61. Filmfestival Locarno 2008

Mit einem wahren Paukenschlag wurde der diesjährige Wettbewerb des 61. Filmfestivals von Locarno eröffnet. Parque Vía, der mexikanische Beitrag von Enrique Rivero, schaffte es von Beginn an zu beeindrucken und hing in der Folge wie ein Schatten über den weiteren Beiträgen des Wettbewerbs.

Parque Vía

In seinem Spielfilmdebüt erzählt Rivero von dem „Indio“ Beto, der seit nunmehr dreißig Jahren für eine wohlhabende Frau arbeitet und ihre leerstehende Villa bewacht. Hinter den hohen Mauern des Anwesens und mit wenig Kontakt zur Außenwelt hat sich der mittlerweile alte Mann quasi in eine freiwillige Gefangenschaft begeben, welche durch den Verkauf des Hauses erschüttert wird. Mit seinem formalen wie inhaltlichen Minimalismus gelingt Rivero eine Meditation über Einsamkeit und den Schutz, den sie spenden kann.

Alicia en el país

Damit war Parque Vía nicht nur die Entdeckung des Festivals, sondern unterstrich deutlich, dass das lateinamerikanische Kino im Moment zu den weltweit spannendsten gehört. Neben der Sektion „Open Doors“, welche eine Reihe südamerikanischer Filme einlud, stach besonders Alicia en el país des Chilenen Esteban Larraín hervor. Dieser in der Nebensektion „Cinéastes du présent“ gezeigte Film begleitet ein 13-jähriges Mädchen auf ihrem 180 km langen Fußmarsch von Südbolivien nach Nordchile, wo sie hofft, Arbeit zu finden. Und wie bereits Parque Vía ist auch Alicia en el país dank seiner stringenten Inszenierung und Konzentration auf einfache Handlungen ein sehr emotionaler Film.

Dioses

Von diesen spartanischen Leben finden sich dagegen im Wettbewerbsbeitrag Dioses des Peruaners Josué Méndez keine Spuren mehr. Wie bereits in seinem Erstlingswerk Días de Santiago (2004) sind die Figuren hier auf sich alleine gestellt. In einem Leben zwischen absolutem Luxus und erschreckender Oberflächlichkeit gefangen, versuchen die Geschwister Andrea und Diego der Kontrolle des dominanten Vaters zu entkommen. Während Andrea nach Miami flüchtet, steigt Diego sprichwörtlich in die Armenviertel Limas hinab.

 

Dem Tod auf der Spur

33 Szenen aus dem Leben

Den grellen Sonnenschein Limas suchte man dagegen in den meisten Werken vergebens. Der Tod schien vielmehr hinter jeder Ecke zu lauern, und wenn die Protagonisten nicht sterben mussten, wurde dafür umso mehr gelitten. So verliert beispielsweise die von Julia Jentsch gespielte Fotografin in der deutsch-polnischen Koproduktion 33 Szenen aus dem Leben (33 szeny z zycia) nicht nur ihre beiden Eltern, sondern in der Folge geht auch ihre Ehe in die Brüche. Wie jedoch weitere Wettbewerbsfilme leidet auch 33 Szenen aus dem Leben an einer stellenweise deutlichen Konstruiertheit, und der Fall der Figur folgt bekannten dramaturgischen Versatzstücken.

The Market – A Tale of Trade

Ein Höhepunkt des Festivals war dagegen Ben Hopkins The Market – A Tale of Trade, der unter anderem von Hans W. Geißendörfer koproduziert wurde. In einem abgelegenen osttürkischen Dorf wird ein findiger Geschäftsmann gebeten, im Ausland ein Medikament für Kinder zu besorgen. Seine Suche nach dem Heilmittel stellt sich erwartungsgemäß als schwierig heraus. In klassischer neorealistischer Tradition – und mit einer gehörigen Portion Humor – schildert Hopkins die Geschichte eines einfachen Mannes, der sich nur schwer mit einer wandelnden und profitorientierten Geschäftswelt arrangieren kann. Im Gegensatz zu den bisherigen Filmen des britischen Regisseurs (u.a. 37 Uses for a Dead Sheep, 2006) wird in The Market – A Tale of Trade ganz auf expressionistische Stilmittel verzichtet. Stärker als zuvor rückt Hopkins die Erzählung in den Mittelpunkt und hat in Tayanç Ayaydin einen großartigen Hauptdarsteller gefunden.

