Als wär's heute – Zur Berlinale-Retrospektive

Statt Konfektionskino zeigt die Berlinale in ihrer historischen Rückschau Filme für Leute, die das Genrekino hassen. Zum Auftakt unserer Reihe übers deutsche Genrekino erhebt Olaf Möller Einspruch gegen die BRD-Auswahl der diesjährigen Berlinale-Retrospektive.

Man könnte böse sein und sagen: Was soll man von einer Reihe zum Genrekino erwarten, deren Macher poliziottesco mit giallo verwechseln – vor allem, wo sie Rolf Olsens Blutiger Freitag (1972) auch gut im Jargon der Ära als einen „Kriminalreißer“ (vielleicht sogar „der internationalen Spitzenklasse“) hätten bezeichnen können, ganz im Geiste des Plakats, auf dem es heißt, „Knallhart und spannend“? Rolf Olsen ist neben Franz Josef Gottlieb (Lady Dracula, 1978) der einzige echte Kinokonfektionär, der in „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ mit einem Werk vertreten ist – okay, nehmen wir noch Eckhart Schmidt (Männer sind zum Lieben da, 1970) dazu, der das zumindest immer sein wollte auf seine ganz eigene Art und es irgendwie auch war, ebenso Ulli Lommel (Die Zärtlichkeit der Wölfe, 1973), dem das allerdings in den USA besser gelang als daheim, auch wenn die BRD-Produktionen sich mehr als nur sehen lassen können.

Der Rest des Personals und seiner Werke fällt unter Ausnahme, nicht Regel – doch die Regel, die Erwartbarkeit der Handlung(en) und ihrer Träger, garantiert oft durch die Routine ihrer Macher, ist der Schlüssel zum Genre, und nicht irgendeine breit ausgestellte Originalität. Rudolf Thome, dessen brillanter Fremde Stadt (1972) ebenfalls rennt, sagte einmal über das Kinogehen in früheren Zeiten (aus der Erinnerung zitiert), dass der Platz, wo man saß, wichtiger war als der Film, der lief. Das beschreibt auch den Umgang mit Genrekino sehr gut: Der Film an sich ist gar nicht so wichtig – der Umstand des Im-Kino-Seins als Alltäglichkeit, damit auch die generelle Vorhersehbarkeit des Erlebnis, das ist wichtig. Man könnte auch den alten Audie-Murphy-Fan Werner Dütsch heranziehen, der im Untertitel seiner herrlichen Autobiographie Im Banne der roten Hexe (2016) „Film als Lebensmittel“ bezeichnet – etwas, das es in klar strukturierter Form (be)ständig braucht. All das stellt die Notwendigkeit von Originalität nicht in Abrede – die Dinge müssen schon auch immer wieder ein wenig anders sein als zuvor, aber am Ende doch eben so wie immer, nur halt nicht ganz und gar...

Was fehlt: Das Juvenal des Bonner Republik-Kinos

Was der Schau fehlt, sind Ganghofer- und Simmel- und Report- und auch St.Pauli-Filme, also Kino, das zum Teil im Akkord hergestellt wurde. Wahrscheinlich war das den Programmgestaltern zu peinlich, oder einfach nicht auf die ganz simple Art international anschlussfähig genug. Vielleicht haben sie sich schlicht nie mit diesen Filmen beschäftigt, weil deren Ruf historisch zu arg ist, und wollten sich jetzt nicht für die eine ja immer auch irgendwie als zu-viel erklärbare Preziose durch Massen von Murks gucken. Und man muss viel Walter Boos und Jürgen Enz über sich ergehen lassen, um z.B. Hans Billians mit protohysterischem Charme und Schwung bezaubernden Das Mädchen mit der heißen Masche (1972) zu finden; oder die gestalterischen Subtilitäten von Franz Josef Gottliebs süffisantem Liebesspiele junger Mädchen – Muntere Pärchen packen aus (1972) zu goutieren; oder auf ein fein-sensibles Juwel zu stoßen wie Schüler-Report Junge, Junge, was die Mädchen alles von uns wollen (1971) von Eberhard Schröder, einer der tragischen Figuren dieses Kontexts. Der kurios verquer-widerspenstige Jürgen Roland’s St. Pauli-Report (1974) hingegen, sollte einen schon ob des Regisseurs interessieren, da er eine Schlüsselfigur der BRD-Genrekultur in Film wie Fernsehen ist (und in der Retro fehlt); ganz zu schweigen von Alfred Vohrers Gesellschaftssatiren in Sexfarce-Gestalt, die Bengta-Bischoff-Verfilmung Das gelbe Haus am Pinnasberg (1970) und Anita Drögemöller und die Ruhe an der Ruhr (1976), deren prinzipielle Relevanz selbstevident sein sollte auch ohne tiefere Kenntnis des BRD-Erotikkinos, stammen sie doch von dem Juvenal des Bonner Republik-Kinos.

