Animadok: Die Erleuchtung des Unsichtbaren
Mehr als nur Illustration: Der animierte Dokumentarfilm stellt dort Sichtbarkeit her, wo die Unsichtbarkeit regiert – vom U-Boot-Untergang zum Intellektuellengespräch. Einige Gedanken zum Animadok – mit integrierten Streamingtipps.

Ari Folmans Waltz with Bashir (2008) ist der vielleicht bekannteste Dokumentarfilm, der das Gestaltungsmittel der Animation nutzt. Folman spürt darin seinen lückenhaften Erinnerungen an den Libanonkrieg im Jahr 1982 nach, besucht alte Weggefährten und animiert ihre Erinnerungen. Nicht nur um dem eigenen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, auch um sich mit fremden Versatzstücken der Erinnerung ein Mosaik-Bild des Massakers von Sabra und Schatila zu erarbeiten. Als Folmans eigene Erinnerungen an das Massaker wieder ganz präsent werden, wechselt der Film jedoch in Videoaufnahmen des Massakers und natürlich zeigt dieser Formwechsel Wirkung: Nachdem die Erinnerungen an den Krieg, auch für den Zuschauer, zu einer traumartig-surrealen Animationswelt geworden sind, wird man von der treffenden live-action Realität umso stärker eingeholt. Die Künstlichkeit der Rotoskopie-Ästhetik ist gewissermaßen ein spielfilmlanges Trittbrett für die potenzierte Wirkung des fotografischen Dokumentarbildes. Einer der größten Erfolge des animierten Dokumentarfilms hält also eigentlich eher schlechte Nachrichten für das Genre bereit.
Existenzielle Unsicherheiten und animierte Antizipation

Schon dieses Beispiel zeigt: Animation und Dokumentation scheinen sich im Film erstmal eher schlecht als recht zu vereinen. Auf den ersten Blick ist die Animation zu weit weg von der Realität, um sich überhaupt als Dokumentarästhetik qualifizieren zu können. Besonders mit Blick auf die analoge Ära wird das ersichtlich: Wo sich das Filmmaterial im Live-Action-Dokumentarfilm stets direkt vom abfallenden Licht ihres Sujets berühren und transformieren ließ, ist es für die – scheinbar aus dem Nichts kreierte – Animation umso schwerer, eine ähnlich enge Beziehung mit der Welt zu behaupten. Beim „Animadok“ rücken deshalb immer wieder geradezu existenzielle Unsicherheiten in den Vordergrund. Zum einen ahmt die Animation dann Konventionen des live-action Films nach: In Waltz with Bashir macht sie sich etwa diverse Topoi des Kriegs- und Dokumentarfilms zu eigen, imitiert eine wackelige Handkamera während eines Schussgefechts und rotoskopiert vorher gefilmte Gespräche wie Talking Heads.

Zum anderen wird versucht, den Realitätsbezug durch nicht-animierte Methoden nachzureichen. Die Einblendung historischen Materials oder das Auftreten verschiedener Experten dienen dann meist als Authentifizierungsstrategie: Um die Geschichte rund um den Mediziner John R. Brinkley zu erzählen, der nach dem 1. Weltkrieg vorgab, Männern mit der Injektion von Ziegenhoden bei ihren Potenzproblemen helfen zu können, benutzt Penny Lanes Nuts! (2016) Abzüge zeitgenössischer Fotos und Zeitungsartikel sowie Talking-Head-Interviews und die Stimme eines Erzählers. Der Animation hingegen kommt die vergleichsweise undokumentarische Funktion zu, Infotainment-Szenen aus dem Leben Brinkleys zu inszenieren.
Wegweisende Anfänge

Gegenüber dem Live-Action-Dokumentarfilm versetzt sich der animierte Dokumentarfilm damit teilweise selbst in eine untergeordnete Rolle, versucht viel mit Nachahmen wettzumachen, anstatt voll und ganz aus dem eigenen Potenzial zu schöpfen. In gewisser Weise haben die Anfänge des Animadoks diese Richtung schon vorgegeben: Als erster animierter Dokumentarfilm gilt Winsor McCays The Sinking of the Lusitania (1918), der den fotografisch undokumentierten Untergang der RMS Lusitania durch ein deutsches U-Boot im Zeichentrick animiert, dabei über die Zwischentitel aber auch schon Porträts der Opfer sowie einen Erzähler einführt. Mit der Animation eines Geschehens, von dem es keinerlei Film- oder Fotomaterial gibt, begründet McCay aber auch die wohl größte Stärke und Tradition des Genres: dort Sichtbarkeit herzustellen, wo die Unsichtbarkeit regiert. Wenn es die grundlegende Methode des Dokumentarfilms ist, etwas bereits Existentes auf eine je spezifische Weise sichtbar zu machen, dann visualisiert die Animation Geschehnisse, Phänomene, Geschichten, von denen es keine Bilder gibt und oft auch: von denen keine fotografischen Bilder gemacht werden können, weil es sich um subjektive Affekte, Erinnerungen, Vorstellungen, Haltungen oder zu komplexe Vorgänge handelt.
Animation als das einfache Bild

