Agnès Varda: Filmfotomontage

„In meinem Kopf existieren Film und Fotografie nebeneinander als Paar, als verfeindete Geschwister ... nach dem Inzest.“ Agnès Varda über ihre Arbeit mit den beiden Medien: In Zusammenarbeit mit dem Schüren Verlag präsentieren wir Textfragmente der Fotografin und Filmemacherin.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem kürzlich erschienenen Buch Viva Fotofilm bewegt/unbewegt, das eine Einführung, Analyse und Reflexion des Fotofilms bietet. Darunter finden sich Essays etwa von Raymond Bellour, Christa Blümlinger, Hubertus von Amelunxen, Gerd Roscher oder Daniel Kothenschulte sowie Gespräche mit Theoretikern und Praktikern.

„Unter Fotofilmen verstehen wir Filme, die im Wesentlichen auf Fotografien basieren. Fotos im kinematografischen Kontext erzeugen eine filmische Erfahrung. In Fotofilmen wird das Medium Film in seine Bestandteile zerlegt. Fotofilmautoren experimentieren mit dem Verhältnis zur Sprache, Ton und Bild, sie reflektieren über die Beschaffenheit des Kinematografischen. Sie lassen uns Kino denken“.

Aus der Einführung der Herausgeber Katja Pratschke, Gusztáv Hámos und Thomas Tode

Agnès Varda

FILMFOTOMONTAGE

Textfragmente, ausgewählt von Christa Blümlinger


Agnès Varda: Ulysse (F 1982), die Fotografin Varda


DIE ANFÄNGE: MALEREI-FOTO-FILM

Ich hatte mein erstes Studienjahr an der École du Louvre abgeschlossen, weil ich die Malerei liebte, vor allem ältere Malerei, aber auch, und das ist ein großer Sprung, zeitgenössische Malerei. [...] Die Maler des 19. Jahrhunderts haben mir nie besonders gefallen, auch wenn ich manchmal Ausstellungen von Delacroix und Courbet besuche. Trotz meiner drei Jahre an der École du Louvre, als Gasthörerin mit keinen allzu guten Prüfungsnoten, hatte ich keine Lust, in einem Provinzmuseum Karteikarten zu sortieren. Ich sagte mir, dass der Beruf des Fotografen gar nicht so schlecht sei, weil man schöne Geräte hatte, mit denen man herumspielen konnte, Apparate und Objektive, und lernen konnte, in einem Labor zu arbeiten: alles in allem ein handwerklicher Beruf, der einem erlaubte, die Dinge genauer zu betrachten.

Zunächst habe ich – ganz bescheiden – eine Ausbildung bei zwei alten Fotografen erhalten, die inzwischen verstorben sind und die sich auf Werke von Malern und Bildhauern spezialisiert hatten. Ich begleitete sie immer zu den Künstlern und ins Rodin-Museum. Eine richtige Ausbildung, wie es sich gehört. Das bedeutete Vollzeit-Arbeit und Abendkurse an der École de Vaugirard, um das C.A.P. zu erlangen, eine Bescheinigung zur beruflichen Tauglichkeit, das man damals noch benötigte, um einen Beruf auszuüben. Wie der Zufall es wollte, hatte Andrée, ein Mädchen aus der Nachbarschaft in Sète, wo ich großgeworden war, Jean Vilar geheiratet, und als [Vilar] das Theaterfestival von Avignon ins Leben rief, habe ich dort meine ersten Fotos gemacht. [...] Ich habe alles Mögliche getan, damit man mir während des Festivals Unterkunft und Verpflegung gewährte. [...]

Die Fotos des ersten Festivals waren grauenvoll, völlig unscharf, einfach unglaublich. Ich bekam es nicht besser hin, für die Fotos hätte man eigentlich posieren müssen, weil die Bühne nicht ausreichend beleuchtet war. In den folgenden Jahren habe ich die Festivals von Avignon komplett dokumentiert, und als 1951 in Paris das T.N.P. [Théâtre National Populaire] wieder eröffnet wurde, [...] habe ich dort meine Arbeit fortgeführt und wurde immer besser. Das war eine faszinierende Zeit: die Arbeit, die dort geleistet wurde, Vilars Bestreben, den damaligen Gebräuchen und allem, was damals üblich war, zum Trotz ein öffentliches Theater für jedermann zu schaffen, das nicht viel Geld kostete und trotzdem einen hohen Standard besaß, [...] Dinge, die heute selbstverständlich sind, 1951 aber noch unvorstellbar waren. [...]