Die gerade genannten Filme sind alle durchaus ernst gemeinte Vorschläge dafür, was eine Schau über die Eigenarten und Qualitäten des BRD-Genrekinos der 1970er enthalten sollte. Hier wird nicht die Abwesenheit von Filmen beklagt, die einem ziemlich viel erzählen über das Land, das Kino, und die Verhältnisse in beiden, aber halt nicht so wahnsinnig dolle sind, wie z.B. die ganzen Adaptionen des Arbeiterautors Hans Henning Claer – wobei das perfid ergiebigste Claer'iana-Stück, Franz Marischkas frappierender Genrekurzschlußakt Liebesgrüße aus der Lederhose 2. Teil: Zwei Kumpel auf der Alm (1974), einem verdammt viel über den Motiv- und Typen-Basisbaukasten der BRD-Genrekleinkunst vermittelt, wenn auch nichts über die Befindlichkeiten des realexistierenden Proletariats zwischen Bergkamen und Bad Wörishofen.

Womit weiters gesagt werden soll: Reinls staub-kantiger Schloß Hubertus (1973) ist ziemlich beeindruckend, und würde zu einem Doppel einladen mit Hans W. Geißendörfers Anzengruber-Adaption Sternsteinhof (1976), schließlich war der Heimatfilm eines der Genres, wo sich Altbranche und Jungfilmer um die Deutungshoheit kreativ kabbelten. Aber den Heimatfilm, der seine letzte Blüte in den 70ern erlebte, fanden die Programmmacher der Berlinale offenbar verzichtbar. Sicher, der Heimatfilm ist außerhalb der BRD und Österreich als Genre nicht bekannt, läßt sich aber in Beziehung zu diversen anderen national spezifischen Genres wie etwa der US Kleinstadt-Americana oder den Landerzählungen in den verschiedenen Nord-Kinematographien gut diskutieren, wenn man denn irgendwelche Vergleichbarkeiten braucht.

Namen ändern sich, Haltungen nicht

Mit den Simmel-Adaptionen betritt man den Bereich des Melodrams, ein Genre, das erstaunlich gegenwärtig ist in den 70ern, auch wenn es selten als Komplex betrachtet wird. Alfred Vohrers Und der Regen verwischt jede Spur (1972), der an Puškin 'rangeht als sei er Simmel, aber auch die Ganghofer-Verfilmung Das Schweigen im Walde (1976), ebenfalls von Vohrer, bestechen nicht nur beide als ernsthaftes Kino der Gefühle, sondern zeigen zudem, wie ein Genremodus sich durch Werke anderer Genres zieht, so noch einmal andere Zuordnungen und Lesungen des Kinos jener Zeit ermöglicht. Ulli Lommels irrlichternder Der zweite Frühling (1975) – ein Lieblingsfilm von Hans Schifferle, dessen Abwesenheit man angesichts von Programmen wie diesem noch schmerzhafter spürt als ohnehin - könnte dann so etwas wie der Junge-Deutsche-Film-Kontrapunkt zur Melancholie des Industrieestablishments sein.

Und, ja, Geißendörfer und Lommel sind beide in der Schau vertreten, schon recht und recht so, aber Jonathan (1970) und Die Zärtlichkeit der Wölfe sind jetzt nicht gerade Überraschungen oder Entdeckungen, während Rainer Erlers Fleisch (1979) fast schon einen Ermattungsseufzer provoziert, und Roland Klicks Deadlock (1970) zu einem resignierten, „Eh“. Soll hier irgendetwas noch mal eine Perspektive eröffnen oder gar zu einer Fragen herausfordern? Will das überhaupt noch wer? Reicht es als Argument, dass jüngere sowie auswärtige Filminteressierte diese Werke nicht kennen – als ob man die nun unbedingt braucht, als könne man ohne die nichts verstehen, als sei es schlimm, wenn man dem Genie Alfred Vohrers vor dem Roland Klicks begegnet?

