Beglückender Budenzauber - Terza Visione 2023

Ewige Liebe, angemalte Monster und die erotischste Schleichwerbung der Filmgeschichte: Auf dem Festival des italienischen Genrekinos gab es neben Gothic-Horror, Erotikthriller und Godzilla-Ripoff auch ein opulentes Märchen aus Mussolini-Zeiten zu sehen.

Der Horror eines jeden Filmfestivalteams: Bei der finalen Filmkopienkontrolle stellt sich heraus, dass gleich zwei der geplanten Vorführungen von 35mm-Kopien aus ausländischen Archiven zeitnah umdisponiert werden müssen, da sie, entgegen anders lautender Ankündigung, stark rotstichig oder aber mit obskur beschnittenem Bildfeld zum Spielort geliefert wurden. Doch anstatt zähneknirschend auf Digitalisate der angekündigten Filme zurückzugreifen, werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, dem Publikum kurzfristig ein Alternativprogramm zu bieten, bei dem gut erhaltene Analogkopien anderer Filme, die man eh einmal zeigen wollte, zur Aufführung kommen.

Das ist nur eins von vielen möglichen Beispielen für das Engagement und die Leidenschaft, mit der die Kuratoren des Terza Visione – Festival des italienischen Genrefilms dieses Jahr wieder ans Werk gingen, immer im Dienste einer historisch authentischen Aufführ- und Kulturpraxis des analog projizierten Films.

Schlager und Schocker

Das gänzlich mit Analogfilmkopien bestrittene Festivalprogramm fand im Kinosaal des Deutschen Filminstituts und Filmmuseum (DIF) in Frankfurt am Main statt. Bei seiner nunmehr neunten Ausgabe präsentierte das Terza Visione vom 20. bis 24. Juli wieder einen bunten Strauß an Genrefilmen – und lieh sie dafür aus 16 Archiven aus. Neben italienischen „Kernkompetenzen“ wie libidinösem Gothic-Horrorfilm, nihilistischem Italowestern, Anti-Mafia-Krimi mit reformistischen Botschaften, stilsicherem Erotikthriller und Giallo (inklusive J&B-Flasche!) sah man auch heute wenig gezeigte Genres wie die italienische Spielart des Schlagerfilms (Musicarello) oder ein opulentes Märchen aus Mussolinis Zeiten.

Besonders aufregend an der Auswahl war wieder einmal, dass sie keine Unterscheidung zwischen vermeintlicher Hoch- und Trivialkultur macht. Bürgerliche Psychogramme (wie Metti, una sera a cena, 1969, oder Un amore, 1965) stehen neben ehemals beschlagnahmten „Schockern“ (Buio Omega, 1979), am eigenen Größenwahn gescheitertem Mainstreamkino (Stridulum, 1979), aber auch neben apokryph sleazigen Ausgrabungen wie etwa Eva man – Due sessi in uno (1980) mit Eva Robin’s und Ajita Wilson, bekannte trans Erotikdarstellerinnen der Zeit. Die Bourgeoise darf beim Terza Visione ebenso ihre Probleme ausbreiten wie blinde gunslinger und sadistische Schönlinge.

Bereits zum zweiten Mal schloss das Festival sein italienisches Kernprogramm am letzten Festivaltag mit einer Auswahl selten gezeigter Genrefilme aus aller Welt ab. So gab es mit Jean Rollins von Acid-Rock durchsetztem Counterculture-Vampirfilm Le Frisson des Vampires (1971) schlafwandlerischen Grusel aus Frankreich. Václav Vorlíček, Regisseur des Weihnachtsklassikers Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1973), trieb in der tschechoslowakischen Komödie Wie wäre es mit Spinat? (1977) die Absurdität von Minute zu Minute zu immer neuen Höhen, bis man sich schließlich an den irren Slapstick zeitgleicher Mainstreamkomödien aus Italien erinnert fühlte. Und dann gab es mit H. Tjut Djalils Lady Terminator (1989) auch noch maximalkinetisches Actionkino aus Indonesien, das wiederum wie seine italienischen Pendants wach für die neuesten Kinotrends und schamlos beim Klauen war (neben der eigenen Folklore bedient er sich ausgiebig bei James Camerons Terminator, 1984).

Godzilla (Luigi Cozzi, 1977)

Auch der vierte Film des „internationalen Tages“ nutzte die Filmgeschichte als Steinbruch, vor allem bedient er sich bei Ishirō Hondas Monsterfilm-Klassiker gleichen Namens, Godzilla (1954). Und zwar nicht als ein Rip-Off, sondern als Remix, also in Form eines Neuarrangierens und Umdichtens des Referenzfilms (und einiger weniger Szenen anderer Monster- und Actionfilme wie The Train, 1964). Das collagierte Resultat ist mitunter bemerkenswert, oft extrem merkwürdig. Was die Macher als clevere Hommage an das handlungsarme, dafür mehr auf Schauwert setzende Spektakelkinos früherer Zeiten empfanden, ist heute der bildgewordene Beweis eines dämlichen Einfalls.

