Abgründiges Vexierspiel: Zum Undergroundkino Marian Doras
Seit mehr als 30 Jahren produziert der enigmatische, unter Pseudonym arbeitende Regisseur Marian Dora konfrontatives Exploitation-Kino. Zwischen radikaler Reduktion und maximaler Entgrenzung, Traditionsrekurs und präzedenzlosem Exzess ist ein Werk entstanden, das im zeitgenössischen Genrekino seinesgleichen sucht.
Rabiate Konzentrate: frühe Kurzfilme

Bevor Dora mit seiner notorischsten Schöpfung Melancholie der Engel (2009) sukzessive zu einem der auch international kontrovers rezipiertesten Extremregisseure avancierte, entstand, überwiegend noch unter dem Namen Marian D. Bolutino, ab Anfang der 1990er-Jahre eine Reihe von Kurzfilmen, die in Umfang und Chronologie nur schwer nachzuvollziehen ist. Viele dieser Arbeiten erschienen Jahre nach Fertigstellung und ohne genaue Angaben zum Entstehungszeitpunkt in unterschiedlicher, meist thematisch verbundener Zusammenstellung als Heimmedien-Bonus-Features. Zuvor zirkulierten sie klandestin; zumindest das Underground-Mythologie-berankte Episoden-Tape Blue Snuff wurden auch in Programmvideotheken wie dem Berliner Videodrome verliehen und schaffte es als Necro Snuff in die USA.

Doras frühe Werke sind rabiate Konzentrate der realistisch orientierten Tendenzen des Horrorfilms, ohne großen narrativen Überbau und in alltäglich erscheinenden Settings präsentierte, exzedierte Klimaxszenen des Genres. Missbrauch, Mord, Fetisch-Sex, Leichenhallen, Nazis, mehrheitlich offen pornografisch. Maximales Unbehagen resultiert aus einem minimalistischen Ansatz. Die dialoglosen Szenarien bieten keine Erklärung, Identifikationsfläche, keinen Kampf Gut gegen Böse, schon gar nicht mit triumphierendem final girl – zwanghafte Gewalt richtet sich gegen hilf- und widerstandslose Opfer, mit deren Tod nach oft weniger als zehn Minuten schon wieder Schluss ist.
Verfemte Traditionslinie des Exploitationkinos

Der offen voyeuristische Blick erscheint dabei nie als selbstreflexiv-medienkritische Geste, sondern verschärft den zwielichtigen Charakter. In Es geschah in Gotha, der in einem tödlich endenden Amateurporno-Dreh kulminiert, tritt der Kameramann ins Bild, um die Hinterlassenschaften einer Frau aufzusammeln, die zuvor ausdauernd in unsteten, auf die dirigistische Instanz aufmerksam machenden Camcorderbildern gezeigt wurde, wie sie in den Schnee fäkiert. Im ähnlich gelagerten, programmatisch betitelten Provokation entspricht der Zuschauerblick dem des männlichen Protagonisten, als er seine später zerlegte Partnerin beim Toilettengang durchs Schlüsselloch beobachtet.

Mit dem Mondofilm orientiert sich Dora zudem wiederholt an einer besonders verfemten Traditionslinie des Exploitationkinos, wobei sowohl die reisedokumenatrischen und „zivilisationskritisch“ imprägnierten Varianten als Einflüsse hervortreten (etwa in Subcimitero, der videographierten Begehung einer südamerikanischen Gruft, oder Schlachthausszenen in Opus Hominis), als auch die todeszentrierte Härte berüchtigter Kompilationsstreifen à la Faces of Death. Explizite Aufnahmen einer realen Obduktion werden im Halbstünder Frühlingsgefühle von idyllischen Aufnahmen eines Sonnenuntergangs gerahmt, dienen diegtisch verlagert in Sane Impression 2 dem ehemaligen Dora-Regular Carsten Frank zur Masturbationsvorlage und sind in einem ähnlichen Zusammenhang auch Teil des ersten Langfilms Cannibal (2006).
Doras Lommeleien: Cannibal

