Alles läuft! – Retrospektive Locarno 2025

Die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals in Locarno widmete sich dem britischen Nachkriegskino. Mit improvisatorischer Energie erzählen die Filme von verzwickten Beziehungskisten und den sozialen Reibungen in einer überlebten Klassengesellschaft.

„We just want to see how the school is running“, ist mein Lieblingssatz des diesjährigen Locarno-Jahrgangs, weil er scheinbar so eindeutig ist, in ihm aber gleichzeitig unglaublich viel passiert. Gesagt wird er von einer Figur in Frank Launders The Happiest Days of Your Life (1950), einem regionalen Statthalter, der sich gerade auf einer kleinen Besichtigungstour des Nutbourne-College befindet, einem Jungen-Internat unweit von London. Das „running“ markiert in diesem Satz erstmal keine schnelle Bewegung, sondern eher eine Ordnung, ein Funktionieren. Ob an dieser Schule alles läuft, alles seine Richtigkeit hat, will der Bildungspolitiker wissen. 

In Lauders Film folgt auf den Satz ein Umschnitt auf das Personal der Schule, und dieses ist ganz buchstäblich „am Rennen“, denn seine Richtigkeit hat hier schon seit einiger Zeit nichts mehr: In den ersten 20 Minuten des Films hat Rektor Wetherby Pond (Alastair Sim) nicht nur erfahren, dass aufgrund eines Notfalls ein kompletter Jahrgang einer anderen Schule seinem Internat zugewiesen wurde und dass dieser noch am selben Tag wie die eigenen Jungs ankommen soll, sondern auch, dass aufgrund eines administrativen Fehlers diese andere Schule ein Mädcheninternat ist. Schon bald laufen zuerst die Lehrerinnen mitsamt der Rektorin Muriel Whitchurch (Margaret Rutherford, die auch auf Schauspielebene ihr männliches Pendant einkassiert) ein und bald darauf an die 100 Schülerinnen und stellen die All-Male-School gehörig auf den Kopf. Die spätere Ankunft der männlichen Schüler des Internats endet in einer riesigen Kissenschlacht zwischen den Geschlechtern, nach der die Mädchen in den Schlafsälen und die Jungs in der Turnhalle landen. Klare Verhältnisse, erstmal wieder.

Schon hier ist die Gag-Frequenz hoch, man kommt kaum hinterher mit dem Lachen und aus dem Staunen nicht heraus, aber Launders und Ko-Autor John Dighton ziehen die Zügel im letzten Teil des Films nochmal kräftig an, indem sie der unfreiwilligen Mixed-School einerseits eine Eltern-Delegation der Mädchenschule und andererseits besagte Delegation der Lokalpolitik vorbeischicken. Damit alle zufrieden sind, dürfen erstere weder Lehrer noch Schüler und letztere weder Lehrerinnen noch Schülerinnen zu sehen bekommen. Der Rektor will angesichts dieser Aufgabe schon aufgeben, aber sein weibliches Pendant läuft jetzt zu Hochtouren auf: Wenn die Delegationen jeweils in einem bestimmten zeitlichen Abstand die gleiche Tour durch die Klassenräume machen, müssen eben die jeweiligen Klassen alle fünf Minuten von einem Raum zum nächsten rennen. Bald ist die ganze Belegschaft der Schule in den Masterplan involviert, man gibt sich heimlich Zeichen über die Flure und kreiert eine erstaunliche Choreographie. Es wird also ordentlich gerannt, damit die Besucher*innen sehen, dass alles seine Richtigkeit hat. 

The Happiest Days of Your Life ist eine großartige Komödie, weil sie eine witzige Idee nach der anderen aufbietet und gleichzeitig sämtliche allzu naheliegenden Gender-Schenkelklopfer unterläuft. Zugleich verstecken sich hier auch durchaus scharfsinnige Analysen: Zielscheibe der Satire sind eindeutig die konservative Angst vor gesellschaftlicher Unordnung und die absurden Auswüchse männlichen Selbstmitleids. Die eigentlichen Schüler*innen spielen nur als Jungs- und Mädchenmenge eine Rolle, als zum Massenkörper gewordener Gender Trouble. Und vor allem bringt der Film ganz nebenbei auf den Slapstick-Punkt wie viel physische Arbeit, wie viel „running“, nötig ist, um den Schein einer säuberlichen Geschlechtertrennung sowie eines geräuschlos laufenden Bildungssystems aufrechtzuerhalten. 

Wiederkehrende Liebhaber und unverhoffte Loyalitäten

The Happiest Days of Your Life ist Teil der umfangreichen Retrospektive Great Expectations zum britischen Nachkriegskino, die wie auch die Retrospektiven der letzten Jahrgänge von Ehsan Khoshbakht kuratiert wurde. Der Fokus der 46 Filme liegt auf Studio-Produktionen, die zwischen 1945 und 1960 entstanden sind und sich mit der britischen Gegenwart beschäftigen. Ich hatte die Retro beim persönlichen Festival-Plan zwar von Anfang an auf dem Schirm, hatte allerdings nicht geplant, am Ende deutlich mehr alte als aktuelle Filme zu sehen. Doch so richtig Spaß machen Filmreihen eben erst, wenn man so richtig eintaucht – und gerade in der tollen Auswahl von Great Expectations ließen sich schnell allerlei Querbezüge finden und Vergleiche aufstellen, so dass ich schnell immer mehr wollte. 

