Altmodisches Actricen-Handwerk – Notizen aus Venedig (6)
Die einen ärgern sich über die ihnen auf der Leinwand kredenzten wahren Geschichten, die anderen schlafen den Schlaf der Gerechten. Das Leben auf Filmfestivals ist manchmal hart. Pavao Vlajcic über Filme von Gus van Sant, Pietro Marcello, Kaouther Ben Hania und anderen.
“Wir hätten in der Zeit so viele schöne Sachen in Venedig machen können”, meinte meine Begleitung nach dem Screening des neuen Gus van Sant-Films. Tja, der Kinogott ist hart und ungerecht und den einen oder anderen Tod muss man sterben, will man ihn sanft stimmen.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Pietro Marcello meldete sich im Wettbewerb mit Duse zurück. Der Film porträtiert die legendäre italienische Theaterschauspielerin Eleanora Duse. Eine schillernde und widersprüchliche Figur, die mit Vorliebe leidende Frauen porträtiert, die eigene Tochter vernachlässigt, mit dem protofaschisten Gabriele D’Annunzio anbandelt und ihr schwules Ensemblemitglied vor prügelnden Hooligans verteidigt. Und wer könnte sie besser porträtieren als die aktuell amtierende europäische Spezialistin für Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Valeria Bruni-Tedeschi. Von der ersten Sekunde an beherrscht sie die Szenerie, wandelt in Cape-Kleidern, Kostümen und Gewändern durch Rom, Mailand und Venedig, bettelt um Geld für Theaterproduktionen, legt sich mit Schreiberlingen an, verzweifelt an Ibsen. Wer altmodisches Actricen-Handwerk bewundert und wie ich Vivien Leigh in Vom Winde verweht oder Endstation Sehnsucht nachtrauert, wird jeden Moment von Bruni-Tedeschis Performance lieben. Marcello macht sich ihr entrücktes Spiel geschickt zunutze um Fragen nach Verführbarkeit und Korrumpierbarkeit von Kunst und deren sozio-ökonomischen Grundlagen nachzugehen. Ein audiovisuell opulenter, intellektuell facettenreicher Film.

Kaum hatte ich gestern über Applausorgien geschrieben und, schwupps, gibt es einen neuen Rekordhalter in Venedig. 23 Minuten hat das Premierenpublikum Kaouther Ben Hanias The Voice of Hind Rajab beklatscht. Ein 6-jähriges Mädchen steckt in einem Auto in Gaza fest, das von der israelischen Armee unter Beschuss genommen wird. Ihr Notfallanruf bildet die Grundlage für ein Hybrid zwischen Dokumentation und Spielfilm. Der Anruf Hind Rajabs ist im Original zu hören, die Reaktionen der Mitarbeiter, die versuchen, Hilfe für das Mädchen zu organisieren, wurden sämtlich nachgestellt. Ben Hania setzt dabei auf den reinen Affekt und geht zynisch und manipulativ vor. Um ihre eigentliche Botschaft zu vermitteln, hätte die Tonaufnahme des Anrufs ausgereicht. Weil das für einen Spielfilm nicht genügt, reichert sie ihren Film mit schlecht gespielten Sequenzen im billigen Telenovela-Stil an, bei denen sich permanent moralisch entrüstet, in Ohnmacht gefallen und auf den Zuschauer eingeredet wird. Neben den filmästhetischen und moralischen Fragen, die sich bei einem solchen Vorgehen stellen, kommt erschwerend hinzu, dass der Film einfach über keinerlei formale Qualitäten verfügt und so weder als Diskussionsgrundlage noch als filmische Erfahrung taugt.

Auf Filmfestivals stellt man sich ja sein Programm selbst zusammen und baut sich manchmal Lückenfüller ein. Filme, die man eigentlich nicht sehen wollte, aber mit denen man Zeit zwischen vermeintlich wichtigeren Screenings totschlägt. Manchmal ist darunter ein kleines Juwel, wie Un cabo suelto / A Loose End (Venice Spotlight) von Daniel Hendler. Santiago, ein argentinischer Polizist, sieht etwas, was er nicht hätte sehen sollen und muss vor seinen Kollegen nach Uruguay fliehen. Ein ungeheuer entspannter Film in mehreren Vorwärtsbewegungen, der mit lakonischem Humor, hintergründiger Spannung und entwaffnendem Charme unterhält. Man sollte die Leichtigkeit hier nicht unterschätzen, denn: Etwas leicht aussehen zu lassen ist oft harte Arbeit. Die ich hiermit würdige.

“Based on a true story” sind fünf Wörter, die ich so bald in keinem Vorspann eines Films mehr sehen will. Nach The Smashing Machine und The Voice of Hind Rajab machen mir diese auch den neuen Film von Gus van Sant, Dead Man’s Wire (Außer Konkurrenz), madig. Bill Skarsgard mimt überzogen aber immerhin amüsant Tony Kiritsis, der von irgendeinem Immobilienkonglomerat übers Ohr gehauen wird und aus Rache den Sohnemann des CEOs kidnappt. Das ist so komplett öde, überraschungsarm und plump heruntergedreht, dass ich mit mir kämpfen musste, bis zum Ende im Saal zu bleiben. Mein Freund war derweil im Saal eingeschlafen. Der Glückliche.

Zum Tagesabschluss gab es mit Girl (Wettbewerb) einen Beitrag aus Taiwan, eine Mischung aus Familiendrama und Coming of Age mit hübschen Kameraeinstellungen, soliden Darstellern, Mutter-Tochter-Konflikten und unverarbeiteten Traumata. Tausendmal gesehen, tausendmal vergessen, aber auch beim tausend und ersten Mal nicht wirklich darüber geärgert.
To be continued…
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