„An das Dynamit – wir werden verschwinden“: Eine poetische Selbstbeschreibung von Hisayasu Satōs Kino
Bei dem japanischen Regisseur gibt es nicht nur keine guten Figuren, sondern nicht einmal die Sehnsucht nach einem moralischen Kompass – und nicht den Hauch eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Bevor sich zwei seiner Protagonisten zu ihrem Geburtstag in die Luft sprengen, geben sie diesem Kino ein letztes Ständchen.

Eine Szene aus Molester’s Train: Dirty Behaviour (1993). Die beiden Hauptfiguren, eine junge Frau und ein junger Mann, haben sich in ein Zelt zurückgezogen, das lediglich aus ein paar gelblichen Planen besteht und buchstäblich im Nirgendwo aufgestellt ist. Als einzige Andeutung einer Landschaft sind im Vordergrund ein paar Felsen zu erahnen. Dahinter ballt sich ein massives, mattes Lila, das vermutlich das Meer darstellt, darüber glüht ein Himmel in einem nicht allzu gesund ausschauenden Rosaton. Hisayasu Satōs Filme sind immer Low-Fi, erst recht in den schlecht enkodierten Digitalisaten heruntergenudelter VHS-Tapes, als die sie hauptsächlich kursieren. Die Welt geht in ein kaltes, differenzloses Rauschen über, dessen harsche Texturen all die schönen kleinen, putzigen Details, die andere Filme liebevoll im Bild platzieren, auffressen. Und die auch die Menschen attackieren: Wieder und wieder werden die Gesichter und Körper von Video-Störsignalen überlagert, von Überblendungen und anderen optischen Tricks zersetzt, von Fernsehtestbildflirren überschwemmt.

Das Zelt aber ist auch ein Schutzraum. Darin kauern, das zeigt die nächste Einstellung in Molester’s Train, die beiden Hauptfiguren, in einem Raum der totalen Innerlichkeit. Die Detailarmut ist plötzlich kein Zeichen mehr von Kälte und Brutalität, ganz im Gegenteil fördert sie die Konzentration auf die Figuren, wird zu einem intimen Band, das die beiden gegen den Rest der Welt verbindet. Sie haben sich Dynamitstangen umgeschnallt, ansonsten sind sie nackt, als wären sie die letzten Menschen, die letzten Körper. Sie feiern Geburtstag, beide werden 20, und sie wollen sich gemeinsam in die Luft sprengen. Das Feuerzeug dient als Geburtstagskerze, seine Flamme wird immer wieder entzündet und ausgepustet, zwanzigmal. Anschließend soll sie die Zündschnur in Brand setzen.
Gemeinsam zählen die beiden, in einer Art gesprochenem Wechselgesang, ihre Lebensjahre herunter. Die Worte, die sie dafür finden, können als poetische Selbstbeschreibung des Satō-Kinos gelesen werden.
Zunächst spricht die Frau:
Lass uns beginnen.
Happy Birthday an mich.
Happy Birthday an dich.
Auf Wiedersehen, einjähriges Ich.
Auf Wiedersehen, zweijährige Arroganz.
Auf Wiedersehen, Einsamkeit.
Vier Jahre – Auf Wiedersehen, Unehrlichkeit.

Das Ich entsteht nicht im Laufe der Jahre, reift nicht heran durch Erfahrung, gewinnt nicht an Attributen durch Kontakt mit der Welt; nein, wenn überhaupt, gibt es so etwas wie ein Ich, eine einzelne, identifizierbare, abgerundete Essenz, nur am Anfang des Lebens, direkt nach der Geburt. Diese Reinheit ist mit dem ersten Atemzug hinüber, die Zersetzung beginnt sofort. Arroganz – Einsamkeit – Unehrlichkeit: ein Dreiklang der Asozialität, die im Individuum wurzelt, nicht in der Gesellschaft.

Das ist vielleicht das Irritierendste, Verstörendste an Satōs Filmen: Dass es kein Ich gibt, das auch nur irgendwie positiv bestimmt werden könnte, keinen Fixpunkt, von dem aus man eine stabile moralische oder auch nur psychologische Perspektive auf die Ereignisse konstruieren könnte. Nicht nur, dass es keine “guten“ Figuren gibt oder gar solche, die zur Identifikation mit ihnen einladen; es gibt noch nicht einmal die Sehnsucht nach einem moralischen Kompass, nach innerlicher Festigkeit.
Fünf Jahre – Mein Lieblingslied.
Sechs Jahre – Meine langen Haare.
Sieben Jahre – Meine erste Liebe.

Und trotzdem drückt sich in den Filmen eine Normalität aus. Sie spielen in gänzlich unmondänen Neubauvierteln, in engen Einfamilienwohnungen, in hässlichen Bürokomplexen. Die Menschen sehen aus, wie Menschen im Japan der späten 1980er und frühen 1990er vermutlich ausgesehen haben. Die Männer vor allem sind dezidiert alltäglich, laufen mit unfertigen, unsicheren Gesichtern durch die Welt. Die Frauen werden oft von Sexfilmstarlets gespielt, einige sind sehr schön, aber viel Glamour versprühen auch sie nicht. Wenn eine auffällig große Brüste hat, dann ist das bereits Grund genug, einen ganzen Film um diese körperliche Eigenschaft zu stricken (Office Lady Rape: Devouring the Giant Tits (1990), die Brüste werden den gesamten Film über geknetet wie ein unbekanntes, neu zu erforschendes Material). Für Extravaganzen der Ausstattung fehlt das Budget. Die meisten Filme sehen räudig und grindig aus, und wenn manche, wie etwa der delirante Celluloid Nightmares (1988), einen neureichen, vulgären Neonlicht-Schulterpolster-Flair kultivieren, dann verschreiben sie sich damit eben ganz und gar dem Zeitgeist der Achtziger.
Die Fantasien, die sich in den Filmen ausdrücken, sind die Fantasien des Alltags.
Acht Jahre – Meine Tränen und …
Neuen Jahre – ... mein Blut.