Diese Selbstzitat- und Remix-Strategien verweisen auf die Nähe zu Filmemachern, die angesichts der Drastik des Frühwerks nicht unmittelbar als Bezugspunkte hervortreten. Tatsächlich war Dora parallel zu seinen ersten eigenen Arbeiten auch als Assistent in die späten Projekte diverser europäischer Genreregisseure involviert, die ihre Blütezeit in den 1970er- bis 80er-Jahren hatten. Bekannt sind zumindest Zusammenarbeiten mit Jess Franco, zu dessen Incubus die assoziative Behind-the-Scenes-Montage Journey into Peversion entstand, und vor allem mit dem sich oft hemmungslos durchs eigene Werk sampelnden deutschen Maverick-Filmer Ulli Lommel, den Dora unter anderem mit (in Deutschland gedrehten) Second-Unit-Szenen bei einem billigst in den USA für den Verleiher LionsGate produzierten Zyklus an Direct-to-DVD-Reißern über skandalträchtige Mord- und Todesfälle unterstützte.

Cannibal entstand als Auftragsarbeit innerhalb dieser LionsGate-Reihe und basiert auf dem „Kannibalen von Rothenurg“, Armin Meiwes, der vier Jahre zuvor einen im Internet gefundenen Partner, offenbar im gegenseitigen Einvernehmen, verstümmelt, umgebracht, später gegessen und den Vorgang per Video dokumentiert hatte. Dora hält sich an die zentralen Stationen der Mordtat und inszeniert drastisch ungewöhnliche Details, darunter das Abschneiden und gemeinsame Verzehren des Penis des Opfers. Er will jedoch auf kein karges True-Crime-Protokoll hinaus. Stärker noch als im Kurzfilm-Frühwerk wird roher Realismus mit einem unbedingten Stil- und Bizarreriewillen verklammert. Es etabliert sich eine distinkte ästhetische Signatur.
Irreale Nebelwelt

Entrückte Close-ups von zähnefletschenden Mündern und aufgerissenen Augen sowie unvermittelt im Bild auftauchende auseinandergenommenen Puppen (ein wiederkehrendes Motiv, sehr wahrscheinlich beeinflusst vom Dora-Favorit Mosquito - Der Schänder) potenzieren die groteske Schlagseite der Vorlage, eingefangenen von einer Consumer-Grade-Digtalvideo-Kamera, die in Kombination mit Rauch- und Kerzenillumination einen verwaschenen visuellen Eindruck zwischen Halbdokumentarismus und irrealer Nebenwelt evoziert. Dazu passt ein auffälliges Sounddesign, das kontrapunktierende Klaviermusik mit sinistren Drones sowie exalierten Synchronstimmen und Audioeffekten (etwa Pferdwiehern beim Analsex der beiden Männer) kombiniert - wie alle Dora-Spielfilmarbeiten wurde Cannibal stumm aufgezeichnet und später nachvertont.

Im sexuell expliziten Aufbau der Männerbeziehung lässt der Film unerwartete Momente der idyllischen Zweisamkeit und humoristische Einlagen zu, etwa wenn die beiden nur „Mann“ und „Fleisch“ genannten Figuren nackt und eng umschlungen Hänsel und Gretel lesen. Mit zunehmender Dauer aber werden die spektakulären Genrepotentiale des realen Stoffs vollumfänglich ausgebeutet und Cannibal wird zu einem Zwei-Personen-Schlachtstück, das sich in einem deutlich zur Horrorlocation präparierten düsteren Landhaus vollzieht. Das finale set piece übersteigert den Fall endgültig ins Absurde: Der Kopf von „Fleisch“ ist am Ende eines üppigen, seltsam anachronistisch aussehenden Banketts drapiert, an dem der in Strapse bekleidete „Mann“ zu festlicher Musik sein Opfer verspeist; auf der Soundspur sind bereits orgasmische Geräusche zu hören, bevor eine Überblendung offenbart, wie sich der nackte „Mann“ zu gemeinsamen Aufnahmen mit seinem Opfer vor einem kleinen VHS-Fernseher selbst befriedigt.
Für Lommel waren solche Grenzüberschreitungen zu viel, er lehnte das fertige Werk als Teil seiner Filmserie ab. Für die deutschen Zensoren auch, ein Jahr nach Veröffentlichung wurde Cannibal bundesweit beschlagnahmt.
Manisch-orgiastischer Mikrokosmos: Melancholie der Engel