Das Konzept von „Cozzilla“ (so vermarktete man Luigi Cozzis Film auch) ist nämlich weit abenteuerlicher als die Filmhandlung selbst: Man wollte kommerziell auf der Monsterfilmwelle mitschwimmen, zugleich der grassierenden Angst vor einer Eskalation des Kalten Kriegs damit Tribut zollen, dass dokumentarische Inserts den verheerenden Atombombenabwurf auf Hiroshima illustrieren (den Hondas Godzilla ja symbolisch verarbeitete). Da die Wiederaufführung eines Schwarzweißklassikers – auch umgeschnitten, erweitert und in Italienisch „neuinterpretiert“ – keine Einnahmen versprach, wurden die Filmbilder des Originals kurzerhand eingefärbt: grobschlächtige, unterschiedlich farbige Bildstreifen, die keine Rücksicht auf Körpergrenzen und ähnliches nehmen. In den Szenen, in denen Godzilla durch die Städte wütet, kommt dieses Verfahren tatsächlich einmal zu sich. Die eh unübersichtlichen Bildstrukturen schwappen durch die Farben wie aus dem Rahmen heraus. So bin ich doch noch, nach all den komischen Dialogszenen und haarsträubend eingefügten reaction shots, am Ende versöhnt, fast beglückt.

Die eiserne Krone (La corona di ferro, Alessandro Blasetti, 1941)

Dass La corona di ferro von der ersten bis zur letzten Sekunde ein derart visuelles und spielfreudiges Spektakel werden würde, haben wohl nur die wenigsten im Saal erwartet. Ein mitten im Mussolini-Faschismus produzierter Fantasyfilm samt Ritter, Tyrannen, einer legendenumwobenen Krone und ungeklärter Thronfolgen hätte auch eine harte Nuss werden können. Inszeniert hat ihn der hierzulande wenig bekannte, für die italienische Filmgeschichte aber prägende Alessandro Blasetti – seine ein Jahr später unter der Mitarbeit von Cesare Zavattini entstandene Komödie 4 passsi fra le nuvole (1942) gilt als proto-neorealistisch.

Der Wirklichkeit zugewandt ist in La Corona di Ferro nichts, ein purer Budenzauber. So wie die zugegeben nicht immer geschmeidig erzählte Handlung vor Märchen- und (nicht nur italienischen) Mythologie-Bezügen aus allen Nähten platzt, so ausufernd ist auch die Kinematografie und Mise-en-scène des Films. Funkelnde Rüstungen, glitzernde Seeoberflächen, tricktechnische Parcours sowie erstaunlich rustikale, in harten Schwarzweißkontrasten und dynamisierten Perspektiven bebilderte Schlachtenszenen. Schließlich Figuren, die immer ein wenig drüber spielen, mehr für ein Theater- als für das Filmpublikum zu gestikulieren scheinen.

Das fühlt sich an wie ein verfrühter Excalibur (John Boorman, 1981). Hier wie dort ist in jeder Einstellung der unbedingte Wille zu spüren, das Bildfeld bis zum Rand mit Dekor und Requisite aufzufüllen. Detailversessenheit bestimmt jedes Bild; was darin erzählt wird, rückt oft in den Hintergrund. Man könnte sogar sagen: Die Abfolge barocker Tableaus läuft quer zur Story, die Orientierung geht verloren. So hatte ich zumindest den Eindruck – oder war es meine Nachmittagsmüdigkeit? Als offen oder chiffriert faschistisch hat Die eiserne Krone übrigens niemand, mit dem ich im Anschluss sprach, empfunden.

Bizarre (Profumo, Giuliana Gamba, 1987)

In einer der Spätschienen des Terza-Visione-Programms gab es mit Profumo den obligatorischen (und heiß erwarteten) Erotikfilm, damals ein lukrativer Markt und zugleich ein Experimentierfeld für Neulinge in der Filmindustrie. So auch hier: Giuliana Gamba führte Regie, nun erstmalig im Bereich softer Erotik, zuvor drehte sie unter dem Pseudonym Therese Dunn Hardcorestreifen, zwei für Joe D’Amato, der ihr seine Pornoproduktionen als erste Frau auf dem Regiestuhl anvertraute. Sie sollte die Ausnahme bleiben.