Ich weiß nicht, ob mit „Blut“ die Monatsblutung gemeint ist. Jedenfalls sind die Menschen in Satōs Filmen in erster Linie Gefäße für diverse Flüssigkeiten. Es geht dabei freilich nicht um eine Konzentration auf eine natürliche Leiblichkeit. Die vorhandenen Flüssigkeiten können ihnen entzogen oder aber zusätzliche von außen in sie eingeführt werden. Manchmal geschieht das durch Sex oder andere einigermaßen geläufige Prozesse, oft aber auch mithilfe von allen möglichen, insbesondere spitzen Gerätschaften. Die Satō-Figuren begreifen ihre Mitmenschen und vor allem sich selbst als Forschungsobjekte, viele Filme spielen gleich ganz in Laboren. Pervert Ward: S&M Clinic (1989) ist sein reduziertestes Werk: nur zwei Schauspieler, keine einzige Außenszene, die gesamte Handlung spielt in einer abstrusen Klinik, deren therapeutischen Gerätschaften ausschließlich aus Videotechnik und BDSM-Accessoires bestehen. Die Geschichte ist trotzdem wieder einmal ziemlich convoluted, im Kern geht es darum, dass eine Frau mithilfe eines komplexen sexuellen Rollenspiels ein Kindheitstrauma bearbeiten will: Sie wurde bei der Geburt operativ von ihrer Zwillingsschwester getrennt und imaginiert nun eine Narbe. Der Arzt, der kaum mehr ist als ein Instrument, soll ihr durch immer neue Fesselspiele Zugang zur verlorenen Ganzheit verschaffen. Die „Lösung“: Er schwängert sie, und sie hofft, ebenfalls Zwillinge in die Welt zu setzen, die sie dann eigenhändig trennen kann.

Im Vorgänger Pervert Ward: Torturing the White Uniform (1988) leidet ein Mann unter Gedächtnisverlust, er bekommt aber erst einmal eine Spritze voll Testosteron verabreicht, zur Sicherheit, damit er nicht das Interesse an Frauen verliert. Bald hat man den Überblick darüber verloren, wer wem was (oder gar warum) injiziert. Einmal beugt sich eine Krankenschwester rätselnd über eine Ampulle, die mit einer besonders mysteriösen Flüssigkeit gefüllt ist: „This is bottled strangeness!“
Zehn Jahre – an alle, auf Wiedersehen.
Sie übergibt das Feuerzeug an ihn. Er beginnt damit, die Mitglieder seiner Familie aufzuzählen.
An meinen hilflosen Vater – Happy Birthday.
An meine perverse Schwester – Happy Birthday.
An ihren sadistischen Liebhaber – Happy Birthday.
An meinen verrückten Bruder – Happy Birthday.
An meine alkoholkranke Mutter – Happy Birthday.

Die Abgründe lauern nicht im Fremden, im Anderen, im Monster, sondern im Vertrauten. Es gibt zwar auch wildernde Unholde, rape maniacs, aber die sind nur der äußere, erste Anlass. Die eigentlichen Psychosen setzen sich in die Familie hinein fort. In Wife Collector (1985) vergewaltigt ein Taxifahrer seine Kundinnen. Daraufhin entwickelt deren Schwester eine Obsession, die sie schließlich dazu bringt, mit dem Täter Kontakt aufzunehmen. Noch durchgeknallter ist das Schwesternpaar aus Love Obsession (1989): Die eine produziert eine reißerische Fernsehsendung, in der sie live Vergewaltigungen mitfilmt, die andere ist der größte Fan der Sendung und wird, als die Quoten sinken, selbst zum Opfer.
An Menschen, die müde sind – Happy Birthday.
An die Stadt als Hintergrund – Happy Birthday.

Satō ist ein Guerilla-Filmer. Viele Außenszenen sind offensichtlich ohne Genehmigung, on the spot, gedreht. Oft mit Handkamera und einer leicht verzerrten Optik. Zumeist sind das nur kurze, flashartige Szenen: Die Hauptfigur tritt, umnebelt von ihren eigenen Fantasmen, auf die Straße hinaus, im Hintergrund huschen ein paar Passanten durchs Bild. Aber auch in den Straßenszenen offenbart sich nicht einmal der Hauch eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Gelegentlich ist von Amokläufen und anderen Gewaltexzessen die Rede, aber die grundlegende Skepsis gegenüber den Organisationsformen des Sozialen in der Moderne nistet tiefer, sie schreibt sich in die Bilder selbst ein.
Die allermeisten Filme spielen in der Großstadt, das dominante Material ist in klobige Formen gegossener Beton. Autobahnbrücken, brutalistische Hochhausarchitektur, eine Vorliebe für abstrakte Räume wie etwa Unterführungen, weitaus mehr künstliches als natürliches Licht. Immer wieder gibt es Szenen, oft besonders brutale, die auf Hochhausdächern spielen. Man schaut über die Stadt, ist aber trotzdem nicht Teil von ihr.
An mich, der ich von meiner gesamten Familie verlassen wurde – Happy Birthday.
An Kei, die von ihrem Freund verlassen wurde – Happy Birthday.
An das Dynamit – wir werden verschwinden.
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