Berlinale 2005: Forum auf Reisen

Das 35. Internationale Forum des Jungen Films ist nicht mehr vollkommen jung, aber blieb auch dieses Jahr seiner Tradition treu, Filme von jungen Filmemachern zu zeigen, die sich auf unkonventionelle Weise mit visuellen Mitteln und narrativen Techniken des Kinos auseinandersetzen und sich vom Mainstreamkino abheben. So vielfältig die Themen der Filme im Forum sind, so unterschiedlich sind auch ihre stilistischen Formen. critic.de hat sich aus dem umfangreichen Programm von insgesamt knapp 60 Filmen im Internationalen Forum eine Auswahl angesehen. Einige Höhepunkte, die sich alle auf eigene Weise mit dem Motiv der Reise beschäftigen, stellen wir Ihnen hier vor.

„Voyage Rock’n’Roll de Paris à Le Havre“, so der einzige Kommentar der Regisseurin Lucile Chaufour zu ihrem ersten Langspielfilm Violent Days, in dem sie dokumentarische Beobachtungen eines Rockabilly-Konzerts in Le Havre und Spielfilmszenen verbindet zu einem stilisierten Porträt der französischen Rockabilly-Szene. Zunächst zeigen im Stil der Nouvelle Vague gefilmte Spielfilmszenen, wie eine Gruppe von Freunden rasant auf der Autobahn zu einem Konzert fahren. Angekommen in Le Havre mischen sich die Schauspieler mit den echten Fans. Durch die Verwendung filmischer Mittel der 1960er werden die heutigen Fans und ihre Musik in eigentümlicher Weise aus der Gegenwart enthoben und die Zeitlosigkeit der Musik wird betont. Ein ästhetisches Experiment, das die Grenzen des Dokumentarischen auslotet.

Klassisch hingegen geht Durchfahrtsland mit dem Dokumentarischen um. Die nichtssagende Gegend, in der Alexandra Sell die Protagonisten für ihren Dokumentarfilm gefunden hat, liegt zwischen Köln und Bonn. Das sogenannte Vorgebirge ist eine zersiedelte, charakterlose Region, in der aber natürlich auch Menschen ihre Heimat gefunden haben: Ein zugezogener Pfarrer, der einen jahrhundertealten, traditionellen Streit zwischen den Dörfern zu schlichten sucht. Eine Krimiautorin, deren Romane im Vorgebierge spielen, deren Bücher aber ausgerechnet im Heimatdorf nicht gelesen werden. Das jüngste Mitglied eines Junggesellenvereins, der am liebsten Modedesigner in Mailand werden will und dann eine Lehre in Köln als Florist anfängt. Der Film wirft ein kurzes, freundliches Schlaglicht auf die deutsche Normalität in einer Gegend, in der man eigentlich nichts Erzählenswertes vorzufinden vermutet.

Auf den ersten Blick wirken Susanne und Matthias ebenfalls vollkommen normal. Doch ihre Vergangenheit ist es nicht. Sie kamen 1987 wegen einer gescheiterten Flucht aus der DDR 20-jährig ins Gefängnis. Zurückgeblieben war damals Susanne, die Freundin von Matthias. Aufgrund der Dreharbeiten zur Dokumentation Der irrationale Rest begegnen sich die drei nach 16 Jahren wieder. Die Protagonisten erinnern sich in individuellen Interviews gern und begehen die Schauplätze der Flucht und der Haftanstalt, doch zu einem Austausch und gemeinsamen Verarbeitung der Vergangenheit kommt es nicht. Als der an der HFF „Konrad Wolf“ studierende Regisseur Thorsten Trimpop am Ende seines Films die Protagonisten zusammenführt, scheint der Wunsch die Vergangenheit ruhen zu lassen und die Kluft zwischen ihnen zu groß.

Michale Boganin porträtiert in ihrer poetischen Dokumentation Odessa... Odessa! Juden aus der ehemals mondänen Hafenstadt Odessa, die in New York und Ashdod in Israel ein neues Zuhause gefunden haben, als ihre Heimat aber nach wie vor Odessa ansehen. Dort beginnt Boganin auch ihre Reise; sie findet eine kleine jüdische Gemeinde, deren Mitglieder zwar arm sind, die aber voller Witz und Lebensfreude der tristen Atmosphäre der Stadt trotzen. Die Mitglieder der Gemeinden in New York und Ashdod zeichen sich vor allem durch ihren nostalgischen Blick auf die ehemalige Heimat aus: Sie vermissen ein Odessa, das in seiner Schönheit nur in ihrer Phantasie existiert. Die Regisseurin folgt den jeweiligen Protagonisten, lässt ihnen die Zeit zu erzählen, sich zu erklären und findet sich ähnelnde Geschichten. Michale Boganin komponiert diesen Film wie ein Musikstück: drei Teile mit immer wiederkehrenden Themen von Exil und Heimatverlust, die sie zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt.

