Was in Cannes noch nicht gezeigt wird
Für eine unverfrorene und kühne Filmauswahl: Im zweiten Teil unseres Interviews erzählt Paolo Moretti, wie er den Geist der Anfangsjahre der Quinzaine des réalisateurs wiederfinden will – und warum er auch einen Marvel-Film im Programm nicht ausschließen würde.

Frédéric Jaeger: Reden wir über die Quinzaine des réalisateurs. Du wurdest als neuer Generalsekretär ausgewählt, für zunächst ein Jahr?
Paolo Moretti: Es ist ein Vertrag über acht Monate.
Die Quinzaine ist eine parallele Sektion des Festivals von Cannes, die vom Verband der Regisseure in Frankreich organisiert wird. Ein Gebilde, das vielleicht prekärer ist, als man sich das von außen, erst recht aus dem Ausland, vorstellen kann.
Ganz genau.
Wenn selbst der Generalsekretär nicht das gesamte Jahr über beschäftigt wird, nehme ich an, dass es nicht sehr viel Geld gibt, um das Festival zu organisieren.
In der Tat, wir sind nicht reich. Wir versuchen, das Beste aus dem Budget zu machen. Man muss sagen, dass die Miete der Veranstaltungsorte in Cannes fürchterlich teuer ist und dass ein großer Teil des Budgets dafür investiert wird. Abgesehen davon ist die Prekarität eher wirtschaftlich als alles andere. Immerhin hat die Quinzaine in diesem Jahr ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert und zeugt trotz allem von großer Standfestigkeit.
Natürlich liegt es auch an Cannes, aber die Quinzaine hat in der Vergangenheit viele Filme gezeigt, die danach eine große Karriere gemacht haben, nicht nur in Frankreich, sondern weltweit. Die Quinzaine kann also auf ihre Weise das Kino prägen.
Ohne anmaßend klingen zu wollen: Die Filme, die bei der Quinzaine gelaufen sind, sind wichtig für die Geschichte des Kinos. Einige von ihnen sind wirklich eingegangen in diese Geschichte, und das ist, meine ich, der Kühnheit all meiner Vorgänger zu verdanken.
Also wirst du bald zur Geschichte des Kinos gehören.
Wir werden sehen. Wir werden sehen. Ich werde natürlich mein Bestes tun ...

Wie sieht dein Vorhaben für die Quinzaine aus?
Ich will aus der Geschichte einen Schatz machen, eine Geschichte, die ungemein reich ist und die sich sehr verändert hat. Die Quinzaine der 1970er ist nicht die der 1980er und so weiter. Du sagst parallele Sektion, mir ist die Definition als paralleles Festival lieber. Weil die Quinzaine alle künstlerischen und institutionellen Qualitäten der Autonomie hat und ein komplett eigenständiges Ereignis ist. Es mag am Anfang wahr gewesen sein, als die Quinzaine als Reaktion auf das offizielle Programm geboren wurde, im Geist des Mai 1968. Das war eine Zeit, da funktionierte das offizielle Festival fast wie die Olympischen Spiele. Die Länder präsentierten ihre Filme, und Fragen nationaler Politik spielten eine Rolle. Das hinderte zwar das Festival nicht daran, absolute Meisterwerke zu zeigen, denn das waren auch Jahre, in denen unermessliche Filme entstanden, Meilensteine in der Geschichte des Kinos. Die Quinzaine begann mit der Idee, dass man Filme aussuchen kann und dahinter ein Kurator steckt. Gegenüber dem zeremoniellen offiziellen Festival war das eine sehr freie Sektion, ohne Aufgaben dieser Art. Man entschied sich, die innovativsten, eigensinnigsten und überraschendsten Stimmen des Kinos zu zeigen. Von Filmemachern, die oft nicht anerkannt wurden von den Institutionen, die die Filme in die offizielle Auswahl schickten. Die Quinzaine gab ihnen eine Plattform. So sind Karrieren wie die von Werner Herzog entstanden. Ich denke, er verdankt viel der Präsenz seiner Filme bei der Quinzaine.
Nun gibt es eine fünfzigjährige Geschichte, auf die du dich beziehen kannst.
Die Idee ist, diese Verbindung herzustellen und diesen Geist des Anfangs wiederzufinden, den Geist der Unverfrorenheit und der Kühnheit, den man in der Filmauswahl sehen konnte. Gleichzeitig muss man bedenken, dass wir nicht in den 1970ern sind, dass die Quinzaine 2018 immer noch die Quinzaine ist, auch weil sie sich in den Makroorganismus von Cannes einfügt und dem viel verdankt. Würde die Quinzaine eine Woche vorher und in einer Stadt nebenan stattfinden, wäre sie nicht die Quinzaine. Man muss klar benennen, dass sie von ihrem Umfeld, dem offiziellen Programm, dem Markt und allem anderen, profitiert. Um in einem solchen Kontext zu bestehen, muss sie einen Dialog finden. Das trifft sich etwas mit dem, was ich über La Roche-sur-Yon gesagt habe: Es gibt Wege, in die Zukunft zu schauen, ohne deshalb auf ein wirtschaftliches Potenzial der Filme zu verzichten.
Das heißt, die Kühnheit wäre nicht unbedingt die, Filme ohne Vertrieb oder Verleih zu zeigen, und auch nicht die, mehr erste Filme zu zeigen?
Es gibt nur eine sehr begrenzte Anzahl an Filmen, die wir zeigen können, etwa zwanzig Langfilme und zehn Kurzfilme, für den Augenblick jedenfalls. Mir liegt viel daran, ein sehr breites Spektrum dessen zu zeigen, was möglich ist. Die Quinzaine kann diese Rolle spielen und hat sie auch schon mal gespielt. Die Herausforderung ist, sie jedes Jahr aufs Neue zu finden und das inmitten der nicht nur wirtschaftlichen Entwicklungen. Zu zeigen, was andernorts in Cannes noch nicht gezeigt wird, oder zu zeigen, was andernorts gezeigt werden könnte, es aber anders zu zeigen, in einem anderen Kontext. So weit wie möglich zu vermeiden, eine bloße Liste von Filmen abzuarbeiten, und stattdessen einen wirklichen Diskurs zu bauen. Jeder Film könnte dann ein Wort repräsentieren in einem Gesamtdiskurs.
Die Quinzaine soll also diverser werden?
Ja … ohne meinem Vorgänger etwas anlasten zu wollen, denn sein Programm war von sehr großem Wert.
Es gab ja schon eine gewisse Vielfalt. Welche sind die Bereiche, die dich interessieren, die mehr nach vorne gebracht oder überhaupt erst entdeckt werden müssten?
Es ist schwierig, sie zu definieren, und ich sträube mich auch etwas dagegen. Ich beschränke mich darauf, festzustellen, dass es verschiedene Familien des Kinos gibt, die in den letzten Jahren nicht unbedingt einen Platz in Cannes hatten, von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Wie der Dokumentarfilm?
Dokumentarfilm ist ein Wort, das ein eigenes Interview verdienen würde. Ich würde sagen: avancierte Formen des Dokumentarischen oder Filme, die mit dem Dokumentarischen auf unerwartete Weise spielen. Einige dieser Arbeiten kann man beim FIDMarseille sehen. Ich glaube, es gibt gewisse Praktiken und Forschungsrichtungen, die nicht willkommen waren. Wenn ich mich auf die Geschichte der Quinzaine der 1970er berufe, dann entsprechen sie bestimmten Filmen von heute.

