Auspeitschungen, Totgeburten, Lustversagen – Notizen aus Venedig (4)

Olivier Assayas gibt den Putin-Erklärer, Mark Jenkins meditiert (vielleicht) über schwules Verlangen, Mona Fastvold packt die ganz großen Kaliber aus – und könnte Venedig am Ende des Festivals mit dem Hauptpreis verlassen.

In den übervollen Vorführungen in Venedig wird mittlerweile nonstop geschnieft, gehustet und geschnäuzt. In den Rush Lines für die Akkreditierten, die keine regulären Tickets bekommen konnten, spielen sich Dramen und Diskussionen mit dem Einlass ab. Daher ist es eine Wohltat, den Tag mit einem gerade einmal halbvollen Screening zu beginnen, einsam in der ersten Reihe, links und rechts keine Menschenseele in Sicht. Leider wird auch schnell klar, warum dies so ist.

Roqia (Critics’ Week) ist ein wirrer Elevated Horror-Versuch aus Algerien über Besessenheit und Exorzismus, der beides überdeutlich als Metapher auf nicht näher ausgeführte geopolitische Konflikte festschreibt. Das Ganze ist allerdings so umständlich und spannungslos erzählt und sieht dazu noch so scheußlich aus, dass die Freude über die angenehme Sitzsituation im Kino nur kurz währen konnte.

Olivier Assayas setzt mit der Bestsellerverfilmung The Wizard of Kremlin (Wettbewerb) zur großen Russlanderzählung an und macht den Putin-Erklärer. Dabei steht weniger der von Jude Law porträtierte Despot im Fokus als der von Paul Dano gespielte Berater des Präsidenten. Ganz klassisch (und ziemlich umständlich) in Rückblenden erzählt, entfaltet der Film ein Gesellschaftspanorama vom Zusammenbruch der Sowjetunion bis zu den Anfängen des Ukrainekonflikts. Das schaut sich zwar trotz der stolzen Laufzeit und Endlosdialogen relativ locker weg, alleine: Es fehlen die zündenden Ideen, der Film wirkt wie eine Fleißarbeit für die Schule und das Drehbuch bietet neben einigen fein ziselierten Pointen jede Menge Binsenweisheiten. Alleine Alicia Vikander, eine hervorragende Schauspielerin mit Hang zur besonders unglücklichen Projektauswahl, bleibt nachhaltig in Erinnerung.

Rose of Nevada (Orizzonti) von Mark Jenkins entführt uns auf ein Geisterschiff in Cornwall, auf dem George McKay in einer Art Timeloop steckt. Wie der Vorgänger des Regisseurs, Enys Men, der vor einigen Jahren Premiere in der Quinzaine in Cannes feierte, ist dieser neuerliche rural gothic von hohem ästhetischem Wiedererkennungswert, visuell in perfekten 16mm-Bildern eingefangen und punktet mit tollem Sound-Design. Darüber hinaus bietet er weder auf emotionaler noch auf der Ebene des Plots oder der Charakterentwicklung irgendetwas, woran man sich festhalten könnte. Ich glaubte, darin eine Meditation über unerfülltes schwules Verlangen zu entdecken. Cinephile könnten mit dem Film wahrscheinlich gut leben, der Gelegenheits-Kinogänger dürfte eher wie meine Begleitung reagieren, Zitat: “Habe nix verstanden. So Philadelphia Experiment oder so. Time Loop und Fischerei Gaga.”

Brady Corbet reüssierte im vergangenen Jahr mit The Brutalist in Venedig, seine Frau Mona Fastvold will es ihm in diesem Jahr mit The Testament of Ann Lee (Wettbewerb) gleichtun und Spoiler: Sie hat den besseren Film im Gepäck. Es ist die Lebensgeschichte der Gründerin der Shaker-Freikirche und um dieser gerecht zu werden, packt Fastvold die ganz großen Kaliber aus: 70mm-Filmmaterial, Musical-Einlagen, eine verstrahlte Amanda Seyfried, Chris Abbott als untervögelten Hausmann, an klassischer Malerei orientierte Kameraarbeit, Auspeitschungen, Totgeburten, Lustversagen. Das ergibt einen oft maximal prätentiösen Film, der einige garantiert hirnverbrannte Diskurse verantworten wird. Aber auch ein Stück lebendiges, pulsierendes, formvollendetes Kino, das Intellekt und Emotion gleichermaßen anspricht. Ich dachte nach dem Screening kurz, ich hätte den Siegerfilm gesehen. Applaus im Auditorium danach eher unentschlossen und mein Kollege meinte, um ihn herum hätten sich mehrere über das “Gesinge” mokiert. Wahrscheinlich bekommen wir als Gesellschaft dann doch die Filme, die wir verdienen. Ich denke dennoch, dass Ann Lee Chancen auf den Hauptpreis am Samstag hat. 

To be continued…

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