Mit der EU-Osterweiterung rücken entfernt geglaubte Nachbarn auf einmal näher, und das ohne es in einer Versuchsanordnung durchgeprobt zu haben. In dem österreichischen Spielfilm Crash Test Dummies von Jörg Kalt reist ein junges rumänisches Paar eine Woche vor der Osterweiterung nach Wien und geht verloren. Sie wollen ein gestohlenes Auto über die Grenze schmuggeln, doch der Job verzögert sich und sie müssen einige Tage in Wien verbringen. Durch Wirrungen in der Beziehung trennen sich ihre Wege: er trifft eine Angestellte eines Reisebüros, sie lernt einen Kaufhausdetektiv kennen, der seiner Ex-Freundin nachtrauert und mit einer apathischen, pillenschluckenden Mitbewohnerin zusammenwohnt. Die Kamera zeigt ein glanzloses Wien, mit tristen Einwohnern, das wie eine Stadt in Osteuropa wirkt. Der Film, der im Dunstkreis von Barbara Albert (Nordrand, 1999) entstanden ist, beweist einmal mehr, dass das junge Österreichische Kino gekonnt gesellschaftliche Problemthemen aufgreifen kann, ohne an Unterhaltungswert zu verlieren.

Um eine Flucht ganz anderer Art geht es in Jérôme Bonnells Les yeux clairs (Pale eyes). Fanny leidet an einer psychischen Störung: sie hört Stimmen in ihrem Kopf. Mit Mitte Dreißig wohnt sie gemeinsam mit ihrem Bruder und dessen Frau in ihrem Heimatdorf, wo man sie freundlich akzeptiert, sie aber nur als Kranke wahrnimmt. Jede Form ernsthafter Kommunikation wird ihr verweigert. Nach einem Streit verlässt sie den Bruder und fährt mit dem Auto nach Deutschland, wo sie einen Deutschen, Oskar (Lars Rudolph), kennen lernt, der so wenig Französisch spricht wie Fanny Deutsch. Trotzdem entwickelt sich zwischen ihnen eine Kommunikation, eine Verbundenheit, aus der Liebe entsteht. Bonnell nimmt sich zu Beginn des Films sehr viel Zeit für die Ausstellung seiner Hauptfigur, die Nathalie Boutefeu beeindruckend unprätentiös darstellt: Die Kamera, die lange auf Fannys Gesicht verharrt, kontrastiert mit den Stimmen, die ihren Kopf nicht zur Ruhe kommen lassen. Durch die Begegnung der Liebenden in einem einsamen Waldstück in Deutschland erhält der Film eine besondere Spannung, die durch die Blicke und die Beobachtung der zarten Annäherung der Körper der Protagonisten aufgebaut wird.

„Eine Frau, Jeong-hae“ heißt der koreanische Beitrag Yeoja, Jeong-hae (This charming girl) von Lee Yoon-ki übersetzt. Diese Jeong-hae ist Postangestellte, lebt, nach dem Tod ihre Mutter, ein zurückgezogenes Leben. Sie ist freundlich und beliebt bei Kollegen, pflegt aber privat kaum soziale Kontakte. Durch zufällige Begegnungen mit einem streunenden Kätzchen und ihrem Ex-Ehemann, sieht sie sich gezwungen, ihr perfekt eingerichtetes Leben zu hinterfragen. Mit minimalen Mitteln zeichnet Lee ein dichtes Porträt dieser Frau, die gespielt wird von der ehemaligen Fernsehschauspielerin Kim Ji-soo. Oft verbleibt die Kamera lange auf dem Gesicht der Schauspielerin, verzeichnet jede Gefühlsregung. Kims herausragendes Spiel trägt den Film, der mit sehr wenig Dialog auskommt: Erzählt wird ausschließlich über das Visuelle. So erfährt der Zuschauer durch Rückblenden von den Ereignissen, die zu Jeong-haes Rückzug geführt haben. Mag die Auflösung des Films auch etwas konventionell sein, dem schlichten Charme dieser einfachen Geschichte kann man sich nicht entziehen.

Nach dem Ausscheiden in 2001 des langjährigen Leiters des Forums, Ulrich Gregor, hat sich dieses Jahr unter der Leitung von Christoph Terhechte das Programm verjüngt. Es wurden deutlich weniger Filme gezeigt, aber mit knapp 60 immer noch genug, um eine breite Perspektive auf das junge Filmschaffen der ganzen Welt zu gewährleisten. Diese Verjüngungskur tat dem Forum gut, da so der gesamte Eindruck des Programms sich durch mehr ausgegorene Filmexperimente und ambitionierte Erstlingswerke auszeichnete als in der Vergangenheit.

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