Einer dieser roten Fäden war etwa die auffällige Präsenz von Ehebrüchen, mit denen die Figuren in den Filmen sehr offen umgehen. Dadurch werden teilweise jene Polyamorie-Diskurse vorwegnommen, die gerade sehr virulent sind und langsam auch im Gegenwartskino ankommen. In Terence Fishers The Astonished Heart beginnt ein Psychiater (in einer seltenen Hauptrolle: Noël Coward höchstpersönlich, der auch für die Vorlage verantwortlich zeichnet) eine Affäre mit einer alten Freundin seiner Ehefrau. In David Leans The Passionate Friends, der mit einer wunderbar verschachtelten Rückblenden-Struktur aufwartet, ist eine Frau hin- und hergerissen zwischen ihrem Sicherheit-bietenden Ehemann und ihrem aufregenderen Ex-Lover, der alle paar Jahre verlässlich wieder in ihrem Leben auftaucht. Und auch in Robert Hamers It Always Rains on Sunday taucht ein Ex wieder auf: als frisch aus dem Gefängnis geflohener Krimineller, der bei seiner ehemaligen Geliebten Unterschlupf sucht, obwohl die längst einen Ehemann und vier Kinder hat und beim Verstecken deshalb ebenso improvisatorischen Erfindungsgeist zeigen muss wie das Schulpersonal aus The Happiest Days of Your Life. 

Im Gegensatz zu den anderen genannten Werken ist Hamers Film weniger Liebesdrama als Milieustudie, spielt er doch im Londoner Arbeiter- und Migrantenviertel East End und lässt sich immer wieder gern durch allerlei Betriebsamkeit von seinem hauptsächlichen Erzählstrang ablenken. Mit ähnlichem Detailreichtum und Interesse an konkreten Lebensrealitäten am sogenannten Rande der Gesellschaft wartet auch Basil Deardens Pool of London auf, einer der ersten britischen Filme mit einer Schwarzen Hauptfigur. Hier werden Race-Verhältnisse ebenso subtil und klischeebefreit in Szene gesetzt wie in vielen der anderen Filme Geschlechterverhältnisse. Der Film dreht sich um zwei Matrosen, die mit ihrem Schiff in London anlegen und dort sowohl in amouröse als auch in kriminelle Affären verwickelt werden – und sich trotz aller Widrigkeiten loyale Freunde bleiben. 

Was die Gesellschaft am Laufen hält

Viele der Filme in dieser Retrospektive lassen sich kaum in feste Genrekategorien einfassen, ihnen ist gerade das Changieren zwischen unterschiedlichen filmischen Modi eigen. Das hat wohl auch damit zu tun, dass das britische Nachkriegskino materielle Verhältnisse und soziale Ungleichheit nicht ausblenden konnte, dass die Filme stets auch einen Blick auf die feinen Unterschiede zwischen den Gesellschaftsschichten sowie auf konkretes Elend warfen, wodurch ein Abdriften in allzu zeitlose Genre-Muster verhindert wurde. 

Paradigmatisch für diese stilistische Ungreifbarkeit bei gleichzeitigem Klassenbewusstsein ist Turn the Key Softlyan dessen Anfang drei Frauen am gleichen Tag aus dem Gefängnis entlassen werden. Schon die erste Szene des Films, in der die drei ihre bei der Verhaftung beschlagnahmten persönlichen Sachen wiederbekommen, nutzt Regisseur Jack Lee, um die Frauen und ihre Herkunft zu inszenieren: Die aus armen Verhältnissen kommende Stella (Joan Collins) macht sich direkt schick für ihren als Busfahrer arbeitenden Verlobten, der sie vom Gefängnis abholen soll, die ältere Gelegenheitsdiebin Mrs. Quilliam (Kathleen Harrison) gibt sich bescheiden und freut sich auf ihren zuhause wartenden Johnny, und die deutlich besser betuchte Monica (Yvonne Mitchell) hofft, die schiefen Bahn, auf die sie durch ihren Ex David geraten ist, endgültig zu verlassen und einen stabilen Job sowie ein neues Zuhause zu finden. 

Turn the Key Softly ist es weder daran gelegen, anhand dieser drei Frauen ein großes Happy End zu inszenieren, noch sich in großer Hoffnungslosigkeit zu ergehen. Erstmal folgen wir dem Film auf allerlei rührende wie witzige Nebenpfade, etwa als sich Mrs. Quilliams Johnny nicht als herrischer Ehemann, sondern als drolliger Terrier entpuppt, der am Ende verdientermaßen zum Helden der Geschichte und zum einzig verlässlichen männlichen Wesen des Films wird. 

Vor diesem Finale verwandelt sich der Film selbst auch ganz unvermittelt in reines Bewegungskino: Nachdem sich Monica entgegen ihren Plänen doch nochmal auf David eingelassen hat, verwickelt dieser sie in den nächsten großen Coup, den Einbruch in einen auf einem Dach installierten Safe. Doch die Sache geht schief und David versucht sich an einer spektakulären Flucht über ein Theaterdach, während die Polizei erst hangelnd und raufend, dann mit dem dramatisch inszenierten Einsatz einer Feuerwehrleiter die Verfolgung aufnimmt. Auch in diesem Film nimmt also die Lust am körperlichen Improvisieren gehörigen Raum ein, ein schöner Kontrapunkt zu den großen romantischen und dramatischen Gesten des Zwischenmenschlichen, die diese Retrospektive auch ausmachen. Um es in die Sprache des schönen doppeldeutigen Satzes auf den Punkt zu bringen: Running all the time, these films show how things in post-war Britain were (not) running. 

Neue Kritiken

Kommentare zu „Alles läuft! – Retrospektive Locarno 2025“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.