Für das T.N.P. und Vilar habe ich zehn Jahre lang gearbeitet. [...] Ich war noch jung, wirklich sehr jung, und es ist schon eine Sache, wenn man als Jugendliche so viel Verantwortung bekommt. Ich habe da quasi alles gemacht: die Szenenfotos, die Probenfotos, die Fotos zur Illustration der Begleithefte, die Schauspielerporträts für die Eingangshalle, die Fotos für die Presse, die Reportagen und noch eine ganze Reihe von Aufnahmen fürs Archiv, die Vilar haben wollte; dann die Unterseite der Bühne, den Bühnenaufbau, das nackte Bühnenbild, d. h., es entstand durch meine Arbeit wirklich ein Archiv und keine Fotos, wie sie die Pressefotografen machen, die vorbeikommen und nur Nahaufnahmen schießen. Und für jede Inszenierung habe ich mir viel Mühe gegeben: dass die Fotos aus dem Prinz von Homburg romantisch, die Fotos aus Mutter Courage distanziert und die Fotos für Arturo Ui wie aus einem Gangsterfilm aussahen, so was eben. [...] Eins kam dann zum anderen dazu. Die Zeitschriften, die meine Fotos vom T.N.P. veröffentlicht hatten, buchten mich. Man schickte mich auf Reisen und ich wurde zur richtigen Fotoreporterin. [...]


Agnès Varda: Ulysse (F 1982), die Filmemacherin Varda

Die Sache ist schon seltsam: Fotografin sein, das bedeutete weniger das Sehen als die Idee von einem vollständigen Beruf, man ging vom Sehen zur Realisierung über, man machte es einfach, und es kam ein Bild heraus, das man fabriziert hatte. [...] Ich bin dazu übergegangen, Porträtfotos zu machen, einfach so, mit dieser Unbeweglichkeit, wenn man versucht, sich einem Leben zu nähern, mit diesem Rätsel der angehaltenen Bewegung. Ich fühlte mich nie zur Filmemacherin berufen, aber in unserer Existenz steckt eine Inszenierung [mise en scène]. In der Bewegung, die eine Momentaufnahme in unserer Existenz enthüllt, steckt eine Inszenierung [mise en scène] im Rohzustand, ein rohes Hineingestelltsein. Man fotografiert beispielsweise fünf Personen auf einem Platz oder das, was man hier vom Fenster aus auf der Schneedecke sieht: Plötzlich graben sich die Formen und Linien perfekt ein. Ich will damit sagen: Einen Moment zuvor sind sie noch ein bisschen zusammengestaucht und gedrängt, und einen Moment später ist die Verteilung der Dinge im Raum perfekt. [...] Ich bin stets sehr ergriffen durch die Bewegungen, die sich arrangieren, um schließlich einen Augenblick der Schönheit zu erlangen und sich dann wieder aufzulösen. Die Bilder des Alltagslebens besitzen eine Zerbrechlichkeit und eine Emotion, die nicht festgehalten werden kann, außer zuweilen durch ein Foto. Aber der Film kann diese Emotion neu erfinden.

Ich glaube, ich hatte erstmals Lust, einen Film zu machen, weil ich mir gesagt habe, dass es schön sein muss, eine Form zu finden, die zugleich Fotografie, aber auch Ton und deren Distanz und Verschiebung zueinander ist. [...] Ich stand außerhalb des intellektuellen Pariser Lebens, ich las kaum Zeitungen. Ich hatte keine Ahnung, wer angesagt war und wer was machte. Ich hielt mich mehr in der Gesellschaft von Handwerkern, Bildhauern und Malern auf: Menschen, die meist jenseits und außerhalb des aktuellen Tagesgeschehen tätig sind.

Als ich 1954 meinen ersten Film vorbereitete, schrieb ich ihn, wie ich es für richtig hielt, als eine Art film brut – Film im Rohzustand. Aber ich hatte Fotos im Fischerviertel »La Pointe Courte« gemacht, das dem Film später seinen Titel geben sollte. Fotos von jeder Einstellung, von jedem Schauplatz, und von den anderen hatte ich Zeichnungen angefertigt. Der Film war szenisch komplett aufgegliedert, eine Sache, die ich später nie wieder gemacht habe: Einstellung für Einstellung, Bild für Bild, in welchem Moment der Dialog aufhört und in welchem Bild er weitergeht. [...] Ich hatte damals überhaupt keine Ahnung, hatte niemals zuvor eine Filmkamera gesehen. Ich habe den Film zu Ende geschrieben und ihn in die Schublade gesteckt, so wie man seine Jugendgedichte wegschließt; wie etwas, das man niemals veröffentlichen will. [...] Es war Zufall, dass ich dann Carlos Vilardebo kennenlernte, der zu mir sagte: »Warum machst du eigentlich keinen Film?«

Auszug aus der Radiosendung Nuits magnétiques vom 27.3.1978, France-Culture, Tonarchiv des INA (Institut National de lAudiovisuel) Nr. 78C1050N3074, durchgesehen von A. V.


