22. Filmfest Oldenburg: Festivalnotizen

Von drögen Rezepten und anregenden Freiheiten – und von Psycho-Horror, der sich allzu platten Genre-Zugriffen wunderbar lange entzieht.

The Strongest Man 1

Zu einem der 25 „coolsten“ Filmfestivals der Welt ist das Filmfest Oldenburg kürzlich vom MovieMaker Magazine gewählt worden, und dieses Label ist mehrdeutig genug, um die Entscheidung verstehen oder bezweifeln zu können. Halten wir uns also besser nicht damit auf: Bei meiner Filmauswahl bleibe ich bei der sogenannten Independent-Sektion, die – wenigstens wenn es nach den Pressetexten geht – ungleich aufregender klingt als das Hauptprogramm. Den einzigen größeren Fail bringe ich denn auch direkt hinter mich, und das Label „Sundance-Überraschungshit“ hätte eine Warnung sein können: Von der ersten Minute an leidet The Strongest Man an seinem Originalitätszwang und ist dabei eigentlich äußerst dröge Indie-Kost. Es trieft vor Pointen im Gegenschnitt, die nicht mal mit sonderlich gutem Timing geliefert werden, und dahinter riecht es streng nach Rezept: ein Protagonist, Beef (Robert Lorie), mit Identitätskrise und – skurrile Komödie! – Superkräften; ein liebenswerter, aber leicht skurriler Buddy mit asiatischen Wurzeln, Conan (Paul Chamberlain), dessen Familie für ein paar Ethno-Jokes herhalten muss; ein paar Fantasy-Einsprengsel fürs Visuelle: ein großes haariges Viech mit zwei roten Augen, Beefs Dämonen; und das obligatorische ultrahübsche Mädchen, Illy (Ashly Burch), das ein paar Mal verträumt in die Ferne schauen darf, ansonsten aber zum hübschen Licht am Horizont für den frustrierten Helden degradiert wird. Dem wird sein geliebtes Fahrrad geklaut, die Suche danach wird zum Kampf gegen die inneren Dämonen, aber der Plot kann dem Film ebenso wenig Kohärenz stiften wie das nachdenkliche Voice-over des Protagonisten. Eine Webserie hätte The Strongest Man vielleicht werden können, im Kino ist Kenny Riches’ „Überraschungshit“ leider bald frustrierend. Und so gar nicht überraschend.

Post-Apokalyptisches aus Äthiopien

Crumbs 2

Auch Crumbs könnte man einen Hang zum Kuriositätenkabinett vorwerfen: Gleich zu Beginn verkauft eine Gestalt mit Gasmaske und Hakenkreuzbinde einem alten Händler eine Ninja-Turtle-Figur. Doch das WTF?! ist bei Miguel Llansó keine einprogrammierte Rezeptionshaltung. Die skurrilen Objekte wie Plastikdinosaurier, eine alte Michael-Jackson-LP oder eben jener Ninja Turtle sind seltene Fundstücke aus unserer Epoche in einer vollkommen entleerten, post-apokalyptischen Welt. Seit Jahren schon dreht der Spanier Llansó seine (bislang kurzen) Filme in Äthiopien, dessen vom nachgeholten Spätkapitalismus zurückgelassene Räume ein grandioses Setting für die Welt nach dem „großen Krieg“ bieten: ein altmodisches Riesenrad, Schienen ins Nirgendwo, eine leerstehende Bowlingbahn, deren Kugel-Rückführmechanismus immer mal wieder wie von Geisterhand eine Kugel ausspuckt. Dort wohnen zwei der noch übrigen Menschen: ein buckliges Männlein namens Birdy (Daniel Tadesse) und seine Frau Candy (Selam Tesfaye). Birdy will weg mit einem Raumschiff, er vermutet seine Wurzeln auf einem fremden Planeten, und für diesen Plan scheint niemand Geringeres als der Weihnachtsmann der Schlüssel zu sein.

Crumbs 1

Während Birdy – toll, wie natürlich Llansó Tadesses deformierten Körper inszeniert – sich auf die lange Reise in eine verlassene Stadt macht, bleibt seine Frau zu Hause, weint ein bisschen, betet vor dem Michael-Jordan-Altar und träumt von vergangenen Göttern: Stephen Hawking, Einstein und, haha, Justin Bieber. Aber selbst das reißt mich nicht aus dieser Welt. Vielleicht steckt hinter Crumbs eine eher platte Konsumkritik, aber wie hier scheinbar beliebige Objekte, leergefegte Räume und der Fluchtwunsch der Protagonisten stetig in Bezug gesetzt werden, ist doch ungemein faszinierend. Birdy wird den Weihnachtsmann finden, aber Wünsche nimmt der nur per Post an. Absurd ist dieser Film also auch, aber dabei fast anrührend, etwas, woran The Strongest Man scheitert, obwohl dieser uns doch scheinbar so viel näher ist als die exotisierte Science-Fiction. Die wird fast ein bisschen arg melancholisch, wenn Llansó seinen Protagonisten schließlich auch noch in ein verlassenes Kino schickt, wo seit Hunderten von Jahren die gleichen Filmszenen laufen, und einen Dialog aus Cinema Paradiso (1988) beschwört. Aber das sei diesem Film verziehen, der uns in seinen Kosmos zieht und über seine Kuriositäten staunen lässt, anstatt uns nur um ein paar Lacher anzuflehen.