Vom Regisseur war dieses Debüt vor allem als Testlauf und Finanzierungsgrundlage für ein seit Längerem mit Carsten Frank geplantes Wunschprojekt konzipiert. Melancholie der Engel entstand schließlich an drei Drehwochen 2008 unter vergleichsweise hohem Zeit- und Kapitaleinsatz. Die Grundstory ist klassische Exploitation-Materie: Zwei mysteriöse Delinquenten mit gemeinsamer, finsterer Vergangenheit, der ungebärdige Brauth (von Pornodarsteller Zenza Raggi mit Anleihen an Jesus und Charles Manson gespielt) und der demgegenüber passivere, offenbar todkranken Katze (Frank), locken zwei Frauen in ein abgelegenes Haus, um sie dort zu misshandeln. Dora arbeitet zudem zahlreiche Motive und Topoi des Horrorkinos durch. Bereits in den ersten Filmbildern präludiert die Produktion von Snuff-Videos. Der später mit einer an den Rollstuhl gefesselten Schutzbefohlenen zur Gruppe tretende Künstler Heinrich wird von Italo-Kultschauspieler Peter Martell in seiner letzten Rolle als Schreckensfigur mit fehlendem Auge gegeben, sein Auftritt spielt ins Werwolf-hafte. Symbolisch und sehr konkret zieht der Tod sich durch den gesamten Film, als permanentes Bedrohungsszenario, in morbide gestalteten Verfallskulissen aus Skeletten und entrückten Puppen-Tableaus, und nicht zuletzt als tatsächliches Sterben. Stärker noch als der Vorgänger widersetzt sich Melancholie der Engel Konventionen des klassischen Erzählkinos.

In einer für das Gesamtwerk beispielhaften Bewegung verlässt der Film früh ein gesellschaftlich noch greifbares Setting aus Jahrmarkt und Kleinststadt hin zu einer isolierten ruralen Deprivationsszenerie (Melancholie der Engel spielt überwiegend im selben Gehöft wie Cannibal), die mit einem Personenarsenal korrespondiert, das aus jedem sozialen Vermittlungszusammenhang herausgefallen scheint und sich in einer eigenwilligen, halbpoetischen Wahnsprache aus kaum aufeinander Bezug nehmenden Deklarationsloops artikuliert. Den manisch-orgiastischen Mikrokosmos dieser Figuren breitet Dora als fragmentierte Fantasmagorie aus, durchzogen von Montagesequenzen, die verschiedene Realitäts-, Zeit- und Bedeutungsebenen durchkreuzen. Trotz der erneut oft in unmittelbarer Distanzlosigkeit am Geschehen klebenden, niedrig auflösenden Kamera bleibt der Film in narrativer Hinsicht obskur und der Zuschauer in der Verarbeitung auf sich selbst zurückgeworfen.
Entlang Verweisen auf Wolfgang Koeppens finsteres Abschiedswerk Der Tod in Rom, religiöse Symbolik, Filmgeschichte sowie diverse (lokale) Mythen und Sagen, vollzieht sich ein wilder, reflexiver Streifzug kulturhistorischer Gedächtnisarbeit.

