Augenbrauenakrobatik: Rotterdam Film Festival 2022
In unserem Sehtagebuch geht es um Männer, die losziehen, um fröhlich zu sterben, um Frauen, die nach Heilung suchen, und um traditionelle indische Erzählkunst als expressives Filmerlebnis.
The Cloud Messenger (Regie: Rahat Mahajan)

In einem militärisch geführten Internat verliebt sich JV (Ritvik Tyagi) in die neue Schülerin Tarini (Ahalya Shetty). In ihrer Liebe wiederholt sich eine mythische Geschichte, in der zwei gleichnamige Widerparts der beiden von JVs Bruder Dashananan (Peesappilly Rajeevan), einem König, entzweit wurden, woraufhin Tarini Selbstmord beging. Nur gibt es in der Gegenwart keinen Bruder, sondern nur den Geist Dashananans, der Tarini in Visionen zu verfolgen beginnt. Und Schulrebell JV bricht dieses Mal ins Totenreich auf, um den Fluch zu brechen.
Dabei trifft traditionelle indische Erzählkunst auf einen modernen Film, der sich für seine Geschichte zwar Zeit lässt, aber seine Möglichkeiten auch vielfältig nutzt, um seine zweieinhalb Stunden zum Erlebnis zu machen. Dashananan und die Erzählerin (Kapila Venu) tragen dementsprechend expressive, traditionelle Kostüme und drücken sich in nicht minder expressiver Mimik und Gestik, in Gesang und Tanz aus. Vor allem ihre Augenbrauenakrobatik ist atemberaubend. Der dagegen naturalistische Look des Internats wird durch den ausdrucksstarken Schnitt auf eine ebenso sinnliche Ebene gehoben. So funktionieren selbst Dialoge teilweise als Montagen, in denen nur die Worte kohärent sind, während Zeit und Raum sich ständig verschieben.
Besonders wird The Cloud Messenger (Meghdoot) vor allem, wenn er für ungefähr ein Drittel seiner Spielzeit von der Perspektive JVs zu Tarinis wechselt. Liebe bedeutet dann plötzlich nicht mehr Eroberung und Rettung, sondern Bedrohung und Stalking – ohne dass sich die Bilder und das Geschehen änderten. Der vorm Fenster stehende, starrende JV ist nun ebenso beunruhigend wie Dashananan. Und wenn Tarini seine Zuneigung nicht freudig empfängt, dann ist es auch JV, der sie bestraft. Neben seiner konventionellen Geschichte steckt in The Cloud Messenger in dieser Perspektivverschiebung auch ein äußerst ambivalenter Film über die Nähe von Liebe und Horror.
Korean Ghost Stories – Ieodo (Jeonseorui Gohyang – Ieodo, Regie: Choi Sangsik)

Teil des diesjährigen Festivalprogramms in Rotterdam ist eine Doku über die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen im koreanischen Fernsehen der 1980er Jahre. Als Begleitmaterial findet sich dazu dieser siebzigminütige Teil einer populären TV-Reihe zu Legenden und Übernatürlichem. Aber nicht als abschreckendes Beispiel wurde Korean Ghost Stories – Ieodo (Jeonseorui Gohyang – Ieodo) ausgewählt, sondern deshalb, weil Doku-Regisseurin Jeong Jae-eun ihn als Highlight empfahl. Die Männer des Films sind denn auch weniger Gewalttäter als verantwortungslose Nichtsnutze und schmierige Pantoffelhelden, die ihre Frauen gnadenlos ausnutzen.
In einer Gegend im historischen Korea, wo Frauen traditionell nicht nur am Herd arbeiten, sondern auch sonst alles erledigen, träumen die müßigen Männer von Ieodo. Einer Insel, auf der lediglich Frauen leben und wo Männer, die den Weg dorthin finden, durch Snu-Snu sterben. Etwas unbeholfen wirkende Zooms sind die einzigen Extravaganzen einer sonst sachlich wiedergegebenen Geschichte von Männern, die losziehen, um fröhlich zu sterben. Wenn es aber um eine der Frauen dieser nie erwachsen Gewordenen geht, die zu Hause bleibt, verzweifelt und schließlich selbst auf der Insel landet, dann ist Ieodo ein wilder Fiebertraum. Höhepunkt dieser wiederkehrenden optischen Überschwänglichkeit ist ein Ritual, bei dem diese Frau von den Bewohnerinnen Ieodos gezwungen wird, sich mit dem Wind fortzupflanzen. Und das ist wahrlich die größte Brutalität: wie ausdrucksstark der Film wird, wenn es darum geht zu zeigen, wie auf die Frau selbst in einem Land der Legenden keine Erlösung wartet.
The Lady from Constantinople (Regie: Judit Elek)

