64. Filmfestival Locarno 2011
In seinem zweiten Jahr als künstlerischer Leiter präsentierte Olivier Père ein ehrgeiziges Festivalprogramm, das mit zahlreichen bekannten Namen aufwarten konnte.

Müsste man sich auf einen klaren Favoriten des internationalen Wettbewerbes festlegen, so würde sich dies 2011 als schwierig erweisen. Während sich in den vergangenen Jahren schnell ein potenzieller Gewinner abzeichnete, wie Winter Vacation (2010), She, A Chinese (2009) oder Parque Vià (2008), so präsentierte sich der Wettbewerb dieses Mal ausgesprochen homogen und – mit wenigen Ausnahmen – überraschend ausgeglichen. Doch auch wenn sich durchaus sehr gelungene und sehenswerte Filme finden ließen, so machte sich mangels eines echten Höhepunktes zuweilen eine leise Enttäuschung breit. Zwar gelang es Olivier Père, eine ganze Reihe wichtiger Regisseure des zeitgenössischen Films einzuladen, doch gerade deren Werke offenbarten sich oft als unausgewogen.
The Loneliest Planet, Julia Loktevs mit Spannung erwarteter zweiter Spielfilm, war ein solcher Fall. Ein junges Paar verbringt den Sommer vor seiner Heirat im Kaukasusgebirge in Georgien. Dort heuern sie einen Bergführer an und brechen auf eine mehrtägige Wanderung auf. Als sie unterwegs von einem Fremden mit einem Gewehr bedroht werden, versteckt sich der von Gael García Bernal gespielte Alex reflexartig zuerst hinter seiner Freundin Nica, bevor er sich schützend vor sie stellt. Zwar setzen sie die Wanderung kurze Zeit später fort, doch zwischen den Verlobten herrscht nun überwiegend Schweigen. The Loneliest Planet erinnert an die Filme von Kelly Reichardt, besonders Old Joy (2006) und Meek's Cutoff (2010). Julia Loktev teilt mit Reichardt nicht nur das gleiche Produzenten-Team, sondern sie schickt ihre Protagonisten ebenfalls in die Einsamkeit der Natur und ergründet dort zwischenmenschliche Nuancen. Leider begnügt sich The Loneliest Planet mit einer oberflächlichen formalen wie narrativen Stringenz, die wenig aufschlussreich bleibt und schließlich dazu führt, dass sich der Film in der Schönheit der georgischen Natur verliert.

L'estate di Giacomo, aufgeführt in der Nebensektion Concorso Cineasti del presenti, liegt eine vergleichbare Ausgangslage zu Grunde. Auch hier folgt die Kamera den Protagonisten bei deren Spaziergängen durch die Natur. Während des gesamten Films geschieht nicht viel und doch fesselt er von Beginn an. Regisseur Alessandro Comodin lässt in loser Folge Szenen eines Sommers vorbeiziehen. Der 19-jährige taube Giacomo streift mit seiner besten Freundin durch Wälder, sie gehen baden, an einem Abend besuchen sie einen Rummel und dann albern sie wieder herum. Im Verlauf der Handlung legt sich eine leise Melancholie über den Film, und als die beiden eines Nachmittags nach Hause fahren, scheint ihnen klar zu sein, dass dies wahrscheinlich ihr letzter gemeinsamer Sommer war.
Momente der Hoffnung

Neben sehenswerten Filmen wie Un amour de jeunesse von Mia Hanson-Løve und Best Intentions (Din dragoste cu cele mai bune intentii) des Rumänen Adrian Sitaru war der vierte Spielfilm von Rabah Ameur-Zaïmeche der beste Beitrag des Wettbewerbes. Mitte des 18. Jahrhundert war Louis Mandrin ein bei der Landbevölkerung beliebter Schmuggler und Räuberhauptmann. Les Chants de Mandrin beginnt nach Mandrins Hinrichtung und begleitet dessen Weggefährten bei der Weiterführung seiner Arbeit und bei ihren Bemühungen, seine Texte zu drucken, die sich gegen das königliche Frankreich richten. Rabah Ameur-Zaïmeche erzählt diese Geschichte mit großer stilistischer Sicherheit und unterläuft radikal die klassische Spannungsdramaturgie. Das Leben der Räuber steht im Mittelpunkt, die Soldaten sind eine diffuse Bedrohung, die für die Dauer des Films in den Hintergrund verbannt worden ist. Am Ende sind die Schmuggler in einer Stadt eingekesselt. Den ersten Angriff konnten sie noch abwehren. Nachts feiern sie und singen Lieder zu Ehren Mandrins. Trotz des bevorstehenden Angriffs der Soldaten liegt ein geradezu unheimlicher Optimismus über diesen Szenen, alle Hoffnungen scheinen in diesem Augenblick noch berechtigt zu sein.

