Animal medial, oder warum die Berlinale eine weitere Sektion braucht
Egal, wie jemand riecht, solange er acht Euro zahlt, stimmt doch? 250.000 Zuschauer braucht ein Film, um förderwürdig zu sein. In unserer ersten Berlinale-Kolumne macht Olga Baruk einen konstruktiven Vorschlag, wie diese Zahl zu erreichen ist.

Die Frage nach dem Publikum ist nicht von mir gestellt worden, sondern von Instanzen und Anstalten, aber die tricky question, wie gesagt, ist raus und in der Welt. Die Frage beschäftigt mich. Nachdem Isle of Dogs am Donnerstag die Berlinale eröffnete, tauchten in dieser Sache zum Glück weitere Indizien auf. Denn Wes Anderson geht es nicht so sehr um Hunde vs. Katzen als um die binären Unterscheidungen zwischen handeln und nicht handeln, sehen und nicht sehen, weinen und nicht weinen. Duke, Chief, Boss, King – hier weinen alle! Kurz danach läuft im Forum Inland Sea von Kazuhiro Soda: Hier hat die Fischmasse keine Gefühle, spricht nicht, wird gefangen, an Land gezogen, sortiert, abgewogen, vom Fischer an die Fischgroßhändler zum festen Preis verkauft, weiterverkauft dann – und hier feilscht man – an die Kleinhändler. Man präpariert und portioniert, noch zappeln die Fische, aber in unserer Sache zählt das Zappeln nicht.
Und wenn Tiere weinen – müssten sie dann nicht eigentlich auch zum Publikum gezählt werden? Sind sie nicht auch ein Teil dieser von allen begehrten Fiktion? Wenn Tiere als Publikum zählen, rückt der magische FFA-Potentialwert von 250.000 Zuschauenden, nebenbei gesagt, mit einem Mal ins realistische Register. Die Idee sollte niemandem wunderlich vorkommen, schließlich warb das vor Kurzem in Berlin eröffnete Kino Delphi Lux damit, dass es jede Art Filmliebhaber willkommen heißt: Ein Affe, eine Giraffe und gar ein Elefant werden von Axel Prahl freundlich an die Plätze gewiesen. Egal, wie jemand riecht, solange er acht Euro zahlt, stimmt doch? Streunende Hunde ziehen wir von der Rechnung ab, aber was ist mit exaltierten Zirkuspudeln, mit Schoßhunden, was ist mit Weichtieren und Gummitieren? Letzteres eher nicht, aber mir gefällt die Vorstellung – ein Tier ist also aus dem Käfig.

Aus dem Käfig raus, von der Leine ab – auf der anderen Seite der Schauanordnung, wollen die Tiere denn überhaupt ins Kino gehen? Was begehrt, woran mangelt es dem tierischen Publikum, what’s its favourite food? Und was können Tiere auf einer Leinwand oder einem Bildschirm überhaupt erkennen? Nehmen sie Menschen als distinkte Gestalten war, aber vielmehr andere Tiere, oder steht der auditive Aspekt ohnehin im Vordergrund? Mit gerade mal drei Dimensionen bleibt das Kino hoffnungslos hinter den Bedürfnissen der tappenden und schnüffelnden Zuschauer – die Berlinale braucht eine neue Sektion! Oder? Es ist auch schade, dass beim Auftakt der Woche der Kritik, wo nach Publikumskonzeptionen gesucht wurde, Biologen und Tierverhaltensforscher nicht eingeladen waren. Da Tiere nicht sprechen können, bleibt unser Wissen über das Innenleben der Nicht-Menschen äußerst lückenhaft. Wilma, der Hund vom Kollegen Karsten, geht zum Beispiel lieber drei Stunden am Tag spazieren: bei der Wahl zwischen dem Wald und den bewegten Bildern ist sie mit allen vier Pfoten für das Erste. In diesen Tagen macht es Karsten zu einem Grenzgänger zwischen dem Wald und dem Berlinale-Palast, zwischen Natur und Kultur muss er seine Zeit gut einteilen. Drei Stunden, wow, von dieser Zahl sind wir alle sehr beeindruckt, Karsten. Dafür aber kommt Wilma, wenn auch kein streunender Hund, von der FFA-Rechnung ab! Durchgestrichen!
Die erste tierische Zuschauerin – denn ich spinne nicht nur herum – findet sich natürlich in Isle of Dogs. Sie heißt Oracle und wird von Tilda Swinton gesprochen. Das Besondere an ihr – denn lieben, weinen, sprechen, zweifeln und entschlossen sein können hier alle – she understands TV. Oracle ist „animal medial“, mit diesem Begriff meint Filmwissenschaftlerin Sabine Nessel die im Film als Bild und Projektion, in diesem Fall mithilfe der Stop-Motion-Animation hergestellten Tiere. Im Zoo wie im Film werden Tiere medial vermittelt, aber das Konzept ist zu schön, um sich nur darauf zu beschränken. Animal medial, damit meine ich die Hündin Oracle, die kein bloßes Schaulustobjekt, sondern eine echte Zuschauerin ist. Nicht schlecht für die ersten zwei Tage, und die Berlinale hat gerade erst begonnen.
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