Für letzteres Bilder zu finden, heißt vor allem: abstrahieren. Und als eine Ästhetik, die immer schon die visuelle Komplexität der Dinge reduzieren muss, um sie zur Darstellung zu bringen, eignet sich die dokumentarische Animation für die Abstraktion ausgesprochen gut. Besonders unter dem Stichwort des useful cinema hat sie auf diesem Weg Karriere gemacht: Als Hilfsmittel kommt sie in Trainings-, Werbungs-, Sach-, und Lehrfilmen vor allem als Schaubild oder Diagramm vor. Fast durchgehend animiert hingegen ist das useful cinema von Walt Disney, der nicht nur eine ganze Reihe von Lehrfilmen für Kinder produziert hat, die von der Pinocchio-Figur Jiminy Cricket lernen, wie man sich etwa zu ernähren hat (You – the Living Machine, 1957), sondern auch Propaganda, in denen man vom russischen Flugpionier Alexander de Seversky mit Hilfe von Zeichentrick erfährt, warum der Zweite Weltkrieg nur durch den Einsatz von Flugzeugen gewonnen werden kann (Victory through Air Power, 1943). In Disneys Bilderwelt ist der hohe Abstraktionsgrad der Animation gut erkennbar, teilen die so unterschiedlichen Anliegen beider Filme doch die gleiche visuelle Metapher: Sowohl das menschliche Verdauungssystem als auch die Kriegsmaschinerie des Nationalsozialismus sind als eine einzige industrielle Fabrik inszeniert.
Animation als das subjektive Bild

Das Animadok abstrahiert aber nicht nur konkrete Vorgänge. Vielmehr eignen sich Konzepte, die selbst einen hohen Grad an Abstraktion mitbringen, noch besser zur Bebilderung. Wobei Michel Gondry in seinem Film Is the Man Who Is Tall Happy? (2011) das Glück hat, mit Noam Chomsky einen Gesprächspartner gefunden zu haben, der seine Konzepte mit allerlei Anekdoten, Geschichten und Mythen anfüttert, die der Regisseur nur umso besser illustrieren kann. Gondrys spielerisch-fluider, wie ins Schulbuch gekritzelter Stil besteht aber nicht bloß darin, die Ideen zu bebildern, die sein Gegenüber ausspricht. So wie die Bilder langsam heranwachsen, wie sich prozesshaft Darstellungen zum Gesagten ergeben, sich aber immer auch davon wegbewegen und eigene Richtungen einschlagen, ist es eher, als würde hier ein Denker in Begriffen auf einen Denker in Bildern treffen. Bei Gondry zeigt sich: Die Animation illustriert nicht bloß, sondern nimmt immer auch eigene Haltungen ein, lässt eigene Gedanken einfließen, schafft eben Bilder, in denen persönliche Assoziationen, Vorstellungen und Affekte zusammenfließen – und rückt damit nicht zuletzt auch die Konstruiertheit des filmischen Mediums in den Mittelpunkt.

In der Natur der Animation liegt es also nicht nur, zu vereinfachen, sondern auch subjektive Eindrücke zu visualisieren. Einer der konsequentesten Ausführungen dieser Spielart von Animadok ist Sylvie Bringas’ und Orly Yadins Film Silence (1998), der innerhalb von knapp 11 Minuten von 20 Jahren im Leben einer Holocaustüberlebenden erzählt, vom Aufwachsen in Theresienstadt bis zum Leben in Schweden nach der Befreiung. Mit Hilfe von verschiedenen Zeichentrickästhetiken visualisieren Bringas und Yadin die Sichtweise der jungen Tana, deren Alltag von befreiender Migration und vom bleibenden Trauma, von Einschnitten und Kontinuität geprägt ist. So wird Theresienstadt in einem zutiefst bedrückendem Schwarz-weiß gezeigt, während Skandinavien eine bunte Welt ist, die in ihrem großflächigen Zeichenstil trotzdem von einer eigenartigen Leere durchdrungen ist. Viele Schnitte gibt es nicht in Silence, und oft ist durch die wandelbare Animation kaum an einer Einstellungsgröße festzuhalten. Auch die Körper sind instabil. Ein Schaffner am Zug kann sofort zum KZ-Aufseher, ein Kind in der Kirche mit langnäsiger Maske zur schwarzen Ratte werden: kein Schnitt zwischen neuem und alten Leben, sondern Bilder eines neuen, durch Animation untrennbar verbunden mit dem Trauma des alten.
Filmliste:
Waltz with Bashir – Verfügbar als DVD
Nuts! - Verfügbar auf Amazon Prime
The Sinking of Lusitania – Verfügbar als Open Source
You - The Living Machine – Verfügbar auf YouTube
Victory through Air Power - Verfügbar als Open Source
Is the man who is tall happy? - Kaufbar/Ausleihbar auf YouTube
Silence – Verfügbar als Open Source
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