63. Filmfestival Locarno 2010

Nach Cannes Locarno: Der von der Quinzaine übergewechselte künstlerische Leiter Olivier Père überzeugt beim 63. Festival del film Locarno mit einem abwechslungsreichen Programm, das sich durch Mut zum Risiko auszeichnet.

Karamay 1

Karamay ist eine mittelgroße Stadt im Nordwesten Chinas, die hauptsächlich von der Ölindustrie lebt. Bei einer Aufführung für Regierungsvertreter brach am 8. Dezember 1994 in der lokalen Friedenshalle ein Feuer aus. Den rund 800 Schulkindern wurde befohlen, sitzen zu bleiben, damit die offiziellen Gäste zuerst das brennende Gebäude verlassen können. 323 Menschen starben an diesem Tag, 288 unter ihnen waren Kinder zwischen 6 und 14 Jahren.

Nicht nur im Hinblick auf seine Länge von sechs Stunden, sondern auch, was die Ambitionen und den Mut des Filmemachers Xu Xin betrifft, ist Karamay ein monumentaler Dokumentarfilm, der alle anderen Beiträge des Wettbewerbs in den Schatten stellte. Der Film besteht fast ausschließlich aus Interviews mit den Eltern der verstorbenen Kinder. Nur gelegentlich greift er auf Archivbilder des Unglücks zurück. Karamay handelt vom China der vergangenen 20 Jahre und von einer Stadt, die das Unglück verdrängt. Gleichzeitig rückt Xu Menschen in den Mittelpunkt, die verzweifelt versuchen, mit dem Verlust eines Kindes umzugehen. So zeigt uns Xu beispielsweise ein Ehepaar in seiner Wohnung. Während die Frau voller Wut über das Versagen der offiziellen Behörden spricht, blickt ihr Mann mit gesenktem Kopf auf den Boden, stumm und verzweifelt. Bilder wie diese machten Karamay zum besten Film des Festivals.

Karamay 2

Der Mut des neuen künstlerischen Leiters Olivier Père, diesen sechsstündigen Dokumentarfilm in den offiziellen Wettbewerb einzuladen, stand stellvertretend für ein Festival, das sich mutiger und ambitionierter präsentierte als in den vergangenen Jahren. Nach der massiven und unübersichtlichen Expansion unter Irene Bignardi und den darauffolgenden vier Festivaljahren unter der Führung Frédéric Maires, die sich überwiegend durch Mittelmäßigkeit auszeichnete, weckte die Ernennung Olivier Pères große Hoffnungen. Père, der von 2004 bis 2009 die Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs in Cannes leitete, distanzierte sich überraschend deutlich von seinen Vorgängern und erklärte zu Beginn des 63. Festival del film Locarno, dass er sich mehr Qualität als Quantität wünsche.

Auf der Suche nach dem eigenen Leben

Im Alter von Ellen

Im Alter von Ellen, der zweite Spielfilm von Pia Marais, gehörte zu den frühen Höhepunkten des offiziellen Wettbewerbes. Nachdem der Freund von Ellen gesteht, ein Verhältnis mit einer anderen Frau zu haben, erleidet die 40-Jährige einen Zusammenbruch. Vorsichtig und zurückhaltend begleitet Pia Marais die von Jeanne Balibar großartig gespielte Ellen auf der Suche nach einem neuen Leben. Dabei entwickelt der Film eine geradezu trancehafte Qualität. Lebt sie tatsächlich mit militanten Tierschützern zusammen? Findet sie wirklich Unterschlupf bei einer Gruppe zwielichtiger afrikanischer Kämpfer? Und hat ihr Ex-Freund vorgeschlagen, ein Haus mit zwei getrennten Wohnungen zu kaufen, damit er gleichzeitig mit seiner neuen Freundin und ihr leben kann?

In gleich mehreren Filmen des Wettbewerbs standen Frauen im Zentrum, die einen Ausweg aus ihrem Leben suchen. So zum Beispiel im Schweizer Beitrag La Petite Chambre. Doch wo dem Zuschauer in Im Alter von Ellen intelligentes Kino geboten wurde, entpuppte sich dieser Film als eine haarsträubende Aneinanderreihung unzähliger Klischees: Eine junge depressive Frau trifft auf einen alten kauzigen Mann, langsam freunden sie sich an, und am Ende stirbt er glücklich und sie hat ihre Depression überwunden. Dass der Film trotzdem auf positive Resonanz stieß, gehört zu den großen Rätseln des Festivals.

