden der Stummfilmzeit nicht nur auf der auditiven Ebene verschrieben hat, ist glänzend inszeniert. Potente gelingt es, den Stil des deutschen Kinos um die 20er Jahre herum meisterhaft zu imitieren und durch die Intrusion eines sprechenden Punks darüber hinaus das komische Potenzial einer solchen Ästhetik aufzudecken. Dennoch wirkt der Film mehr wie eine technische Fingerübung, als dass er wirklich etwas zu sagen hätte.

Einfallsreicher gestaltet sich da Christian Moris Müllers Vier Fenster, der in vier sich überlappenden Episoden jeweils ein Mitglied einer vierköpfigen Familie begleitet. Was im Off geschieht, wird erst in der nächsten Episode sichtbar und so fügt sich langsam ein Puzzle zusammen, das zunehmend die zerrüttete Seite der Familie offenbart. Vieles bleibt dabei nur zu erahnen, denn nichts wird tatsächlich erklärt. Vornehmlich fixe Kameraeinstellungen und die Beschränkung auf die Suggestion eröffnen im Abseits einen Raum für sexzentrierte Spekulationen, die den Mythos Familie als Trugbild entlarven. Nervig-gekünstelt wird es jedoch, wenn tatsächlich übers „Ficken“ geredet wird.

Den Auftakt des Kurzfilmprogramms der Perspektive gibt Nichts weiter als, in dem das gleichnamige Gedicht von Arne Rautenberg von den Regisseuren Lars Büchel, Friederike Jehn, Sebastian Stern, Jens Schillmöller und Lale Nalpantoglu in vier Episoden verfilmt wird. Jeder Filmemacher überträgt Rautenbergs Worte in höchst unterschiedliche, mehr oder weniger poetische Bilder. In dieser filmischen Interpretationenreihung zeigt sich vor allem die Vielfältigkeit der Wirkungen auf den Leser, die sich im Schillern von der vollkommen freien Übersetzung von Stern, die des Originaltextes nicht mehr bedarf, bis hin zur Rezitation des Gedichtes durch Fritzi Haberland in Büchels Version offenbart. Zwar scheint der Film wie aus einem Lyrikseminar entsprungen, aber der Ausflug in Rautenbergs Welt ist dennoch eine träumerisch-lohnenswerte Wanderung durch die Untiefen und Höhen des Gedichtes.

Eine künstliche, getragene Atmosphäre herrscht von Anfang bis Ende in Auszeit, einem Kurzfilm von Jules Hermann, der den Zuschauer wohl genauso unheimlich im Dunkeln stehen lassen soll wie Vier Fenster. In parallel montierten Flashbacks werden die Geschichte eines vermissten Mädchens und der One-Night-Stand des arbeitslosen Werbemanagers Wilms in Zusammenhang gebracht. Als Psycho-Krimi angelegt weiß Auszeit jedoch wegen seiner mediokren Schauspieler und ermüdend offensichtlichen Andeutungen nicht wirklich zu fesseln.

Mit einem Händchen für packende Bilder und überzeugende Schauspieler hingegen weiß Nikias Chryssos in Hochhaus gänzlich zu überzeugen. In Einstellungen, welche den üblen Zustand einer fast menschenleeren Plattenbausiedlung wie nicht von dieser Welt erscheinen lassen, schlägt sich der etwa zehnjährige elternlose Daniel unter den Fittichen seines repressiven Bruders Pablo durch den perspektivenlosen Alltag. Mit Helm und Nasa-T-Shirt hängt er seinen überirdischen Fantasien nach, die sogar den heroinabhängigen Nachbarn zum Westernhelden werden lassen. Filigran verwebt Chryssos die Ebenen von trostloser Wirklichkeit und der Flucht in den Traum zu einer Art Allegorie des sozialen Elends.

Sehr präsente Eltern und keineswegs materielle Nöte haben schließlich die Protagonisten in Dietrich Brüggemanns Erstling Neun Szenen. Nach dem Abitur werden sich die Wege von Rudi und Magdalena voraussichtlich trennen. Sowieso ist Magdalena mit Julian zusammen und ahnt nichts von Rudis Liebe. Vor diesem Kontext filmt Brüggemann in neun ausgeklügelten Plansequenzen mit viel Understatement und feiner Situationskomik Rudi und Magdalena im Konflikt mit der älteren Generation, bevor Rudi schließlich seine Liebeserklärung in zahlreichen Nachrichten auf Magdalenas Mailbox hinterlässt. Die präzise gefilmten, peinlichen Entgleisungen der Figuren, der Kontrast zwischen der Scheinheiligkeit der ach so toleranten Alt-68er-Eltern und der Rücksichtslosigkeit eines demagogischen Patriarchen, der stürmische Vorwärtsdrang der Jugendlichen und die Kulmination des Ganzen in einer urkomischen, unendlich langen Kamerafahrt sind diejenigen Zutaten, die Neun Szenen neben Hochhaus zum besten Film der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino werden lassen.

In Der Lebensversicherer scheint es, als habe Bülent Akinci das Extrakt aus Frank Perrys Klassiker The Swimmer (1968) in eine Zeitschlaufe gewoben. Die im Original so gradlinige Bewegung verläuft hier fast kreisförmig, nur dass es immer wieder Ausfahrten gibt. Autobahnausfahrten bestimmen das Leben des Versicherers Burkhard Wagner (Jens Harzer), der noch 54 Leben versichern möchte, um endlich heimzukehren. Er geht nicht von Tür zu Tür, sondern von Ausfahrt zu Ausfahrt, spricht mit Raststättenangestellten, Klomännern und LKW-Fahrern. So entsteht das Panorama einer eigenwilligen Welt, die jedoch schon längst aus den Fugen geraten ist. Leider fehlen diesem interessanten Konzept Stringenz und langer Atem, ganz abgesehen von dem übergroßen Schatten des Perry-Films. Der Lebensversicherer ist, und das ist im doppelten Sinne ganz wörtlich zu verstehen, ein kleines Fernsehspiel, also sicherlich kein weltbewegender Festivalbeitrag. Als Perspektive im deutschen Fernsehen und Kino aber auch nicht das Schlechteste.

Es sei noch gesagt, dass es leider nicht möglich war, zwei der insgesamt zwölf Filme vorab zu sehen. Deshalb können an dieser Stelle folgende Filme nicht besprochen werden: Markus Herlings Episodenfilm Schöner Leben, der am Heiligen Abend in Berlin spielt, sowie die Dokumentation Warum halb vier? von Lars Pape, der erörtert, warum jeden Samstag aufs Neue Fußball weltweit die Massen fasziniert.

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