31. Kasseler Dokfest: Familienporträts, Satellitenfotos und TV-Bilder
In den Installationen trifft Kolonialgeschichte auf Google, in den Dokumentarfilmen versuchen die Protagonisten dem Gestern wie dem Heute zu entkommen.
Die historische Quelle ist vollkommen zerschnitten, ihre Überbleibsel hängen in unzähligen kleinformatigen Bilderrahmen an der Wand. Die Kunststudentinnen Chloé Simonin und Manon Lecrinier sind bei Recherchen auf das „tableau d’ensemble des races peuplant les colonies françaises“ gestoßen, eine Fotomontage aus dem Jahr 1929, auf der Bewohner der verschiedenen französischen Kolonien für eine Art Familienfoto zu posieren scheinen. Simonin und Lecrinier haben in ihrer Installation Dé(con)struction diese Fiktion der Gemeinschaft zerstört, die Menschen aus Afrika, Indochina und anderen Teilen der Welt ausgeschnitten und ihnen eigene Rahmungen geschenkt. Der künstlerische Eingriff zerstört die kolonialistische Vergemeinschaftung, kann viel mehr aber auch nicht tun. Die Einzelnen hängen nun eingeschlossen an der Wand, ihres eigentlichen Kontextes sowie ihrer Innerlichkeit schon von den Zeitgenossen beraubt. Was sie fühlen, wünschen, denken, das wissen wir nicht. Auch nach ihrer kunstaktivistischen Befreiung aus dem Kolonialreich bleiben sie Repräsentationen. Ihre Geschichte ist verloren.
Fiktion und Vermessung

Einige unserer heutigen Geschichten würden wir manchmal gern verloren geben. Ein der Dé(con)struction eigentlich entgegengesetztes Werk mutet deshalb ähnlich traurig an: In der Video-Installation Street Views – Teil der Monitoring-Reihe, die bereits fast so alt ist wie das Festival selbst – betreten wir eine Welt, aus der sich nichts mehr herausschneiden lässt. Hier wirkt kein künstlich hergestellter Zusammenhang, sondern ein scheinbar objektiver und deshalb unzerstörbarer. Annie Berman führt uns auf einen Streifzug durch das von Google abfotografierte New York; klickend bewegen wir uns durch die Straßen Manhattans, vorbei an zu Skulpturen erstarrten Menschen mit verpixelten Gesichtern. Bermans Stimme kommentiert die Szenerie, fängt irgendwann an, die Menschen anzusprechen, sie nach dem Weg zu fragen. Sie insistiert, so wie es auch das Satellitenfoto tut: Du bist hier gewesen, wir wissen das genau.
Dem mittlerweile zerfallenen Empire, das angewiesen war auf eine gemeinsame Fiktion – und das deshalb Eingriffe zulässt, Counter-Histories, wie die Sonderausstellung, zu der Dé(con)struction gehört, betitelt ist –, steht heute ein Empire der exakten Vermessung gegenüber, der möglichst genauen Beobachtung: nicht mehr funktionale Repräsentation der kolonisierten „Rassen“, sondern möglichst genaue Repräsentation endlos differenzierter Subjekte; ein nicht mehr über Grenzen konstruiertes (und dekonstruierbares) Kolonialreich, das an seinen Rändern verteidigt und bestätigt werden muss, sondern ein grenzenloses Empire, aus der scheinbar neutralen Perspektive von Street View zugänglich.
Flucht vor der Vergangenheit

Auch in drei auf den ersten Blick konventionelleren Dokumentarfilmen stoße ich auf diese Motive: in Zusammenhänge gepresst sein, auf die man keinen Einfluss hat; Ausbruchsversuche aus Familienfotos; Abwesenheit von Geheimnis und Abenteuer in einer vermessenen Welt. Und auf Eingriffe: Sich selbst herausschneiden, aus erzwungenen Kontexten lösen und in andere hineinversetzen. Verzweifeltes Projekt eines Copy & Paste des eigenen Selbst.