Derartige Referenzen drängen sich jedoch nicht vor das rezeptionsästhetische Verstörungspotential des Genres, das Dora nie desavouiert, sondern ausreizt: eingeschnittene Brüste, Tiertötungen, Exkremente aller Art. Im sich einer besonders harschen Exzessdramaturgie unterwerfenden Schlussakt gibt es Flashback-Fetzen auf die Folterung einer Schwangeren, der ihr Fötus aus dem Bauch geschnitten wird; eins der weiblichen „Opfer“ kopuliert schließlich mit Bandmaterial der Filmaufnahmen. Als Fluchtpunkt schimmert eine finster-beruhigende Einsicht in die Verbundenheit und Vergänglichkeit alles Seins durch, die der weltverlorenen Hauptfigur final so etwas Ähnliches wie Trost zu spenden scheint und die vorangegangenen Exzesse als bedeutungslose Ausprägungen in einem davon ungestörten Fluss der Dinge perspektiviert. „Ob dieser Mensch nun am Leben oder Tod ist, ist nicht von Bedeutung,“ kommentiert der tote Katze (im Geister-Off-Kommentar von Ulli Lommel gesprochen) sein eigenes Ableben.
Die eskalierenden Paratexte des Exploitationkinos

Eine Dialektik von Realität und Potentalität, Paratext und tatsächlichem Film ist für das Exploitationskino schon lange prägend. Gerüchten zufolge verpflichtete sich der Cast von Ruggero Deodatos Cannibal Holocaust dazu, ein Jahr nach Erscheinen des Werks keine öffentlichen Auftritte und Interviews zu absolvieren, um den Authenzitätsgrad des Films bewusst im Ungewissen zu halten; tatsächlich wurden in der zeitgenössischen Rezeption Vorwürfe bezüglich realer Tötungen laut, die Produzenten mussten sich vor Gericht verantworten. Allan Shackleton wiederum vermarktete einen ursprünglich unter dem Titel Slaughter fertiggestellten Film Roberta und Michael Findlays als Snuff und heuerte Fake-Demonstranten an, die vor Kinos Sturm liefen. In jüngerer Vergangenheit sorgte Lucifer Valentine für Kontroversen, indem er seine Vomit Gore-Filme als Verarbeitungen biografischer Erlebnisse auswies, darunter eine inzestuöse Beziehung zu seiner blinden, autistischen Schwester (eine offensichtlich fingierte Geschichte, die jedoch bereitwillig als Empörungs-Grundlage aufgegriffenen wurde).

Über Melancholie der Engel schließlich kursierten nach der Premiere auf dem Erlangener Weekend of Fear schnell zahlreiche Gerüchte um ethisch unlautere Entstehungsbedingungen; dass zunächst kaum Hintergrundinformationen zum Dreh und den weitergehend unbekannten Schauspielern verfügbar waren sowie streitbare Statements des Regisseurs selbst verstärkten das Mysterium.

Für Dora ist das von ihm beanspruchte Label „Underground“ in erster Linie Konsequenz einer radikalen produktionspragmatischen Logik, die eine prekäre Konfiguration im Verhältnis zwischen Kino und sozialer Realität fixiert: Geringe finanzielle und zeitliche Mittel erlaubten keine aufwendige Effektarbeit, lässt er verlauten, in den Filmen zu sehende Verletzungen und schlimmeres seien also authentisch, die unerfahrenen Schauspieler würden notfalls zu den vom Regisseur benötigten Leistungen manipuliert.
Dora und seine Zerrbilder