Vom Psychogramm zum Horror

Dark 2

Zurück in die Gegenwart, nach New York: Das Radio spricht morgens vom Wetter, auf dem Weg zur Arbeit warnt der Lautsprecher in der U-Bahn vor Taschendieben. Die vielen kleinen Hilfestellungen sind der Soundtrack zu Kates Traurigkeit, die ihren Alltag zwischen Beziehung und dem Job als Yoga-Lehrerin nicht mehr so richtig packt. Und dann fällt die größte aller Hilfestellungen weg: das Licht. Dark spielt während eines großen New Yorker Blackouts, der für die depressiv-suizidale Kate (Whitney Able) erst Fluch, dann Segen und schließlich doch wieder Fluch ist. Noch ist es zwar hell, aber Inter- und Handynetz sind weg, und als Kate in Fotos aus vergangenen Zeiten stöbert, während dazu Nina Simones Melancholie aus dem batteriebetriebenen CD-Player in den Raum strömt, ahnen wir schon, das kann nicht gut gehen. Dann wird es Nacht in New York. Aber in der Dunkelheit liegt ja stets auch eine Chance, und so päppelt sich Kate zum Mystery-Goth-Girl auf und verlässt das Haus, geht durch Straßen, die nur durch wärmende Feuertonnen und andere improvisierte Lichtquellen erhellt werden.

Dark 1

Dass Nick Basiles Debütfilm von Grusel-Guru Joe Dante produziert wurde, darauf würde man zunächst gar nicht kommen. Denn Dark beginnt nicht mit der Dunkelheit, sondern mit der Beziehungskrise zwischen Kate und Leah (Alexandra Breckinridge) und einer sehr reduzierten, präzisen Beobachtung eines mühsam gewordenen Lebens in der aufregenden Stadt. Weiter könnte sich der letzte Teil des Films davon nicht entfernen, wenn es in die Vollen geht, wenn Kates Psychosen sich mit der Dunkelheit endgültig verbünden – nachdem das mit dem Ausgehen auch nicht so richtig funktioniert hat. Überzeugend ist Dark vor allem, weil dieses Genre-Crescendo das konsequente Psychogramm nicht verwischt. Im Kino in menschliche Psychen blicken, das ist ja häufig ein frustrierendes Unterfangen, weil sich tradierte Vorstellungen von Wahnsinn und das Effektemenü von Post-Produktions-Software einfach zu gern mögen. In Dark gehe ich lange mit. Trotz einer Menge Jump Cuts und Flashbacks überlässt es Basile vor allem seiner überzeugenden Hauptdarstellerin, Kates Schmerz erfahrbar zu machen – und einer Kamera, die in den besten Sequenzen tatsächlich ihr Auge zu sein scheint, nicht wegen irgendwelcher radikalen POV-Experimente, sondern in ihren grundsätzlich ruhigen, panischen, besoffenen oder suizidalen Bewegungen.

Schwarze Magie in Belgien

Waste Land 2

Ähnlich düster geht es mit Waste Land weiter: Jérémie Renier spielt den Brüsseler Cop Leo, dessen labiler Körper zwischen Beruf und Privatleben aufgerieben wird. Manchmal kann er nicht anders und ritzt sich einen weiteren Strich in den Oberarm. Seinem Ziehsohn von gerade mal sechs Jahren bringt er das Schießen bei. Dass Kathleen (Natali Broods) zögert, mit diesem Typen nun ein eigenes Kind zu bekommen, kann man ihr kaum verübeln. Strukturiert ist Pieter Van Hees’ Abschluss seiner etwas arg ambitioniert betitelten Trilogie einer „Anatomie von Liebe und Schmerz“ durch Kathleens Schwangerschaftswochen, der Fluchtpunkt des Films ist also von Beginn an klar, und ob man Van Hees auf dieser existenziellen Linie folgen will, das muss man wohl selbst entscheiden. Zunächst aber ist Waste Land ein schön fotografierter Krimi, der den berühmten Weg vom straighten Mordfall in menschliche Abgründe geht. Und die sind hier nochmal postkolonial angemalt, denn die Recherchen ziehen Leo in eine afro-belgische Subkultur: zu Wrestlingkämpfen, Ritualen und illegal geschmuggelter kongolesischer Hehlerware. Renier verrennt sich, wie einst Mickey Rourke in Angel Heart (1987), in diese Welt der schwarzen Magie, verfolgt einen geheimnisvollen Strippenzieher im Hintergrund, verliebt sich in die kleine Schwester des Mordopfers (Babetida Sadjo) – während die Schwangerschaft seiner Frau immer weiter voranschreitet und eine Abtreibung längst nicht mehr möglich ist. Ein bisschen hängt der Plot zwischen Konkretion und Albtraum, und so richtig weiß ich gar nicht, in welche Richtung ich das Ganze lieber zugespitzt sähe. Aber selbst wenn ich beim dramatischen Finish nicht mehr ganz mitgehe, ist Waste Land voll von starken Momenten, was an Renier und dem übrigen Cast liegt, aber auch an der düsteren Atmosphäre, die durchgängig und dennoch unaufdringlich von den Geigen im Background unterstrichen wird.

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