In Titos Brille ist Adriana Altaras’ Selbst an eine Vergangenheit gebunden, mit der sie noch immer nicht so recht klarkommt. Als Dibbuks bezeichnet sie ihre verstorbenen jüdischen Eltern, weil die Familiengeschichte sie noch immer heimsucht. Adrianas Reise auf den Balkan ist deshalb keine Reise zu den Wurzeln, die einen Erkenntnisgewinn einbringen soll, sondern eher eine Art Teufelsaustreibung – räumliche Annäherung, um emotional auf Distanz gehen zu können; verstehen, um abheften zu können. Am Ende dieser Reise sitzt Adriana inmitten der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslager Kampor, das italienische Besatzer 1942 auf der kroatischen Insel Rab eingerichtet hatten und in dem ihre Mutter bis zu dessen Auflösung ausharrte. Adriana ist ergriffen, aber die Tränen kommen ihr nicht, weil ihr etwas bewusst wird über die Vergangenheit ihrer Eltern – die Gefangene waren und Flüchtlinge, dann Partisanen in Titos Armee, dann Exilanten in Deutschland – oder über die Geschichte des Holocaust, sondern weil auch aus der Nähe alles so unnahbar und dunkel bleibt wie eh und je. Nichts ist verstanden, nur weil man dort ist, nichts lässt sich ein für allemal abheften. Regina Schillings Film liefert die Bilder zu Altaras’ gleichnamigem Erfolgsbuch, aber auch wenn Titos Brille formal nicht unbedingt ambitioniert ist, besticht der Film durch eine eigentümliche Stimmung, ist so humorvoll wie berührend. Ganz ohne Ein-europäisches-Schicksal-Pathos werden die persönlichen Dibbuks als Gespenster der Zeitgeschichte enthüllt. Der Schwung des Films verdankt sich vor allem Altaras selbst, die als Schauspielerin und Regisseurin genügend Witz und Selbstbewusstsein mitbringt, um einen solch intimen Film zu tragen. Ihr Charme drückt sich mitunter aber auch in so knappen wie ungeheuer ernsten Sätzen aus, wenn sie etwa, dem problematischen Tito-Kult zum Trotz, ihre Faszination für das Partisanenleben erklärt: „Sich erst mal wehren, ruhig auch heftig. Das gefällt mir immer noch.“
Flucht vor der Gegenwart

Wenn Adriana feststeckt in einer Familiencollage, dann ist Jonas bereits ausgeschnitten und hängt eingesperrt an der Wand. In Deutschland findet er sich nicht mehr zurecht, also besucht er seinen vor langer Zeit ausgewanderten Vater in Medellín, auf der Suche nach neuen Zusammenhängen. Auch Gaze – Kartographie einer Stadt von Jonas Weber Herrera ist, darauf deutet schon der Filmtitel hin, kein klassisches Identitätssuche-Narrativ. Der Vater in der Ferne als Aufhänger ist zwar auch hier ziemlich typisch, spielt aber rasch keine größere Rolle mehr. Es geht nicht um die Rekonstruktion des Familienfotos, sondern um neue Bilder. Und so macht sich Jonas daran, eine Karte zu zeichnen von dieser Stadt. Erster Ausgangspunkt sind ein paar Straßenkinder, die auf einem zentralen Platz der Metropole herumhängen, Klebstoff schnüffeln, sich teilweise prostituieren. Gaze ist in diesen Sequenzen weit entfernt von üblichen Repräsentationsmustern, die Aussagen der Kids erreichen uns nicht unmittelbar, sondern nur als indirekte Rede aus Jonas’ Voice-over. Immer wieder beharrt der Film auf dem Primat der eigenen Perspektive. Noch in seinen Ausflügen in die von Gewalt durchtränkte jüngere Geschichte Kolumbiens und deren Nachwirkungen bleibt Gaze ein Film über einen jungen Deutschen, der seinen Blick ins Fremde richtet. Das Werk wird zunehmend essayistischer, es mischen sich allerlei Reflexionen über Kultur und Philosophie in die Videobilder. Das erzeugt bisweilen ein gewisses Unbehagen, weil man meint, dass der auf Ebene der Bildpolitik sensible Umgang mit den von der Kamera in den Blick genommenen Objekten nun unterwandert wird, weil das Andere jetzt doch zum bloßen Material wird, nicht für den gaze, sondern für die eigenen, manchmal etwas altklug daherkommenden philosophischen Betrachtungen. Doch würde man mit solch einer Skepsis wohl wiederum einem Film auf den Leim gehen, der noch im Abstrakten radikal persönlich bleibt; der eher den gedanklichen Weg zum Essay betont als dessen outcome, der diesen Gedanken nicht als Wahrheiten über etwas, sondern als Sprechen von etwas versteht – Versuche mit dem Fremden umzugehen, als der, der man geworden ist.