Agnès Varda: La Pointe Courte (F 1955), Standbild


LA POINTE COURTE (F 1954/55)

Für den Schnitt des Films ist Alain Resnais in den Kreis der unbezahlten Mitstreiter eingestiegen. Wenn ich seine klassischen Züge betrachte, kann man nicht umhin, seine Leidenschaft und Neugierde für die Kunst, die Kultur und alle Arten von surrealistischen Komplexitäten zu sehen. Er hat selbst eine Einstellung gedreht, die noch fehlte. In der Tat: In meinem Hof wurde ein Zwischenbild einer Strasse von »La Pointe Courte« gedreht! [...]

Während des Schnitts 1955 [...] wurde Resnais oft von einem Mann angerufen: Chris Marker. Wenn er vorbeikam, sah man von ihm eigentlich nur seinen Ledermantel, Stiefel, Handschuhe und Brille. Er ist dermaßen diskret und öffentlichkeitsscheu, dass er sich von einem Kater namens Guillaume-en-Egypte vertreten lässt. Er hat fantastische Filme gemacht und herausragende Kommentare verfasst. An ihn wende ich mich, er ist mein Freund und Diskussionspartner. Aber ich habe seine Stimme verändert:

G.- e.-E. alias C. M.: Warum bist Du von der Fotografie zum Film übergegangen?

A. V.: Ja, ich erinnere mich, dass ich damals Lust auf Worte hatte. Ich dachte, wenn man auf der einen Seite die Bilder hat und auf der anderen die Worte, ergäbe das Film. Natürlich habe ich begriffen, dass dem nicht so ist – aber erst später.

C. M.: Warst Du cinephil?

A. V.: Nein, ich war nicht cinephil. Bis ich 25 war, hatte ich höchstens neun oder zehn Filme gesehen. Ich war auch auf keiner Filmschule, habe niemals als Filmassistentin gearbeitet. Ich habe mir einfach etwas ausgedacht und mich dann an die Arbeit gemacht. [...]

Auszug aus der Tonspur des Films Les Plages d’Agnès (F 2008).


Agnès Varda: Salut les cubains (F 1963), Animation aus Bildwiederholungen


SALUT LES CUBAINS (F/KUBA 1963): SOZIALISMUS UND CHA-CHA-CHA

Eingeladen von den Kubanern zu den Feierlichkeiten vom Jahresende 1961 nahm ich eine Rolleiflex- und eine Leica-Kamera mit; und das Vorhaben, Fotos zu machen und sie nach der Rückkehr abzufilmen. Mir stand keine dieser neuartigen Weiterentwicklungen zur Verfügung, wie z. B. ein motorisierter Auslöser, der den Verschluss öffnet und Serienbilder wie ein kinematografisches Maschinengewehr schießt. Ein kleines wackeliges Stativ war alles, was ich zur Unterstützung hatte, und die Leica musste ich immer zweimal spannen, so dass zwischen jedem Klick ein paar Sekunden lagen. Anstatt also eine kontinuierliche Bewegung wiederherzustellen, indem man zeitlich nah aufeinanderfolgende Bilder abfilmt, konnte ich nur eine holprige Abfolge erlangen; wodurch der Film den Rhythmus des Cha-Cha-Cha, des Boleros, des Dansons und des Guaguancos bekam.

