Berlinale 2005: Der Osten erzählt die Geschichten

Ein Überblick zum Filmprogramm der Perspektive Deutsches Kino

 

Bereits zum vierten Mal präsentiert die Berlinale-Reihe Perspektive Deutsches Kino eine kleine Übersicht über die aktuelle Filmlandschaft in Deutschland. Wie in den letzten Jahren wird eine überschaubare Anzahl Filme geboten; diesmal sind es neun. Während jedoch im letzten Jahr gegenüber den sechs Spiel- und fünf Kurzspielfilmen lediglich zwei Dokumentarfilme liefen, geht es 2005 demokratischer zu: Neben zwei Kurzspielfilmen laufen drei Dokumentar- und drei Spielfilme; daneben findet sich mit Weltverbesserungsmaßnahmen ein Film, dessen Konzept am besten als „Doku-Fiktion“ zu bezeichnen ist.

Mit dem Eröffnungsfilm der PerspektiveDancing with myself (2005) – versucht man offenbar, an einen älteren Erfolg anzuknüpfen. Das Autorinnenpaar Judith Keil und Antje Kruska war bereits vor vier Jahren, in der ersten Ausgabe der Perspektive, Publikums- und Kritikerliebling mit ihrem (auch später nicht nur an der Kinokasse erfolgreichen) Film Der Glanz von Berlin (2001). Auch in Dancing with myself, entstanden im Auftrag von ZDF – Das kleine Fernsehspiel, begleiten die Autorinnen außergewöhnliche Menschen dreier Generationen durch Berlin: den Frührentner Reinhard (63), den Gelegenheitsarbeiter Mario (36) und die Schülerin Laurin (18). Gemeinsam ist ihnen, dass sie jeden Abend in den Clubs und Diskotheken der Stadt unterwegs sind, um im Tanzen ihre Sorgen und Probleme zu vergessen. Geschickt gelang es den Regisseurinnen, die Personen vor der Kamera aus sich selbst heraus reden zu lassen, oder sie wählten Ereignisse, die einem Interview gleichkommen (etwa ein Bewerbungsgespräch). Damit fehlt praktisch jede von außen eingreifende Instanz in das Geschehen und die drei Protagonisten, die sich nie im Film sehen, bleiben auch über sein Ende hinaus mit ihren Ängsten und Nöten letztlich allein.

Dieser pessimistische Grundton zeichnet Dancing with myself durchaus vor der Dokumentation Janine F. (2005) aus. Teresa Renn inszeniert in ihrem an der Filmakademie Baden-Württemberg entstandenen Film eine Spurensuche. 2002 nahm sich die damals 24-jährige Janine F. das Leben, als sie vom Dach des Berliner Künstlertreffs „Tacheles“ sprang. Renn befragt Freunde, Bekannte und Künstlerkollegen, die zwar freimütig über Janines Ernährung und Drogenkonsum, ihre Paranoia und Selbstgespräche, ihre Freundschaften und sexuellen Beziehungen Auskunft geben – viele reden aber auch nur von sich selbst. Der Regisseurin konnte es wohl auch nicht immer gelingen, eine stabile Vertrauensbasis zu den Interviewten aufzubauen: zu oft sieht man deren verstohlene Seitenblicke – wenn sie nicht gleich eine Sonnenbrille tragen. Fast effekthascherisch wirkt es, wenn an den Schluss der Dokumentation ein Videoband gesetzt wird, von dem während des Filmes selbst immer wieder geheimnisvoll gesprochen wird, weil es die letzte Filmaufnahme von Janine ist.

Diese Kunstgriffe sind Bettina Braun fremd. Ihr Film Was lebst du? (2002-2004) – auch er entstand im Auftrag von ZDF – Das kleine Fernsehspiel – lebt geradezu von der fast freundschaftlichen Beziehung der Regisseurin zu ihren vier Protagonisten Alban, Ali, Ertan und Kais. Braun hat die jungen Muslime zweieinhalb Jahre mit der Kamera begleitet und dabei ihr Leben in Köln, ihre gescheiterten oder erfolgreichen Versuche als Rapper und Schauspieler, ihre Gespräche über Gott, die Eltern und die Frauen gefilmt. Wie viel die Jugendlichen hier von sich preis geben, wie offen sie reden, wird besonders an den wenigen, allerprivatesten Ereignissen erkennbar, wenn sie auf die insistierenden Fragen der Regisseurin ehrlich sagen: „Mach die Kamera aus, ich erzähls dir.“