Bas-Fonds

Mit ungleich mehr Ambitionen dagegen erzählte die französische Schauspielerin und Regisseurin Isild Le Besco in ihrem dritten Spielfilm. In Bas-Fonds begibt sie sich sprichwörtlich an den Rand der Zivilisation. Drei junge Frauen leben die meiste Zeit abgeschottet in einer Wohnung und lassen keine Gelegenheit aus, sich und die Menschen, denen sie begegnen, möglichst stark zu erniedrigen. Die erste Hälfte des Films ist eine wahre Tour de Force, pausenlos wird geschrien und geschlagen. Als die drei schließlich von der Polizei gefasst werden – bei einem Überfall erschießen sie einen Mann –, schlägt der Film ungleich ruhigere Töne ein. Collagenhaft erzählt die Filmemacherin von dem Leben der drei Frauen und deren Frustrationen. So ist Bas-Fonds am Ende ein fast schon zärtlicher Film und weit davon entfernt, eine simple Provokation zu sein.

Was hätte Sherlock Holmes getan?

Winter Vacation

Komödien bildeten in Locarno einen heimlichen Schwerpunkt. Neben der Ernst-Lubitsch-Retrospektive und dem Ehrenleoparden für John C. Reilly wurden auch in den internationalen Wettbewerb zwei Komödien eingeladen. Im chinesischen Film Winter Vacation (Han jia) erzählt Regisseur Li Hongqi von einer Gruppe Jugendlicher an ihrem letzten Ferientag. In einem tristen nordchinesischen Dorf verbringen sie ihre Zeit damit, sich zu fragen, was ihnen eine Schulbildung eigentlich nützt und ob eine Freundin schädlich für die Bildung sein kann. Mit seinen durchkomponierten Bildern und dem trockenen Humor lässt sich Han jia wohl am ehesten als eine formalistische Komödie umschreiben, stellenweise leidet der Film jedoch unter einem etwas erzwungenen Humor. (Nachtrag: Der Film wurde mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet.)

Cold Weather

Weitaus leichtfüßiger war dagegen der amerikanische Film Cold Weather. Eigentlich studiert Doug Forensik, doch anstatt sein Studium fortzusetzen, hat er sich entschlossen, zu seiner Schwester nach Portland zu ziehen. Dort beginnt er in einer Eisfabrik zu arbeiten und freundet sich mit Carlos an. Als Dougs Ex-Freundin plötzlich verschwindet, beschließen die beiden, Nachforschungen anzustellen. Aaron Katz’ dritter Spielfilm ist ein kleines Wunder. Was als ruhiger und genau beobachteter Independent-Film beginnt, verwandelt sich in der zweiten Hälfte in eine faszinierende Mischung aus Komödie und Thriller. Während die beiden jungen Detektive Sherlock Holmes lesen und sich fragen, was der Meisterdetektiv getan hätte, betrachtet Katz seine Protagonisten mit großem Ernst und verzichtet auf jegliche Ironie. Cold Weather war neben Karamay der beste Wettbewerbsfilm.

Rubber

Die wohl verrückteste Komödie des 63. Filmfestival Locarno wurde auf der Piazza Grande gezeigt. In der französischen Produktion Rubber erwacht in der kalifornischen Wüste ein Autoreifen zum Leben und entdeckt seine Lust am Töten. Ruhig rollt er die Straßen entlang, stets auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Dabei ist er magisch von einer jungen Frau angezogen, in die er sich vielleicht verliebt hat. Dass dies alles keinen Sinn ergibt, macht Regisseur Quentin Dupieux schnell klar und lässt zu Beginn einen Polizisten erklären, dass die meisten Filme eigentlich grundlose Elemente enthalten. Warum ist zum Beispiel E.T. braun? For no reason, belehrt er das Publikum. So verwundert es auch nicht weiter, als sich der Reifen in einem Motelzimmer verschanzt, und während die Polizei draußen wartet, schaut er sich gemütlich ein Formel-1-Rennen an. Rubber testet mit immer absurderen Situationen den rationalen Verstand der Zuschauer, und Quentin Dupieux gelingt eine wunderbar anarchistische Hommage an das Kino.

[UPDATE] Die Auszeichnungen sind vergeben: Überblick der Preisträger 2010

Weitere Informationen auf der Festival-Homepage.

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