Zurückgekehrt nach Paris mit etwa 3000 Fotos im Gepäck, habe ich das Abfilmen vorbereitet, indem ich sorgfältig ausrechnete, wie lange die ausgewählten Musikstücke dauern würden. Dann kam das Trickfilmstudio (bei dem die Kamera senkrecht über den Fotografien angebracht ist), wo Bild für Bild abgefilmt wird und zwar je nach der Anzahl der von jedem Foto, jedem Detail oder auch jeder Bewegung zu drehenden Einzelbilder. Über Kuba hatte Chris Marker ein Jahr zuvor den Film Cuba si (F 1961) gedreht. Ich profitierte von einigen seiner Kontakte, aber auch davon, dass es mir leicht fiel, mich auf spanisch mit den Kubanern zu verständigen; mit ihrem meridionalem Sozialismus. Der afro-amerikanische Sozialismus ist bei weitem amüsanter als der des Ostens. Der Gesang von Beni Moré ist wesentlich tanzbarer als der Chorgesang der Sowjetarmee. [...] Das Porträt, das ich von Fidel gemacht habe, erscheint mir äußerst allegorisch: ein Soldat mit sanften Augen, ohne Waffen und mit Flügeln aus Stein.

Auszug aus: Varda par Agnès: Paris: Éditions Cahiers du Cinéma 1994, S. 133.


Agnès Varda: Ulysse (F 1982) Collage, auch die folgende Abbildung

DIE TONBILDSCHAU IM ANTIKEN THEATER

Mit Cléo de 5 à 7 (Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7, F 1961) hatte ich beschlossen, nur noch Filme zu machen und die Fotografie aufzugeben. 20 Jahre später baten mich Antoine Cordesse und Lucien Clergue einen Abend für das Théâtre Antique d’Arles vorzubereiten, eine kommentierte und abgemischte Tonbildschau. Da musste ich mich wieder mit meinen alten Fotografien befassen und ich entdeckte sogar Bilder, von denen ich niemals Abzüge gemacht hatte. Das hieß Schnitt und Mischung mithilfe der hervorragenden Techniker des Centre Pompidou, Verwenden eines Trommel-Systems für die Diapositive und Synchronisierung zum Wechseln der Dias und für den Einschub von Filmausschnitten (in denen Fotografie eine Rolle spielte).

Auszug aus: Varda par Agnès, Paris: Éditions Cahiers du Cinéma 1994, S. 134.


ULYSSE (F 1982)

Als ich das Festival von Arles vorbereitete, fiel mir auf, dass eine meiner Fotografien seit über 20 Jahren in meinem Atelier an einem Schrank hing. Irgendwie schien sie wichtig zu sein und ich fragte mich, warum. Diese Fragestellung wurde zum Gegenstand eines Kurzfilms. Und der kleine, im Zentrum des Bildes sitzende Junge mit Namen Ulysse [= Odysseus] gab dem Film seinen Titel; übrigens ein Name mit mythischem Bezug. [...] Dieser Kurzfilm hat mir mehr über mich selbst enthüllt als hundert Gespräche, von kleinen Entdeckungen bis zur Frustration.

Ich habe ihn Bienvenida gewidmet, einer großartigen Frau, die ich 1950 oder 1951 kennen lernte. Sie, ihr Mann und ihr damals zwei bis drei Jahre alter Sohn Ulysse hatten als politische Flüchtlinge von Spanien aus die Grenze zu Fuß überquert. Wir teilten uns den Hof in der Rue Daguerre. Bienvenida half mir bei allem und machte sich Stück um Stück mit der Arbeit im Fotolabor vertraut. Sie vergrößerte die Fotos, versiegelte sie und sang dabei lauthals Lieder aus ihrer Heimatstadt Alicante, als würde sie Oliven ernten. Ihre Großzügigkeit, ihr wunderbarer Humor und ihre freisinnige Redeweise begeisterten mich. Zum Beispiel klopfte sie niemals an die Tür, bevor sie eintrat. Sie sagte immer: »Eine Republikanerin braucht nicht um Erlaubnis zu bitten, eintreten zu dürfen.«

Auszug aus: Varda par Agnès, Paris: Éditions Cahiers du Cinéma 1994, S. 135-136.

 

UNE MINUTE POUR UNE IMAGE (F 1983)

Eine Serie von Minifilmen über das Bild und das Eingebildete, präsentiert durch das Centre National de la Photographie und allabendlich auf FR3 ausgestrahlt. Jede aus 15 Sendungen bestehende Filmserie wurde einer anderen Persönlichkeit anvertraut und zeigt deren »imaginäres Album«. Unter diesen Persönlichkeiten finden sich neben Agnès Varda u. a. Robert Doisneau, Christian Caujolle, Henri Cartier-Bresson und Samia Souma.