Rare Auftritte, aus denen sich dieser Ansatz extrahieren lässt, folgen oft einer strikten Inszenierung: Ein Video, das für die Undergroundkino-Plattform Uncut.TV produziert wurde, zeigt Dora (oder eine ihn darstellende Person) in Tarnhose von hinten in einem Sessel sitzend, neben ihm kniet eine untenrum nicht bekleidete Frau, die als Art menschliche Fernbedienung auf Kommando eine DVD mit Interviewfragen abspielt und anhält. Die einstündige Doku Revisting Melancholie der Engel, in der Dora mit dem schwedischen Filmjournalist Magnus Blomdahl Locations des Films besucht, grenzt das Drehgebiet geografisch klar ein, bleibt jedoch ansonsten wenig konkret. An einer Stelle erzählt der verpixelt und mit verzerrter Stimme erscheinende Dora, dass er einen für Vergehen bekannten Totengräber erpresst hätte, ihm eine alte Männerleiche zur Verfügung zu stellen, in einer Post-Credit-Szene vergleicht er seine Schauspielerführung mit Charles Manson und Andreas Baader. Der Popularität tun solche Aufreizungen (natürlich) keinen Abbruch: Bis heute sind der Regisseur und vor allem Melancholie der Engel Gegenstand zahlreicher Podcast-Episoden, YouTube-Videos und Internet-Spurensuchen, die Filme wurden in diversen Ländern veröffentlicht und in Werken ähnlicher Provenienz zitiert (zum Beispiel sehr direkt vom Schweizer Juval Marlon).

In eigenen Projekten treibt Dora die schlimmsten Befürchtungen und Zerrbilder gegenüber seiner Person weiter auf die Spitze, noch stärker kommt dabei der sardonische Humor zum Vorschein: Debris Documentar, ein im Titel und vom Regisseur als dokumentarisch markierter, aber offensichtlich überwiegend fiktiver, (vermutlich nachgereichter) Making-of-Film zeigt ihn (gespielt von Carsten Frank, aber mit seiner eigenen Stimme synchronisiert) bei Vorbereitungen für Melancholie der Engel, am Set von Ulli Lommels Zombie Nation - und als furzender, Fußschmutz und Popel essender, mit stattlicher VHS-Sammlung isoliert lebender Komplettweirdo, der schließlich im Schlussakt eine junge Schauspielinteressentin misshandelt, umbringt und ihren Leichnam schändet; in einer vorherigen Szene schnüffelt er am Einlaufdurchfall einer Prostituierten, während er von ihr mit kotbeschmierter Hand gefistet wird.
„Die Machenschaften des Herrn Dora“

Im Bonus-Feature-Film Eine Produktion fand nicht statt (dem deutschen Mondoregisseur und zeitweisen Dora-Kollaborateur René Wiesner zugeschrieben) berichtet ein älterer Herr namens Stefan Walther in zunächst authentisch erscheinendem Setting über seinen Kontakt zu Dora. Unvermittelt tauchen Puppenteile im Bildkader auf und die Erzählung kippt ins Abstruse. Der Mann erzählt, dass er das Interesse an der Produzentenschaft eines Dora-Projektes verlor, nachdem er u.a. erfahren hatte, dass der Regisseur am Set von Melancholie der Engel einem Schauspieler mit Hepatitis C befahl, seine Arme aufzuschneiden. Dieser hätte weitere Darsteller vollgespritzt und sei letztlich an einer Blutvergiftung gestorben – eine Begebenheit, die noch ein „harmloses Beispiel für die Machenschaften des Herrn Dora“ sei.

Verbürgt ist zumindest die früh kolportierte Behauptung, dass die ursprüngliche Version von Melancholie der Engel nicht einmal alles an aufgezeichnetem Skandalmaterial enthält. Neun Jahre nach Erstveröffentlichung erschien ein tatsächlich nochmals zeigefreudigerer Extended Cut – der laut Dora aber immer noch lediglich eine Stummelversion des über dreistündigen Ursprungswerk darstellt, gegen dessen ungeschnittene Veröffentlichung Carsten Frank interveniert haben soll, der auch produzentenseitig in das Projekt involviert war und nach dem Film und den Satellitenwerken im Dora-Verse nicht mehr in Erscheinung trat.
Kleinere Projekte: Carcinoma, Reise nach Agathis, Das Verlangen der Maria D., Pesthauch der Menschlichkeit