Der Einstieg in die Welt von Profumo ist maximal drastisch, jedoch wie der Rest des Films in ruhenden, stets aufgeräumt wirkenden Bildern inszeniert: Ein Schlafzimmer, eine leicht bekleidete junge Frau (Florence Guérin), dazu ein Mann (Luciano Bartoli), Maklertyp. Nach einvernehmlichen Berührungen – ein Freier? – zerrt er ihr das Höschen herunter und führt seinen Revolver in ihre Vagina ein, drückt ab, doch der Lauf ist leer. Ein pervertiertes russisches Roulette. Die Szene entpuppt sich als sadomasochistisches (vielleicht auch nur einseitig sadistisches) Rollenspiel eines Paares. Laurie trennt sich kurz darauf endgültig von ihrem Mann, doch sie wird ihn nicht los. Er lässt sie kein neues Leben beginnen, setzt ihr psychisch wie physisch zu. Wenn er ihr wieder und wieder auflauert, ist zunächst nicht ganz klar, ob es nicht noch zum Spiel gehört. Immer mehr setzt sich aber der Eindruck durch: Es ist todernst.

Statt diesen Thrillerplot gradlinig runterzuerzählen, schlägt Gambas Film ständig andere Richtungen ein. Beat-unterlegter Gender Swap, Zärtlichkeiten zwischen Laurie und ihrem androgynen neuen Liebhaber, schließlich die von den beiden performte, vielleicht erotischste Schleichwerbung der Filmschichte: Nackte, sich mit Cola vollsauende Körper im Sommerferienflair – wie bei Éric Rohmer.

Sado – Stoß das Tor zur Hölle auf (Buio Omega, Joe D’Amato, 1979)

Es hat beim Terza Visione Tradition, nicht nur Unbekanntes gemeinsam zu entdecken, sondern auch immer mal wieder den Kanon des Italo-Genrekinos in bestmöglich überlieferten 35mm-Filmkopien auf die Leinwand zu bringen. Joe D’Amatos Buio Omega ist so ein Klassiker, ein berüchtigter mit langer Zensurgeschichte, der wohl gar nicht mehr in gänzlich ungeschnittener Fassung analog greifbar ist. Wie bei anderen sogenannten Skandalfilmen – Jörg Buttgereits Nekromantik (1987) wäre noch so ein (zumal thematische Parallelen aufweisendes) Beispiel –, sorgt hier dieses Label dafür, dass die übliche Wahrnehmung des Films von seinen zweifelslos ruppigen Gore-Einlagen und eben nicht von den ebenso offensichtlichen restlichen Qualitäten bestimmt ist.

Denn Buio Omega ist im Kern ein inbrünstiger Liebesfilm: Über die sommerliche Idylle Südtiroler Alpen legt sich die Finsternis, wie es bereits das „buio“ im Filmtitel andeutet. Frank (Kieran Canter), ein Schönling mit blondem Haar und stilsicheren Poloshirts, verliert seine große Liebe Anna (Cinzia Monreale). Sie fällt einem Voodoo-Zauber zum Opfer, den die eifersüchtige Haushälterin Franks (Franca Stoppi) in Auftrag gab. Der Tierpräparator akzeptiert sein Schicksal nicht, glaubt an die ewige Liebe und gräbt seine Verlobte wieder aus. Seiner Profession entsprechend, bereitet er sie auf, drapiert sie auf dem geräumigen Bett seiner ebenfalls verstorbenen Mutter. Nun liegt sie da wie Schneewittchen. Um Nekrophilie geht’s dabei nicht, vielmehr muss Frank morden und morden, um die Zweisamkeit mit Anna – sie ist bloß geistiger Natur – zu verteidigen. Diese Welt ist sonderbar wie ein Traum. Es gibt kein Außen mehr; man riecht förmlich die stickige Luft des holzvertäfelten Hauses.

Atmosphärisch ist Dario Argentos Bram-Stoker-Variation Dracula 3D (2012), der an einem Vormittag zusätzlich zum Festivalprogramm lief, der hermetischen Romantik von Buio Omega am nächsten. Das war schon auch ein Highlight: Rutgers Hauers van Helsing und Luciano Tovolis Herbstwaldbilder in 3D-DCP mit zig Leuten im Kinosaal. Plötzlich sieht das leider oft verlachte Spätwerk so gut aus, wie man es zuhause nur erahnen konnte. Das DIF hat Argento den gesamten Juli über eine Hommage gewidmet, und das ebenfalls ohne Rücksicht auf high/low. Sein legendäres Werk der 1970er und 80er Jahre wurde selbstverständlich mit Werken zusammengebracht, bei denen selbst die Fans Vorbehalte haben. Und der Meister war im Rahmen der Hommage und als Auftakt zum Terza Visione zu Gesprächen da. Das habe ich leider verpasst.

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