Albert Serra in der Volksbühne: Liberté oder Sex auf dem Parkplatz

Wie nah liegen das Alberne und das Erhabene beieinander? Ingrid Caven, Helmut Berger und Albert Serra treten den Beweis an, dass sie sich sogar gegenseitig brauchen. Über die letzte Aufführung von Liberté an der Volksbühne.

Ingrid Caven steht und schreit. Ich drehe mich um und erkenne sie nicht gleich. Sie hat sich umgezogen und sitzt erst nervös hinter mir, nervös oder mit einem Überschuss an Energie, tuschelt mit einem Sitznachbarn, hält es sitzend nicht aus, stellt sich hin, wirkt unentschieden, ob sie bleiben oder gehen soll. Dann passt sie den richtigen Moment ab und ruft rein. Die Inszenierung von Liberté ist gerade vorbei, es war die letzte Aufführung, und im Roten Salon haben die Filmreihe der Volksbühne VariaVision und das Filmmagazin Fireflies zu einem Gespräch eingeladen, bei dem Albert Serra auf Alain Guiraudie (Der Fremde am See, 2013) trifft.

Der Spalt zwischen Absicht und Wirkung

Die erste Überraschung: Sowohl die Aufführung als auch die Diskussion laufen ohne größere Störung ab, den vielen Geschichten von wütenden Zuschauern kann ich keine hinzufügen. Die zweite: Ingrid Caven, 1938 geboren und bekannt vor allem durch ihre Rollen bei Rainer Werner Fassbinder, beschwert sich tatsächlich hier, öffentlich, über Serras Inszenierung. Während der Regisseur im Gespräch von einem Chaos spricht, das er stiftet, ohne zu wissen, wo es genau hinführen wird, beklagt Caven den kompletten Kontrollverlust der Schauspieler. Wie sie es tut, lautstark, ungefragt, mitten hinein in die Ausführungen von Serra, zeugt schon von der Freiheit, die hier heraufbeschworen wird. Der Spalt zwischen Absicht und Wirkung, dass man nie genau wollen kann, was kommt, dass es immer etwas zu antizipieren und zu überbrücken gilt, genauer: die Unabhängigkeit und Unberechenbarkeit des Gegenübers ist bei Serra Programm.

Am Anfang von Liberté steht ein Bild, das aus einem Film stammen könnte. Eine Wälder- und Parklandschaft, es ist recht dunkel, zwei Männer in der Ferne, die eher Schatten denn Figuren sind. Das Bühnenbild ist in die Tiefe gebaut, auch von den vorderen Reihen aus erscheint der Rand der Bühne wie der schwarze Cache, der im Kino den äußeren Bildrahmen abdeckt und das überbordende Licht des Projektors schluckt. Das wenige Licht erfasst die Landschaft als romantische Kulisse, es sieht nach blauer Stunde aus, dem magischen Moment, wenn alle und jedes schöner ist. Die Männer reden miteinander, nein, sie flüstern, und gäbe es keine englischen Übertitel, sie wären trotz Mikrofonen kaum zu verstehen. Liberté erzählt von Geheimnissen.

Die Libertinage nach Preußen bringen

Im Mittelpunkt des Theaterstücks steht dieser eine Ort, gewunden und in alle Richtungen offen, mit mehreren Wegen und Stellplätzen, ja es ist eine Art Parkplatz, jedenfalls wird dieser kleine Landstrich überwiegend als solcher genutzt. Im Jahr 1774 heißt das: Abgestellt werden hier Sänften, diese kleinen (oder nicht ganz so kleinen) Gestelle, in denen vornehmlich Adelige sitzen, um von anderen Menschen an Stangen getragen zu werden. Kein kleiner Teil der Handlung spielt sich in den Innenräumen dieser Fortbewegungsmittel ab. Nur werden sie nicht, wie das etwa bei Castorf der Fall war, von Videokameras verfolgt und damit vergrößert oder nahegebracht. In Serras Theaterstück bleiben die Protagonisten die meiste Zeit fern oder versteckt. Eine Nahaufnahme gibt es nicht.