Ist Gaze zumindest noch lose gebunden an den familiären Zusammenhang, so geht es in Clara Winters Kurzfilm Just Kids Left Alive on the Road nur noch um Flucht. Clara hat in Mexiko Miguel kennengelernt, gemeinsam wollen sie nun einen Ausflug unternehmen, der ihr Leben wieder ein wenig abenteuerlicher gestalten soll. Kein unnötiger Peso soll ausgegeben werden, man trampt in Richtung Süden, schaut, wo man landet. Einen Schnitt später liegen die beiden am Strand und schlürfen Cocktails, was Sinn und Zweck der Sache freilich nicht war. Also ein neuer Anlauf, sich das Geld selbst verdienen mit Straßenmusik. Aber für die reichen Touris sehen die beiden nicht arm genug aus, und die Armen, denen die Musik teilweise gefällt, wollen sie nun wirklich nicht noch ärmer machen. Als sie nach einem dann doch ziemlich ungeplanten Bankkartenausfall in einer kakerlakigen Absteige ankommen, ist das Sich-selbst-Ausschneiden endgültig gescheitert. Ein kurzer und einfach gestrickter Film, der die Absurditäten des Armut-Begehrens und die Mühen des Ablegens eigener Privilegien weniger auf den Punkt bringt als lustvoll umkreist; mit einer herrlich schmalzigen Gitarren-Ode auf die Mittelklasse als Schlusssequenz – auf jenem Rückflug, der als Möglichkeit immer bleibt, so sehr man seinen Lifestyle auch den Minderprivilegierten angleicht.
Ganz viel Journalistenkacke

Rührt Just Kids Left Alive on the Road eher am Lateinamerikanistik-Teil meines Studiums, so beneide ich die Politikstudenten Kassels ganz schön, als ich höre, dass sie schon in ihrer Einführungsvorlesung zur Politischen Theorie als Leistungsnachweis einen Kurzfilm drehen sollen, während ich noch in höheren Semestern des Hauptstudiums die Wahlsysteme von Rheinland-Pfalz und Niedersachsen zu vergleichen hatte. Die Kurzfilmreihe Aus mutmaßlich gut unterrichteten Kreisen soll die Studierenden dabei inspirieren. Im Gedächtnis wird mir vor allem Mediapocalpyse bleiben, in dem Emilien Cancet und Gustavo Almenara – kurz vor dem vermeintlichen Weltuntergangsdatum des 21. Dezember 2012 – an jenen Ort gefahren sind, der vor der Apokalypse verschont bleiben sollte. Dort trafen die beiden zwar kaum Ufologen oder New-Age-Apologeten, dafür aber jede Menge TV-Journalisten, die von etwas zu berichten hatten, was sie selbst erst konstruiert hatten. Denn der „magische“ Berg im französischen Bugarach war vor allem ein Mediengeschöpf, geboren aus der Paradoxie eines Weltuntergangs: Als Medienereignis schlechthin muss es an einen konkreten Ort gebunden werden, um Bilder zu produzieren. Und aufgrund der Unwahrscheinlichkeit seines Eintritts ist man auf Leute angewiesen, die an die Sache glauben.
Während sich die Kameras der TV-Stationen – selbst aus Japan sind mehrere Filmteams gekommen – ins, nun ja, Geschehen stürzen, bleiben Cancet und Almenara etwas weiter hinten. So bekommen sie die gesamte Traube von Kameras und Mikrofonen ins Bild, die sich auf den einzigen Hippie stürzen, der schließlich aus dem Nachbarort mal herüberschaut. Ihre kamerabeobachtende Kamera sorgt für eine gelungene Medienkritik, die weder in Richtung tendenziöser Berichterstattung zielt noch als simplifizierende Satire auf Manipulation daherkommt, die vielmehr mit einer recht einfachen Konstellation an strukturellen Absurditäten rührt. Irgendwann fangen die Journalisten an, sich gegenseitig zu interviewen. Und mittendrin ein Sanitär-Unternehmer, der eigens für den Trubel eine ganze Reihe Dixiklos nach Bugarach gebracht hat, um den kommenden Inhalt später als Dünger zu verkaufen. Wenigstens einer, der aus Journalistenkacke noch was machen kann.
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