Infolge zermürbender Erfahrungen im Rahmen der Dreharbeiten zu Melancholie der Engel, die Dora als eskalativen Höllentrip erinnert, zog es den Regisseur wieder zu kleineren und bewusst reduzierten Projekten. Unter dem Pseudonym Art Doran erschien 2014 sein vielleicht geerdetster Film, über einen darmkrebskranken Mann, der zwischen zwei religiösen Bezugssystemen und Selbstoptimierungsappellen seines empathiebefreiten Umfelds unbehandelt gen Tod siecht; das blutig-letale Finale ist dabei ausnahmsweise nicht Folge eines Gewaltakts. Carcinoma wurde fernab filmindustrieller Zusammenhänge konzipiert und bis in die Postproduktion überwiegend als Ein-Mann-Unternehmung realisiert; eine Praxis, die in dem an nur einem Wochenende mit Drei-Personen-Cast entstandenem Reise nach Agatis bereits fünf Jahre zuvor zugespitzt wurde als auch dramaturgisch aufs Äußerste skelettierte Rape-and-no-Revenge-Variation der Ruggero-Deodato-Yacht-Posse Waves of Lust.

Ihre bislang radikalste Ausformung fand Doras Faszination für filmische Ökonomie und die Möglichkeiten, die neue Verfahrensweisen der digitalen Bildproduktion eröffnen, in zwei im Abstand von einem Jahr an wenigen Tagen in Italien entstandenen, mit Handykamera und Fotoapparat gedrehten Filmexperimenten, von denen eines überwiegend in Innenräumen spielt, das andere komplett aus Außenaufnahmen besteht. Beide Werke konturieren sozialdynamisch vergleichbare Szenarien, in unterschiedlicher Tonalität, folgen aber einem ähnlich entnarrativierten Konstruktionsprinzip und erschienen schließlich einige Jahre nach Fertigstellung 2021 als Double Feature.

Im melancholischen, mit blumigem Voice Over versehenen Das Verlangen der Maria D. wird das gewohnt exkrementgeladene Landhaus-Liebes-Idyll einer jungen Frau mit dem Totenschädel ihres Urahns gewaltsam von einem unkontrollierten Eindringling gestört. Pesthauch der Menschlichkeit, eine garstige, tierkadaverreiche Burleske, entwirft die Missbrauchsanordnung in besonders provokanter Konstellation, als Martyrium einer Pflegerin durch einen von ihr umsorgten geistig behinderten Kleinwüchsigen, unter Tolerierung (und schließlich Partizipation) eines weiteren Betreuers.
Der weniger explizite der beiden Filme erweiterte das Dora-Werk umgebende Zwielicht um Vorwürfe bezüglich (u.a. im Bonus-Material der Heimmedien-Veröffentlichung insinuierten) Übergriffigkeiten seitens des mittlerweile verstorbenen Darstellers Marco Klammer an Maria D-Protagonistin Shivabel, die vor Veröffentlichung (aber offenbar nicht: wegen) des Films das Zeitliche segnete.
Physisch wie psychisch angeschlagen: Thomas und Marco

Vorgeblich um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Sicht auf das Geschehen darzustellen, widmete Dora Klammer seinen ersten dokumentarischen Langfilm. In Thomas und Marco (2022) spaziert und diskutiert der Schauspieler mit seinem Kollegen Thomas Goersch, der in Die Reise nach Agatis und Carcinoma mitspielt, durch eine süddeutsche Kleinstadt.
Der Film verfolgt dabei keine strikte dokumentarische Bildpolitik, mit nachbearbeitetem, entsättigtem Look und Dora-typischer Hintergrundmusik rekurriert er auf klar wahrnehmbare mediale Effekte, auch sind die verwendeten Gesprächssegmente ausgeschnitten, thematisch angeordnet und werden mit Archiv-Aufnahmen, die die angesprochenen Themen illustrieren, kombiniert.