Der Katalane Albert Serra hat als Filmregisseur, etwa von Der Tod von Ludwig XIV (2016) und dem Casanova-meets-Dracula-Streifen Story of My Death (2013), die Kunst der Verschmelzung verschiedener Sphären geübt. Auch in Liberté gibt es diese Momente, in denen das Triviale das ganze Stück zum Leuchten bringt. Das liegt nicht primär daran, dass der Parkplatz als Ort für flüchtigen, heimlichen Sex genutzt wird, sondern dass die Gruppe exilierter französischer Libertins um die Duchesse de Valselay (Ingrid Caven) mit großem Ernst darüber spricht, wie sie die Libertinage nach Preußen bringen können. Die Albernheiten sind bei einem solchen Plot kaum zu vermeiden, Serra legt es aber ohnehin darauf an. Die zweite Hauptfigur, zumindest nominell, spielt Helmut Berger als Duc de Walchen, der fast das gesamte Stück über im Halbschlaf zu sein scheint. In seiner Sänfte kriegt er nur ab und an Besuch und unterhält sich etwa über Liebschaften und Syphilis. Erhaben ist da vor allem das Tableau, das sich von den unsicheren Körpern und ihren suchenden Bewegungen nicht aus der Ruhe bringen lässt – ganz wie der alternde Star.

Gleichzeitig entrückt und präsent

Liberté wechselt zwischen intensiver Beiläufigkeit und beiläufiger Intensität hin und her. Von den Konversationen bleibt insbesondere der Versuch in Erinnerung, einen ausgetüftelten Deal auf die Beine zu stellen, bei dem sich die Franzosen mit den Preußen zusammenschließen. Polynesische Frauen sollen importiert und Geldscheine in Umlauf gebracht werden, damit sich am Ende eine neue Wirtschaft durchsetzt – basierend auf sexuellem Bedarf natürlich. Es erinnert an die Theorie des Soziologen David Graeber, nach der es einen Zusammenhang zwischen Sklavenhandel, Schulden und unserer heutigen Wirtschaftsordnung gibt.

Als Erlebnis ist Liberté gleichzeitig entrückt und sehr präsent, weil die Stimmung, in die es den Saal badet, sehr ungewohnt ist. Nach und nach setzen sich die Ruhe, die fernen Stimmen, die häufige Nacht wie ein Schleier über das Stück und fördern eine entspannte, meditative Aufmerksamkeit, die sich für die Details öffnet, die nicht im Vordergrund stehen. Was passiert gerade in der hinteren Sänfte, während vorne parliert wird? Wie bewegen sich die Schauspieler, die gerade nicht sprechen? Was hat es auf sich mit den Vorhängen, die auf- und zugezogen werden, wer trägt welches Gestell, wie fassen sie es an? Es gibt keine Nahaufnahmen, aber die Tableaus laden dazu ein, sich in ihnen zu verlieren. Im Detail wirken sie erhaben.

Das Alberne hilft dem Erhabenen

Fehlende Anker, offene Räume und keine Szenen, die es den Schauspielern erlauben, ihren Figuren (und sich selbst) Profil zu geben: Serra setzt darauf, Konventionen des Theaters zu brechen. Kein Wunder, dass Caven dazu ein Wörtchen zu sagen hat. Vor allem wenn der Regisseur im Gespräch die Verantwortung so gerne von sich weist. Er spricht von Methoden, die er anwendet, spricht vor allem von dem Drei-Kamera-Setup, das er fürs Kino einsetzt, damit die Schauspieler nicht wissen, welches Bild entsteht. Dass er für die Ergebnisse nichts könne, muss man Serra nicht durchgehen lassen. Später in der Nacht in einer Kneipe in der Nähe, er hat lange mit Freunden und Fans gesprochen, fängt er an, Regisseure aufzuzählen, deren Arbeiten er nicht ausstehen kann. Die Leidenschaft und die Leichtigkeit, mit der er sich da offenbart, zeigt, aus welchem Stoff er gemacht ist. Was er sagt, ist albern. Der Donner seiner Urteile, der ist erhaben. Und wieder zeigt sich: Das Alberne hilft dem Erhabenen, es bereitet ihm den Boden.

Offenlegung: Frédéric Jaeger hat in den letzten Monaten zwei Veranstaltungen in der Volksbühne moderiert. Die Vorstellung von Fabrizio Ferraros Les Unwanted de Europa und das Gespräch zu Film und Philosophie fanden in Zusammenarbeit mit critic.de statt.

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