Wenn ein Foto im Fernsehen, Kino oder Kintopp auftaucht, geht das immer zack-zack, Aktion-Illustration, Wirkkraft-Bewegung, und wir werden zuweilen bis zum Rausch und zur Verzückung mit einem Bilderstrom überflutet, die illustrieren und »beweisen«. Wir sprechen dagegen von »Fotografien«, also unbewegten Bildern, die über die Darstellung ihres Gegenstandes hinaus zu Zeichen und Symbolen unserer mentalen Welt werden ... Aber aufgepasst! Es handelt sich hier nicht um kritische oder historische Untersuchungen zur Fotografie. Was uns interessiert, ist das »Bild an sich«; gemacht von einer Person und betrachtet von einer anderen, die es »liest«, und Hunderten weiteren Zuschauern, Liebhabern und Neugierigen vorgelegt.

Immer nur ein einziges Foto, sei es schwarz-weiß oder farbig, zeitgenössisch oder alt, eine Porträt- oder Gruppenfotografie, ein Reportagebild oder ein aktuelles Modefoto ... (gemacht von berühmten und weniger berühmten Fotografen, oder von Unbekannten). Eines pro Tag, und recht spät ausgestrahlt, damit es sich kurz vor dem Schlafengehen im Kopf einprägt. Stets 89 bis 90 Sekunden lang (nach dem Motto »immer mit der Ruhe, ich schlaf schon fast«). Eine gute Dauer für einen Blick auf eine Fotografie, was noch lange nicht heißt, dass man in 80 Sekunden ein Bild komplett erfassen kann. Und keine Musik, während das Bild zu sehen ist; das trübt den Blick. Dazu ein Kommentar, aber keinesfalls in den ersten oder letzten zehn Sekunden des Films (man sollte es kaum glauben, aber im Fernsehen kommt es selten vor, dass man ein Bild in aller Stille betrachten kann, wenn auch nur für zweimal zehn Sekunden). Die Stimmen sind unterschiedlicher Herkunft: von Fotoliebhabern, Passanten, Amateuren, Nachbarn, Freunden, anderen Fotografen, Prominenten, Kindern ... Und kein Star-System: Jedes Fotos bekommt seine Chance, ihr Autor wird erst am Ende des Films enthüllt.

Une Minute pour une image ist eine Serie von kleinen Filmen über die Bilder und das Imaginäre, es sind Variationen über den Blick und die Blicke, und es ist eine Gelegenheit, Fotografien zu zeigen, die es wert sind, dass man sie anschaut. (Und natürlich ist es auch eine Hommage an das Talent der Fotografen). Als ehemalige Fotografin und als Filmemacherin, die fasziniert ist von der Wirkung der Sprache auf das Bild und umgekehrt, hatte ich die Idee, »jede Fotografie als einen Ort zum Träumen« zu präsentieren. Ich dachte daran, dass ein wenig Stille und eine Stimme, die persönliche Eindrücke übermittelt, die Vorstellungskraft eines jeden einzelnen Zuschauers herauskitzeln könnte. Wenn ich »Träumen« sage, meine ich damit Gefühle wie Schrecken und Faszination, Sympathie, Bewunderung, Vergnügen, Nostalgie und Komplizenschaft im Humor; kurz gesagt, ich meine aktives Träumen, »das kleine Kino im Kopf eines Jeden«. Ich habe die Reihe folgenden Leuten vorgeschlagen:

  1. – Garance, die bereits meinen Kurzfilm Ulysse produziert hatten (20 Minuten über eine Fotografie, die ich 1954 gemacht habe)
  2. – dem Centre National de la Photographie, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die »Fotografie« einem möglichst breiten und aufgeschlossenen Publikum zugänglich zu machen
  3. – dem Sender FR3, der bereits jeden Abend ein Mini-Konzert in sein Programm aufgenommen hatte.

Zu dieser Stunde sehen anscheinend etwa eine Million Menschen fern. Warum sollen wir ihnen nicht die Möglichkeit geben, zunächst etwas zu sehen zu bekommen, bevor sie hören, und sie auf eine kleine Reise durch die Welt der Fotografie zu schicken? Sei gegrüßt, erwachter Traum! Macht Platz der Fantasie, der Obsessionen, den überwältigenden Bildern, für die Spiegelspielerei der Blicke.

Aus: Photogénies, Nr. 1, April 1983.


DREI ANTWORTEN AUF DREI FRAGEN ÜBER: FOTO UND FILM

1. FRAGE: In welchem Film bzw. in welchen Filmen erhält Ihrer Meinung nach das Foto (und die Tätigkeit des Fotografierens) seinen ihm gebührenden Platz?