Durch den starken Filmfokus der Gesprächspassagen legt insbesondere die erste Hälfte eine recht einzigartige Gegenkino-Geschichte vor, die sich entlang peripherer Phänomene wie dem Sex- und Experimentalregisseur Carl Andersen, einem dreistündigen Pasolini-Porno des Angst-Hauptdarstellers Erwin Leder, Müllfilmer Jochen Taubert oder den dubiosen Geschäftspraktiken von Mike Hunter Video montiert. Immer wieder kommen dabei auch Doras eigene Arbeiten zur Sprache, das Mysterium um viele seiner Schauspieler sowie die kontroversen Drehpraktiken, denen Thomas und Marco nicht unkritisch gegenüberstehen. Der Regisseur selbst bleibt jedoch visuell und akustisch abwesend, stellt keine klassischen Interviewsituationen her und interveniert nicht als Fragesteller, sodass die gefilmten Gespräche sich spontan und äußerlich betrachtet ungerichtet entfalten zu scheinen.
Altersmilde Fehlanzeige

Gerade durch diese Zurückhaltung entsteht zunächst der Eindruck eines empathischen Blicks. Deutlich wird aus biografischen Splittern, dass mit den überwiegend in Komparsen- und No-Budget-Rollen besetzten, physisch wie psychisch angeschlagenen Schauspielern zwei Personen im Mittelpunkt stehen, die ansonsten kaum Gegenstand ausführlicher Dokumentation werden würden; ihnen gibt Dora Raum, sich mitzuteilen, während er gleichzeitig einen gewissen Stand des ebenfalls im Off situierten (deutschsprachigen) Underground-Genrekinos markiert und speichert.
Aber der Verdacht, hier könnte ein altersmildes Werk vorliegen, zerschlägt sich: Bereits eine leichte Ton-Bild-Schere während der Selbstauskünfte, die an die Nachsynchronisation der Spielfilme Doras erinnert, stiftet Skepsis, die sich letztlich in immer offensichtlicher gestellten Szenen bestätigt. Erst kommt es zu unerwarteten Liebkosungen der beiden Männer, später trägt Klammer auf einmal eine schwarze Maske und Goersch wird nackt beim Gewichtheben mit kotverschmiertem Hintern gefilmt. In den Schlussbildern kommt es zum Hotelzimmer-Exzess mit Psychopharmaka, Einläufen und Kotze, während auf der Soundspur eine verzerrte Version der Nationalhymne sowie besonders unvorteilhafte Aussagen der beiden Protagonisten im Loop zu hören sind. Diese deutlichen Inszenierungen stellen letztlich auch zuvor Gesprochenes sowie den ganzen Anlass des Projekts unter Fiktionsverdacht (die Aussagen zum Set-Geschehen von Das Verlangen der Maria D. bleiben ohnehin vage).

Durch die gleichermaßen präzise wie unberechenbare Organisation des Materials versperrt sich Thomas und Marco rein dokumentarischen Lesarten in ähnlicher Weise, wie Doras Spielfilme bewusst den Weg zur vollständigen Fiktionalität durchkreuzen. An dem Film wird besonders deutlich, worin die Herausforderung und Faszination des Werks Doras, mithin des drastischen Underground-Horrors als solchem liegen: Ein Kino, das stille Übereinkünfte zwischen Publikum und Machern aussetzt, keine gesicherte Distanz oder „Katharsis“ erlaubt, das den alltäglichen Morast durchschneidet und in dem abseits legitimer Repräsentationsregime zumindest noch die Ahnung wirklicher Gefahr, unabgegoltener Angst und Regellosigkeit mitschwingt – Verlangen nach Überschreitungen, die im Genrekino seit jeher von entscheidender Bedeutung sind.
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