Eine ältere Frau (Manyi Kiss) ist entweder allein in ihrer Zweiraumwohnung oder sucht den Anschluss an andere Leute. Die Wohnung ist mit Nippes vollgestellt, den ihr Vater, ein Kapitän, aus aller Welt mitgebracht hat. In ausdrucksstarker Stille zieht sich die Zeit, wenn sie hier mit ihren Erinnerungen alleine ist. Unter Menschen herrscht im krassen Gegensatz ein Ton aggressiver Besserwisserei. In Wortkaskaden lassen Nachbarn, Dozenten und Fremde ihre Meinung auf die schüchterne, nach Kontakt hungernde Frau los. Am liebsten möchte sie auch erzählen. Davon, wo sie schon war und was sie erlebt hat, als sie noch jung war. Interessieren tut es niemanden.
„Jeder Mensch will gleichzeitig teilnehmen und gleichzeitig in Ruhe gelassen sein. Und da das eigentlich nicht möglich ist, beides, ist man immer in einem Konflikt.“ (Thomas Bernhard)
Zwischen ohrenbetäubender Stille und empathielosem Lärm, zwischen Einsamkeit und Überdruss an sozialen Situationen schwingt The Lady from Constantinople (Sziget a Szárazföldön) hin und her und erzählt damit melancholisch von der unlösbaren Wahl zwischen Pest und Cholera. Die simple Struktur des Films ist schnell durchschaut, wirkungsvoll ist sie nichtsdestotrotz. Vor allem wenn sich in der Wohnung der Frau eine spontane, riesige Party entspinnt, auf der ihre sichtliche Freude mit einem Schlag in Qual umschlägt.
They Carry Death (Regie: Helena Girón, Samuel M. Delgado)

Hier drei Entflohene, die sich von einem Schiff abgesetzt haben, das ins Ungewisse aufgebrochen ist. Mit einem Segel und einer mysteriösen Tasche im Gepäck fliehen sie auf einer kanarischen Insel vor ihren Verfolgern. Dort eine Frau (Nuria Lestegás) in Galicien, die mit dem Körper ihre Schwester, die aus Liebeskummer über eine Klippe sprang, zu einer Heilerin unterwegs ist. Hier Destruktion, dort Suche nach Heilung. Hier Flucht, dort Reise auf ein Ziel zu.
Einer der Entflohenen ist der Grund für den Liebeskummer, ansonsten überschneiden sich die beiden Stränge nicht. Sie stehen erratisch nebeneinander. Lediglich die unwirtliche, steinige Landschaft und die Bewegung verbinden sie. Sprich: das Karge der Erzählung, in der es nur wenig Sinnstiftung und grundsätzliche Erklärungen gibt.
Am schönsten ist They Carry Death (Eles transportan a morte), wenn er seine Figuren verfolgt und die Landschaft zur existenziellen Bühne macht. Wenn die Bilder das Dokumentarische abwerfen und dem Simplen des Geschehens etwas Bedrohliches und Mythisches verleihen. Am hölzernsten ist der Film von den Langfilmdebütanten Girón und Delgado, wenn er doch noch mit Sinn um die Ecke kommt. Wenn es dann nicht mehr nur um männliche und weibliche Prinzipien zu gehen scheint, sondern auch noch Christoph Kolumbus der Kapitän der Schiffe ist und die Bedeutungsschwere mehr angehängt als organisch wirkt.
Barbarian Invasion (Regie: Chui Mui Tan)

Schauspielerin Moon (Regisseurin Chui Mui Tan) hat das Gefühl für ihr Selbst verloren. Ist sie Filmstar oder Mutter? Liebt sie ihren Exmann, oder hasst sie ihn? Ist sie stark oder schwach? Steckt ihr Geist in einem Körper fest, oder ist es vielmehr ihr Körper, der von ihrem Geist eingekerkert ist? Das sind die Fragen, über die sie meditiert, während sie für ihr Comeback Kung-Fu trainiert.
Der ruhige, beobachtende Film schlägt irgendwann in einen Thriller um, der sich hemmungslos bei Die Bourne Identität (The Bourne Identity, 2002) bedient. Was Barbarian Invasion ab diesem Zeitpunkt für ein Film ist, wird so zweifelbehaftet wie das Selbst von Moon. The Matrix-Anspielungen und Meta-Botschaften auf T-Shirts machen aber auch deutlich, dass die Selbstsuche von Moon und ihrem Film nicht gänzlich ernst bleibt. Der Spaß wird nur dadurch ein wenig getrübt, dass in den Thriller-Teil etwas mehr Mühe hätte investiert werden können – bei aller Liebe zu seinen ironischen Unzulänglichkeiten.
EAMI (Regie: Paz Encina)

„If they kill us, best if they kill us all, so no one is left to regret it.“ Das postkoloniale Festivalkino von EAMI hätte durchaus angriffslustig und unversöhnlich wirken können. Erzählt wird von indigener Bevölkerung, die vertrieben wird und ihre Identität verliert. Die Bilder, die zwischen Postkartenkitsch und fragmentierter Beliebigkeit schwanken, und der Off-Kommentar, dessen esoterische „Poetik“ auch mal danach fragt, wer einem Vogelliebhaber etwas Böses wollen könne, schaffen es aber nicht, der simplen Gegenüberstellung von Natur und (westlicher) Zivilisation etwas Tiefe zu geben.
Kommentare zu „Augenbrauenakrobatik: Rotterdam Film Festival 2022“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.