A. V.: Blow-up (GB 1966) hat mir sehr gut gefallen. Antonioni zeigt darin die lächerlichen Exzesse eines modischen Modefotografen und den manischen Ernst, mit dem er seiner Arbeit nachgeht. Das Foto wurde hier – weil das Drehbuch es verlangte – selbst zur geheimnisvollen Oberfläche. Das fotografische Bild hielt Geheimnisse zurück, es wehrte sich gegen den Blick. Es gefällt mir, wenn Fotografien Widerstand leisten. Deshalb hat es mir auch solchen Spaß gemacht, das Foto in Ulysse zu filmen, das selbst nach 22-minütiger Betrachtung und Untersuchung ein Ort zum Träumen und Erforschen bleibt. Je mehr man sich dem Bild nähert, desto mehr weicht es aus.

Deshalb mag ich Filme, in denen das fotografische Bild selbst zum Gegenstand wird und zum Objekt für Gefühle. Wie zum Beispiel in Olsztyn, Pologne (F 1981), einem Kurzfilm von Vincent Tamisier, oder in Alice in den Städten (D 1974) von Wim Wenders, oder in komischer Variante in Pane e cioccolata (Brot und Schokolade, I 1974), in dem der arme Manfredi aufs Polizeikommissariat befohlen wird, weil er im Hintergrund des Polaroid-Fotos eines Hobbyfotografen zu sehen ist, auf dem er – was die Fotografie eindeutig beweist – sich erdreistet, an einen Schweizer Baum zu pinkeln! Und dann gibt es Filme, die ausschließlich aus Fotografien entstehen, wie Chris Markers bewundernswerter La Jetée (F 1962), der es wagt, inmitten all dieser unbeweglichen Bilder ein bewegtes zu zeigen: die sich öffnenden Augen einer Frau.

2. FRAGE: Können Sie vom Foto etwas über den Film lernen oder umgekehrt?

A. V.: Die Fotografie hört nicht auf, mir beizubringen, wie man Filme macht. Und das Kino erinnert mich ständig daran, dass das Filmen von Bewegung vergebene Liebesmüh ist, denn jedes Bild wird zur Erinnerung, und jede Erinnerung erstarrt und wird unbeweglich. In jeder Fotografie gibt es die Aufhebung einer Bewegung, die schließlich nichts anderes ist als die Verweigerung von Bewegung. Aber die Bewegung ist in ihr eingraviert. In jedem Film steckt der Wille, das sich bewegende Leben einzufangen und das Unbewegliche abzulehnen. Doch das unbewegte Bild ist in den Film eingraviert, wie eine drohende Projektorpanne, wie der lauernde Tod.

3. FRAGE: Sind Foto und Film Vettern ersten Grades oder verfeindete Brüder?

A. V.: Der Film und die Fotografie, ineinander graviert, verweisen gegenseitig auf ihre jeweils spezifischen Merkmale. In meinem Kopf existieren Film und Fotografie nebeneinander als Paar, als verfeindete Geschwister ... nach dem Inzest.

Aus: Photogénies, Nr. 5, April 1984, die Fragen stammen von Raymond Bellour und SylvainRoumette.


Agnès Varda: Ma Cabane de l‘échec, 2006, Ausstellungsansicht der Installation L‘ile et elle, 2006 in der Fondation Cartier


MA CABANE DE L’ÉCHEC

Eine Installation aus Vardas Ausstellung L’Île et Elle in der Fondation Cartier 2006.

Diese Hütte hat eine Geschichte. Es waren einmal zwei schöne und begabte Schauspieler, die in einem Film gespielt haben, der ein Flop wurde. Als echte Sammlerin habe ich die verwaisten Kopien gerettet und die Akte abgespielt. So fanden sich die beiden schönen und begabten Schauspieler an der Wand von Ma Cabane de l’échec wieder und an Mauern, durchdrungen vom Licht. Was ist Kino? Licht, dass von irgendwo herkommt und von mehr oder weniger dunklen oder farbigen Bildern zurückbehalten wird. Wenn ich dort bin, habe ich das Gefühl, als wohnte ich im Kinosaal, als sei es mein Zuhause, als hätte ich schon immer dort gewohnt.

Auszug aus der Tonspur des Films Les Plages d’Agnès (F 2008).


Die Textzusammenstellung wurde von Agnès Varda 2009 redigiert, übersetzt von Bettina Arlt.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus Viva Fotofilm bewegt/unbewegt, hg v. Katja Pratschke, Gusztáv Hámos, Thomas Tode (Marburg: Schüren 2010), 368 Seiten, 29,90 Euro.

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