Das Programm bestätigt einen darin, dass alles, was man weiß, weil man es seit Jahren, wenn nicht Dekaden, an entsprechend autoritätsgeladenen Stellen liest, auch wirklich wahr ist. Sicher, die Dinge verschieben sich auch: Vor zwanzig Jahren, etwa, wäre das Swinging-Schwabing-Kino von Eckhart Schmidt, Rudolf Thome, Roger Fritz (Mädchen mit Gewalt, 1970) und Klaus Lemke (Rocker, 1972) in so einem Kontext nicht groß aufgetaucht, da hätte man möglicherweise mit Volker Vogeler oder Hans Noever punkten wollen, die einer früheren Cinephilengeneration noch bekannter wie näher waren. Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi. Und es hat sich ja noch nicht einmal alles verändert - Namen: ja, Haltungen: nein. Gleich geblieben ist der zutiefst bürgerliche Kulturbegriff, den man an etwas ganz Un-, wenn nicht sogar konkret Antibürgerliches anlegt wie etwa das Konfektionskino. Der Rainer Rother zugeschriebene PR-Blub, dass „Deutschland auch Genre kann: aber zu eigenen Bedingungen!“ fügt dem Ganzen noch eine etwas schmierige Schicht Chauvinismus hinzu, den es nicht braucht, und der das BRD-Kino der 70er provinzieller wirken lässt, als es war.

Dieses Gefühl von Elevatedness

Dabei werden Chancen vergeben, um über Themen mit einer gewissen Zeitgeistigkeit zu sprechen, wie z.B.: schwule Schaulust im Konfektionskino – wie Alfred Vohrer etwa aufreizend nackten Männer und Transvestiten Raum gibt zwischen spätem Wallace (Der Gorilla von Soho, 1968 – außerhalb des Retrorahmens, ja, ja) und proto-Derrick (Perrak, 1970); was wiederum ergiebig sich diskutieren ließe mit Ulli Lommels schwulem Krimimelodram Wachtmeister Rahn (1974). Um nur einmal ein Beispiel zu nennen für die subversiven Dimensionen dieses Kinos, die ihm eine unerwartete Gegenwärtigkeit verleihen.

In den Begrifflichkeiten dieser Tage wären die meisten Filme dieser Schau Elevated Genre – Genrekino für Leute, die das Genrekino selbst hassen und ihre Verachtung dafür dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich zu einem Kino bekennen, das sich selbstgefällig über die Plebsmassen erhebt. Oder ganz genau genommen sind es noch nicht einmal die Filme selbst: Es ist die Zusammenstellung, die dieses Gefühl von Elevatedness erschafft. Eine originelle Ausnahme nach der anderen, bis die Ausnahme zur Regel wird für eine Kultur, die besessen ist davon, etwas Anderes zu sein, und anscheinend nichts so fürchtet wie den Alltag, das Viele, was uns einander mehr ähnlich macht als fremd. Ein Kino für Leute, die über Filme gern sagen, sie seien so anders als der Standard, diesen aber gar nicht kennen.Diese Haltung angewandt, also in Filmprogrammform in Frage zu stellen, das wäre sinnvoll. Aber das muss man wollen.

Und um noch ein Fenster als Notabene aufzureißen: Da mit Fleisch und Rocker (was soll der eigentlich abdecken? Biker Movie? St. Pauli-Sleaze?) zwei Fernsehspiele im Programm gelandet sind, könnte man diese Auswahl ins Öffentlich-Rechtliche weiten, z.B. mit Peter Adams vergrübelt-eisigem polar-Exerzitium von fast Münchner Sensibilisten-Stoik, Geradeaus bis zum Morgen (1972); oder einer abgezockten Genretypentunnelung wie Geißendörfers Serie Lobster (1976; mit dem großen Heinz Baumann als Mittelschicht-Gammler-Detektiv quasi Marquard Bohm'schen Formats); oder gleich ins Experimentelle gehen, so das Elevated-Element formvollendet hinterfragen, mit Fantasticastücken wie Kannibal Komix oder Das Haus in Weiß (1970), Vampira (1971) und HP Lovecraft: Schatten aus der Zeit (1975), allesamt von George Moorse. Also sagen: Wenn schon, denn schon.

Zu weiteren Beiträgen unserer Reihe "Deutsches Genrekino" geht es hier:

Kleiner Hang zum Größenwahn – Deutscher Genrenachwuchs (Interview)

Abgründiges Vexierspiel: Zum Undergroundkino Marian Doras

Neue Kritiken

Kommentare zu „Als wär's heute – Zur Berlinale-Retrospektive“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.