62. Filmfestival Locarno 2009

Gewisse Dinge scheinen sich nie zu ändern. Wie bereits in vergangenen Jahren ertönte auch dieses Mal wieder rechtzeitig zu Festivalbeginn der Ruf nach mehr Glamour und Stars am Festival del film Locarno. Dabei besitzt Locarno weder das nötige Prestige noch die finanziellen Mittel um diese einzuladen. Insofern überrascht es etwas mit welcher Hartnäckigkeit gewisse Journalisten immer wieder dies vom Festival einfordern.
Aus dieser vermeintlichen Zwangslage heraus und einer sich deutlich verschärften Konkurrenzlage zwischen verschiedenen Festivals hat sich Locarno in den vergangenen Jahren verstärkt als ein Ort der Entdeckungen positioniert, dessen Stärken in einer sorgfältigen Programmauswahl und aufwändigen Retrospektiven liegen.
Einsamkeit überall

Der Wettbewerb des 62. Filmfestivals von Locarno war dabei ein leicht durchwachsener Jahrgang, viel Mittelmaß stand nur wenigen Höhepunkten gegenüber. Nach dem Gewinn des goldenen Leoparden für The Rebirth vor zwei Jahren kehrte Masahiro Kobayashi mit Wakaranei (Where are you?) zum Festival zurück. Der Film erzählt die Geschichte von Ryo, einem 16-jährigen Jungen, der sich um seine kranke Mutter kümmert und unter der Last der horrenden Krankenhauskosten in die Armut getrieben wird. Als sie stirbt, fehlt ihm sogar das Geld für die Beerdigung. Zwar vermisst man in Wakaranei etwas die formale Radikalität durch die sich The Rebirth auszeichnete, doch gelingt dem Film ein beeindruckendes Porträt eines Jungen, der durch Armut und Einsamkeit aus der Gesellschaft gefallen ist.
Dies traf auch auf den südafrikanischen Shirley Adams zu, das Spielfilmdebüt des erst 25-jährigen Oliver Hermanus. Nachdem Donovan von einer Kugel am Hals getroffen worden ist, sitzt der 20-jährige Mann im Rollstuhl. Unter schweren Depressionen leidend, hat er jegliche Lust am Leben verloren. Die aufopferungsvolle Pflege und Zuneigung seiner Mutter ändert jedoch kaum etwas an der hoffnungslosen Lage in der sich die beiden befinden. Eine präzise und dokumentarisch anmutende Inszenierung und das von stiller Verzweiflung geprägte Spiel der Hauptdarstellerin Denise Newman geben dem Film eine Wucht, die an die Filme der Brüder Dardenne (L’enfant, 2005; Le silence de Lorna – Lornas Schweigen, 2008) erinnert.

Dass die Welt sich wie ein Gefängnis anfühlen kann, unabhängig vom Ort an dem man sich gerade aufhält, illustrierte der chinesische Film She, a Chinese. Eine Frau wächst in ärmlichen Verhältnissen in China auf, ihre Flucht vom Land in die Großstadt und schlussendlich nach London bringt sie in immer neue Abhängigkeitsverhältnisse. Damit erzählt der Film der jungen Filmemacherin Xiaolu Guo einerseits eine universelle Geschichte, anderseits jedoch zeigt She, a Chinese exemplarisch und durchaus mit Humor den Wandel der chinesischen Gesellschaft.
Die Welt der Animes

Was sich bereits im Wettbewerb abzeichnete, bestätigte sich auch in den anderen Sektionen. Asiatische Filme standen dieses Jahr im Zentrum. Neben der Open Doors Sektion, welche sich dem chinesischen unabhängigen Filmschaffen der vergangenen Jahre widmete, stach besonders die herausragende Retrospektive „Manga Impact – The World of Japanese Animation“ hervor. Als gelungene Entscheidung erwies sich, Anime-Filme nicht nur im Rahmen der Retrospektive zu zeigen, sondern übergreifend auch in anderen Sektionen zu präsentieren. So lief im internationalen Wettbewerb Mamoru Hosadas (Das Mädchen, das durch die Zeit sprang, Toki o kakeru shôjo, 2006) neuer Film Summer Wars (Samâ wôzu), in dem eine zukünftige Version von Facebook durch Hackerangriffe kurz vor dem Zusammenbruch steht und so in der realen Welt Chaos auslöst. Diese rasant erzählte Geschichte mit einer spektakulären Ästhetik gehörte zweifelsohne zu den Höhepunkten des Festivals.
Mit über dreißig Animationsfilmen, zahlreichen Fernsehserien sowie Kurzfilmen – der älteste stammte aus dem Jahr 1917 – illustrierte „Manga Impact“ eindrücklich die Entwicklung des Animes. Als Zuschauer ließen einen nicht nur die präsentierte Vielfalt sondern auch die einzelnen Filme staunend zurück. Neben bekannten Klassikern wie Akira (1988) und Ghost in the Shell (Kokaku kidotai, 1995) umfasste das Programm auch zahlreiche Premieren. Auf der Piazza Grande als Weltpremiere präsentiert, entpuppte sich beispielsweise Redline von Takeshi Koike als furioses Unterhaltungskino. In der Zukunft angesiedelt, erzählt Regisseur Koike vom gefährlichsten Autorennen des Universums und seinen wagemutigen Rennfahrern. Mit einer kunstvollen Vermischung von Hoch- und Populärkultur und einer schwungvollen Erzählweise destilliert Koike in Redline aus unterschiedlichsten Quellen ein mitreißendes Spektakel.

Unterstrichen wurde die Bedeutung der Retrospektive durch die Anwesenheit von zahlreichen Filmemachern und Animatoren. Einen Ehren-Leoparden erhielt unter anderem Isao Takahata (Das Grab der Leuchtkäfer, Hotaru no haka, 1988), einer der einflussreichsten Anime-Regisseure und zusammen mit Hayao Miyazaki Gründer des legendären Ghibli-Studios. Er war maßgeblich an der Etablierung des Animationsfilms als Kunstform beteiligt und schuf mit Little Norse Prince Valiant (Tayo no oji: hols no daiboken, 1968) einen frühen Meilenstein des Animationfilms. 1968 während den Studentenunruhen in Japan entstanden und als Kinderfilm geplant, zeugt dieser Film, in dessen Mittelpunkt der Kampf des jungen Helden Hols gegen einen totalitären Herrscher steht, von Takahatas Experimentierfreude mit Erzähl- und Animationstechnik. Sein Zusammenführen der Filme von Walt Disney und den russischen Montageexperimenten von Sergej Eisenstein machen diesen Film auch vierzig Jahre später immer noch zu einem seltenen Erlebnis.
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