Sleep Furiously

Insgesamt präsentierte sich der Wettbewerb von Locarno dieses Jahr als weitgehend kohärente Selektion thematisch ähnlich orientierter Filme, die sich um Tod, Angst und Verzweiflung drehen. Trotz der qualitativ guten Auswahl drohte zuweilen eine nicht nur inhaltliche, sondern auch stilistische Einheitlichkeit. Einzig Denis Côtés schwarzweißer Anti-Western Elle veut le chaos und besonders der Abschlussfilm des Wettbewerbes Sleep Furiously durchbrachen die Dominanz der dem Realismus verpflichteten Werke. In Sleep Furiously porträtiert Gideon Koppel in einer Mischung aus Experimental- und Dokumentarfilm das walisische Dorf Trefeurig und zeigt deren Bewohner bei alltäglichen Arbeiten wie Töpfern, Melken oder Kochen. In strengen Bildkompositionen und mit der Musik von Aphex Twin entwickelt er eine Chronik über Menschen, die in einer Zeit leben, in der sie sich den Entwicklungen des modernen Lebens nicht verschließen können.

Daytime Drinking

Für heitere Momente sorgte schließlich der Südkoreaner Noh Young-seok mit seinem Spielfilmdebüt Daytime Drinking. Mit minimalen Mitteln finanziert und vom Regisseur praktisch im Alleingang hergestellt – auch für Drehbuch, Musik, Schnitt, Kostüme, Kulissen und Kamera zeichnet er verantwortlich –, ist Daytime Drinking eine bitter-süße Komödie, die stellenweise an die Arbeiten von Hong Sang-soo (Tale of Cinema, Geuk jang jeon, 2005; Nacht und Tag, Bam gua Nat, 2008) erinnert. Mit gebrochenem Herzen beschließt darin Hyuk-jin mit drei Freunden ein Wochenende auf dem Land zu verbringen. Es kommt jedoch anders als geplant: Seine Freunde lassen ihn im Stich, das Hotel erweist sich als Flop und die Einheimischen begegnen ihm mit skurril-abweisendem Verhalten. Die einzige Konstante und Aufmunterung für den Protagonisten ist der stete Alkoholkonsum, und so endet praktisch jede Szene mit einem besoffenen Hyuk-jin.

 

Die Gewinner

Enrique Rivero mit goldenem Leopard

Der überragende Gewinner des Goldenen Leoparden auf dem 61. Filmfestival von Locarno ist Parque Vía von Enrique Rivero. Den Spezialpreis der Jury, welcher unter anderem Paolo Sorrentino, der letztjährige Gewinner des Goldenen Leoparden Masahiro Kobayashi und Dani Levy angehörten, wurde an 33 Szenen aus dem Leben von Malgoska Szumowska vergeben. Der kanadische Filmemacher Denis Côté erhielt für seinen schwarzweißen Anti-Western Elle veut le chaos die Auszeichnung für die beste Regie. Als beste Schauspieler wurden Ilaria Occhini für ihre Rolle im italienischen Drama Mar Nero sowie der Hauptdarsteller von The Market – A Tale of Trade Tayanç Ayaydin geehrt.

In der Nebensektion „Cinéastes du présent“ wurde der Schweizer Dokumentarfilm La Forteresse von Fernand Melgar von der Jury um den französischen Filmemacher und Autoren Bertrand Bonello ausgezeichnet. Melgar begleitet in diesen Film eine Gruppe asylsuchender Flüchtlinge, die in einem Schweizer Dorf auf einen Bescheid über ihren Antrag warten müssen. Der Spezialpreis ging an den chilenischen Film Alicia en el país von Esteban Larraín.

Überraschend wurde als bestes Erstlingswerk März von Klaus Händl mit einem Leoparden ausgezeichnet. Der Film untersucht die Auswirkungen eines kollektiven Selbstmordes dreier Jugendlicher auf ein österreichisches Dorf.

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