Ehrliche Glaubwürdigkeit ist nicht das Hauptmerkmal von Weltverbesserungsmaßnahmen (2005). Der als „Doku-Feature“ annoncierte Film von Jörn Hintzer und Jakob Hüfner ist ein Episodenfilm, der Glaubwürdigkeit geschickt vorspielt. Sieben erkennbar dokumentarisch angelegte Geschichten werden präsentiert, die aber nicht als „fertig“ oder „vollendet“ gelten können. Darauf verweist schon die Einblendung am Anfang des Filmes: „Schnittfassung: 20.01.2005, 6.30 Uhr“. Diese und weitere Spielereien – so werden zu Beginn jeder Geschichte historische Bilder gezeigt, die thematisch auf diese vorausweisen und in den Geschichten selbst wird jeweils ein anderer „Experte“ befragt, der aber immer vom gleichen Schauspieler dargestellt wird – verweisen auf das Vorbild der Filmemacher: Alexander Kluge mit seinen Fernsehmagazinen „Facts & Fakes“. Hier wie da sind die Geschichten sehr heterogen und reichen von phantasievoll über interessant bis zu albern. Man kann das mögen – oder auch nicht; allerdings muss gesagt werden, dass die 75-minütigen Weltverbesserungsmaßnahmen für den Zuschauer doch sehr lang werden...

Eine große Überraschung und eine herbe Enttäuschung bereiten die beiden Kurzfilme der diesjährigen Perspektive. Blackout (2005), der 30-minütige Kurzspielfilm des dffb-Studenten Maximilian Erlenwein, beginnt durchaus spannend: Der Gitarrist Tom (Fabian Hinrichs) kommt nach Berlin zurück – aber wohin er auch geht, ihm schlägt Verachtung, Hass oder gleich Prügel entgegen. Diesen Überraschungsmoment nutzt der Regisseur für eine recht konstruiert wirkende Dr. Jekyll-und-Mr. Hyde-Story, in der Tom durch Alkohol- und Drogenkonsum zu einem um sich schlagenden, gewalttätigen Egomanen wird. Erst am Ende erfährt er, der am nächsten Tag von seinen Taten nichts mehr wusste, davon und versucht nun – natürlich! – sein Leben zu ändern: Der Bus, mit dem er gerade wieder fliehen wollte, fährt ohne ihn.

Der andere Kurzfilm – Happy End von Sebastian Strasser – ist die große Überraschung. Diese 30 Minuten sind aussagekräftiger und inhaltsschwerer als so manch langer Film – und dabei mit Leichtigkeit, Humor und stillem Ernst erzählt, dass man staunend vor der Leinwand sitzt. Die Liebe eines kleinen, vom Zählen und von Zahlen besessenen Jungen (glänzend besetzt: Alexander Seidel) zu seiner Mitschülerin Lila ist die umfangreichste der vielen unvergesslichen Geschichten dieses Filmes. Strasser vermag, meist nur durch eine Einstellung oder durch die filmmusikalische Unterstreichung – der bei ihm wirkliche Bedeutung zuwächst –, eine ganze Palette an schwierigsten Themen anzusprechen. Matthias Schweighöfer – der kürzlich in Hendrik Hölzemanns Kammerflimmern (2005) brillierte – spielt die Rolle des herangewachsenen Jungen. Er spricht aber auch den gesamten Film über aus dem Off und erweckt so einen Text zum Leben, wie man ihn im deutschen Film nur selten hört.

Happy End vor Augen wird die gewollte Konstruktion von Florian Schwarz’ Katze im Sack (2005) noch deutlicher – der überraschenderweise bereits mehrfach ausgezeichnet wurde (z.B. beim diesjährigen Max-Ophüls-Festival). In einem Zug begegnen sich Karl (Christoph Bach) und Doris (Jule Böwe). Sie interessieren sich füreinander, inszenieren ein mehr oder weniger erotisches Spiel umeinander und ziehen sich gegenseitig genauso an, wie sie sich wieder abstoßen. Dennoch versteht man die Figuren nicht. Von Karl erfährt man nichts und von Doris wenig mehr, als dass sie in einer für sie unbefriedigenden Partnerschaft mit einem älteren Mann lebt. Der Film gefällt sich zu sehr in einer betont „schmutzigen“ Inszenierung, in der er auch eine ständige Nähe zu seinen Figuren vorgaukelt. Die Videoästhetik der Kamerabilder präsentiert fast ausschließlich deren Gesichter, lässt den Darstellern aber so zu wenig Spielraum. Für das „Außen“ scheint sich Katze im Sack ohnehin nicht zu interessieren: der Film spielt zwar in Leipzig, würde aber genauso in München, Karlsruhe oder Hamburg funktionieren.