Schon seit einiger Zeit konnte man Berichte über eine aufstrebende Filmszene in Japan lesen, die sich in den vergangenen Jahren komplett außerhalb der japanischen Filmindustrie entwickelt hat. Katsuya Tomitas am vorletzten Tag gezeigter Film Saudade – Weltschmerz auf Portugiesisch – ist die eindrucksvolle Bestätigung für die Existenz dieser Gruppe. Wirkte in Les Chants de Mandrin die Hoffnung geradezu ansteckend, so prallt hier der Glaube an eine bessere Zukunft auf die triste Realität einer vor sich hin siechenden Kleinstadt. Vor diesem Hintergrund webt Tomita ein komplexes Bild von dem angespannten Zusammenleben zwischen Japanern und Einwanderern aus Brasilien und Thailand. Saudade ist ein rauer, sprunghafter Film, der mit einer Vielzahl an Protagonisten aufwartet und es einem nicht immer einfach macht, der Handlung zu folgen. Lässt man sich jedoch auf Tomitas Erzählrhythmus ein, so offenbart sich ein eindringlicher und kraftvoller Film über Arbeitslosigkeit, Xenophobie und das Leben von Immigranten.
Starkes US-amerikanisches Kino
Das US-amerikanische Kino war dieses Jahr in allen Sektionen stark vertreten. Neben dem unterhaltsamen Eröffnungsfilm Super 8 von J.J. Abrams wurden auf den allabendlichen Piazza Grande-Aufführungen Cowboys & Aliens von Jon Favreau, in Anwesenheit von Daniel Craig und Harrison Ford, Friends with Benefits sowie der überraschend im Wettbewerb von Cannes gezeigte Drive und der neue Film von Kevin Smith, Red State, aufgeführt.

Im offiziellen Wettbewerb präsentierte Azazel Jacobs seinen vierten Film Terri, der neben dem in Sundance bereits mehrfach ausgezeichneten Another Earth von Mike Cahill die starke amerikanische Präsenz unterstrich. Mit einer gehörigen Portion Mut nimmt sich Jacobs in Terri einer oft verwendeten Ausgangslage des amerikanischen Independent-Mainstreams an: Der übergewichtige Terri freundet sich mit einer als Schlampe verschrienen Mitschülerin und einem düster dreinblickenden, sich Haare ausreißenden Einzelgänger an. Unerwartete Unterstützung finden die drei vom Rektor der Schule, der ihnen nach Kräften versucht zu helfen. Was sich nach leicht verdaulicher Independent-Unterhaltung anhört, wandelt sich unter der Regie von Azazel Jacobs in einen entspannten Film, der sich seiner Klischees bewusst ist und sich dieser gekonnt bedient. Terri ist dabei nicht die erwartete Coming-of-Age-Komödie, sondern ein überraschend ernster Film, der weniger vom High-School-Außenseitertum spricht, sondern einen Einblick in Terris nicht immer einfaches Leben gibt.

Zwei weitere Independent-Produktionen gehörten zu den Höhepunkten der Concorso Cineasti del presenti Sektion. In The Color Wheel begleitet Regisseur Alex Ross Perry ein sich wenig freundlich gesinntes Geschwisterpaar, das sich ständig gegenseitig beschimpft oder in absurd-peinliche Situationen bringt. Während Perrys erster Spielfilm Imoplex (2009) eine klassische Mumblecore-Produktion war, erinnert The Color Wheel durch seine präzise geschriebenen Dialoge und die schwarz-weißen Bilder stark an eine Screwball-Komödie.
Without, der erste Spielfilm von Mark Jackson, wirkte daneben deutlich kühler und distanzierter. Die junge Joslyn entschließt sich auf einer abgelegenen Insel einen alten Mann zu pflegen, der im Rollstuhl dahinvegetiert. Ohne Internet und mit nur sporadischen Kontakten zu anderen Menschen verbringt sie ihre Tage alleine mit dem alten Mann. Nur zögerlich gibt der Film das Bild einer tief von Trauer und Verlust geprägten jungen Frau Preis, die in der Abgeschiedenheit nicht nur mit ihrer Einsamkeit, sondern auch ihrer Sexualität konfrontiert wird. Mit jedem weiteren Tag erscheint ihr das Haus und die Umgebung unheimlicher und bedrohlicher und man erwartet förmlich einen Ausbruch der Gewalt. Doch es geschieht nichts. Die Familie des alten Mannes kommt wie verabredet wieder zurück und Joslyn tritt die Heimreise an.
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