An welche anderen Familien denkst du noch?
Ein Albert Serra zum Beispiel, der gewissermaßen durch die Quinzaine bekannt wurde. Ein Albert Serra am Ende der 2000er würde diesem Geist entsprechen. Ich nenne das Beispiel nur, um zu sagen, dass es Praktiken gibt, die man seltener in Cannes gesehen hat in den letzten Jahren. Davon abgesehen habe ich keineswegs vor, auf die anderen Familien des Kinos zu verzichten, die aktuell in Cannes repräsentiert sind. Filme mit hohem wirtschaftlichem Potenzial oder mit einigen Millionen Euro Budget sollen genauso dazugehören. Ich habe nicht vor, die Quinzaine in ein experimentelles Ghetto zu verwandeln. Das ist gar nicht möglich. Die Quinzaine ist in Cannes, und da gibt es auch den Markt. Die Herausforderung wird sein, unter diesen Filmen mit hohem Budget und wirtschaftlichem Potenzial – was auch heißt: mit hohen wirtschaftlichen Erwartungen – diejenigen zu finden, die dennoch zu jenem Diskurs gehören, die das Spektrum erweitern von dem, was das Kino ausmacht, Jahr für Jahr.
Könntest du dir vorstellen, einen Marvel-Film zu zeigen?
Warum nicht? Ich schließe nichts aus. Innerhalb der Marvel-Filme gibt es ausgezeichnete Werke. Man muss nur einen Rahmen finden, in dem es stimmig wäre, einen Marvel-Film zu zeigen. Man darf nicht vergessen, dass die Quinzaine gegründet und kontrolliert wird von der Gemeinschaft der Regisseurinnen und Regisseure. Sie sollten im Mittelpunkt der Projekte stehen, eine solche Vision muss es geben. Vor dem Hintergrund gehen wir auf die Suche nach Filmen. Eine zynische Programmauswahl ist nicht meins. Eine spielerische Auswahl aber sehr wohl. Man darf sich nicht schämen, im Kino Spaß zu haben. Ich will einen Diskurs bauen, der sinnvoll und kohärent ist, ich will Sinn schaffen mit einem so breiten Spektrum wie möglich. Ich will bestimmten Praktiken mehr Legitimität verschaffen, dafür müssen sie auf derselben Ebene wahrgenommen werden wir die etablierteren Praktiken. Die Kopräsenz dieser Pole gibt einem Programm ihren Sinn. Das wird unser Abenteuer sein: diese Filme zu finden.
Im ersten Teil des Gesprächs haben wir über das Kino Le Concorde und das Festival in La Roche-sur-Yon gesprochen, die unter der Leitung von Paolo Moretti in der eher uncinephilen Provinz erstaunliche Blüten schlagen.
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