Das lässt sich von den anderen beiden langen Spielfilmen nicht sagen. Auch diese sind „Ost-Filme“: Netto (2005) von Robert Thalheim spielt im Osten Berlins, Das Lächeln der Tiefseefische (2005) von Till Endemann auf Usedom, nahe der deutsch-polnischen Grenze – und in beiden ist der Bezug zum Osten nicht wegzudenken. Till Endemann erzählt die Geschichte des Jugendlichen Malte (Jacob Matschenz) in einem Urlaubsort an der Ostsee. Er lebt mit seinem Vater in einer heruntergekommenen Villa, die von der Stadt bald abgerissen werden wird. Für seinen Vater ist sie auch ein Symbol für Heimat, die er nun endgültig verlieren wird. Malte hat längst keine Heimat mehr; er will einfach nur weg aus dieser Stadt. Tristesse und Hoffnungslosigkeit versucht der Film mit großem Ernst zu vermitteln, dass dies dem jungen Regisseur nicht immer gelingt, mag zum Teil an der Schwere der Themen selbst liegen; andererseits wünschte man sich durchaus etwas mehr ästhetischen Mut.

Noch schwieriger hat es sich Robert Thalheim gemacht. Der Student an der Potsdamer HFF „Konrad Wolf“ inszenierte eine Komödie! Netto hat aber gar nichts mit comedy, Otto Waalkes oder Bully Herbig zu tun. Thalheim erzählt von Marcel Werner (Volksbühnen-Star Milan Peschel), einem arbeitslosen Ost-Berliner, der von der großen Karriere als Personenschützer träumt. Die einzigen, die ihm noch zuhören, sind die Angestellten einer Imbissbude – und denen erzählt Werner, wie man Kennedy viel effektiver hätte schützen können! Bis eines Tages sein Sohn Sebastian (Sebastian Butz) vor der Tür steht, der nun tatsächlich versucht seinem Vater die Flausen aus dem Kopf zu schlagen und ihn ganz realistisch auf sein (Wunsch-)Ziel vorzubereiten. Natürlich lässt sich diese Konstellation als Allegorie lesen: Der ehemalige DDR-Bürger, der eigentlich alles besser weiß und kann, wird von einem, der die DDR gar nicht mehr erleben konnte und in der BRD, aber eben auch in dem „DDR-Haushalt“ des Vaters aufwuchs, über den tatsächlichen Stand der Dinge informiert und – erzogen. Thalheim gelingt es aber, dies alles herrlich unverkrampft und unglaublich amüsant zu inszenieren. Dabei – und das ist vielleicht das Interessanteste an Netto – zeigt er typische Verhaltensmuster auf und demonstriert, wie DDR-Kultur nicht zwingend nostalgischen Charakter zeitigen muss, wie das in „DDR-Filmen“ fast immer der Fall ist. Er präsentiert sie als festen Bestandteil der Menschen, die in diesem Staat aufwuchsen und mit und in ihm lebten – die Musik von Peter Tschernig (ein in der DDR weltberühmter Country-Sänger) wird dafür zum einfachen, aber schlagenden Symbol.

Vorführungen während der Berlinale:

Dancing With Myself
Fr, 11.02. 21:00 CinemaxX 3
Sa, 12.02. 13:30 Colosseum 1
Sa, 12.02. 20:00 CinemaxX 1

Janine F.
Fr, 18.02. 21:00 CinemaxX 3
Sa, 19.02. 13:30 Colosseum 1
Sa, 19.02. 20:00 CinemaxX 1

Was lebst du?
Di, 15.02. 21:00 CinemaxX 3
Mi, 16.02. 13:30 Colosseum 1
Mi, 16.02. 20:00 CinemaxX 1

Weltverbesserungsmaßnahmen
So, 13.02. 21:00 CinemaxX 3
Mo, 14.02. 13:30 Colosseum 1
Mo, 14.02. 20:00 CinemaxX 1

Happy End; Blackout
Mo, 14.02. 21:00 CinemaxX 3
Di, 15.02. 13:30 Colosseum 1
Di, 15.02. 20:00 CinemaxX 1

Katze im Sack
Mi, 16.02. 21:00 CinemaxX 3
Do, 17.02. 13:30 Colosseum 1
Do, 17.02. 20:00 CinemaxX 1

Das Lächeln der Tiefseefische
Do, 17.02. 21:00 CinemaxX 3
Fr, 18.02. 13:30 Colosseum 1
Fr, 18.02. 20:00 CinemaxX 1

Netto
Sa, 12.02. 21:00 CinemaxX 3
So, 13.02. 13:30 Colosseum 1
So, 13.02. 20:00 CinemaxX 1

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