"Verführung ist das nicht" – Interview mit Bruno Dumont

Mit Quakquak und die Nichtmenschen setzt Bruno Dumont seine komödiantische Serie Kindkind um einen inkompetenten Kommissar und weitere Trottel in der französischen Provinz fort. Critic.de hat den Regisseur in Locarno getroffen und mit ihm über sein eigenwilliges Verhältnis zum Zuschauer und zur Wirklichkeit gesprochen. Ab morgen auf Arte und jetzt schon in der Mediathek.


critic.de: Was ich an Ihrer Arbeit besonders schätze, ist, wie Sie Zuschauer verwirren oder aus dem Gleichgewicht bringen. Jedes Mal, wenn ich einen Ankerpunkt in Ihren Filmen zu finden glaube, verschiebt er sich wieder.

Bruno Dumont: Ja, das stimmt vielleicht. Ich lache gerne und mache gerne Witze. Ich mag das Überraschende an Witzen. Zuschauer muss man verblüffen, zum Staunen bringen. Dafür gibt es viele Wege. Ich versuche, mich nie zu wiederholen. Da ich im Kern doch ohnehin immer das Gleiche mache, bemühe ich mich, mir selbst zu entfliehen, indem ich neue Formen ausprobiere, ohne mich darum sorgen zu müssen, ob ich als Autor oder Regisseur immer noch darin zu finden bin. Meine Risikobereitschaft ist deswegen groß, etwa bei der Wahl eines Schauspielers. Ich hab keine Angst vor Extravaganz. Damit es aber extravagant sein kann, muss es stimmen. Es gibt „akademische“ oder psychologische Pflichten.

Was verstehen Sie darunter, dass es stimmen muss?

Im Experimentalfilm halte ich zum Beispiel manches für übertrieben. Ich glaube, der Zuschauer hat das Recht, zu verstehen, was er sieht. Sie können ihn sehr weit mitnehmen, dürfen ihn aber nicht auf der Strecke verlieren. Wenn ich etwas Surrealistisches inszeniere, dann bleibt es trotzdem auch realistisch. Das ist der Wortstamm. Glaubwürdigkeit spielt eine Rolle, wobei das natürlich sehr von der Bereitschaft des Publikums abhängt. Bei L’humanité hat ein Zuschauer den Saal sofort verlassen und meinte zu mir: „Dass der Typ ein Polizist sein kann, glaub ich keine Sekunde!“ So etwas kann bei Quakquak und die Nichtmenschen auch passieren. Die Protagonisten sind merkwürdig, das setzt beim Publikum Neugier voraus. Formatierungen im Kino und Fernsehen haben zur Folge, dass viele Leute immer das Gleiche sehen wollen.

Die Wiederholung kann auch ein Mittel sein.

Man kann daraus eine Kunst machen.

Es ist die Kunst, die das menschliche Tier erzieht“

In den Einstellungen, die Sie wählen, und im Rhythmus der Montage setzen Sie, scheint mir, oft darauf, nah am Witz dran zu sein, aber immer etwas daneben zu schießen. Die Einstellungen sind zu weit, der Rhythmus zu langsam, sodass die Pointe leicht verfehlt wird.

Ich arbeite mit Tragikomik. Es entsteht eine Verunsicherung gegenüber der Handlung: Ist das lustig oder nicht? Der Zuschauer muss das entscheiden, und mancher will das nicht. Es gibt grenzwertige Momente, und ich suche diese, wenn man so sagen will, Scheitelpunkte. Ich denke, man muss dem Zuschauer unbedingt die Freiheit der Interpretation lassen. Nicht nur bei der Frage, ob etwas gut ist, sondern auch beim Bösen. Es zwingt ihn zur Aktivität, und das tut ihm gut.

Ist das auch eine didaktische Arbeit?

Ich glaube, dass das Kino eine Bildungsfunktion hat, wie die Kunst überhaupt. Kunst ist Teil der Zivilisation. Es ist die Kunst, die das menschliche Tier erzieht. Das ist ein Problem heute, weil die Kunst nicht sehr künstlerisch ist. Sie wurde vom Kommerz gekapert und hat eine reine Zerstreuungsfunktion. Kino ist natürlich Unterhaltung, aber dient der Erziehung. Wenn Sie Jerry Lewis sehen: Das ist natürlich unterhaltsam, gleichzeitig aber spirituell und intelligent. Dämlich jedenfalls nicht. Dagegen gibt es viele idiotische Filme, die das Publikum verdummen. Man muss es erziehen, allerdings nicht mit intellektuellen Filmen, bei denen man nichts versteht. Ich denke, QuakQuak ist unterhaltsam und lustig und regt auch zum Nachdenken an.

Gibt es einen Moment der Verführung?

Nein, Verführung ist das nicht. Ich habe eine Verantwortung gegenüber dem Publikum. Ich mache ein öffentliches Kunstwerk, insofern habe ich eine öffentliche Verantwortung. Das Publikum hat das Recht, ernährt zu werden, ästhetisch, künstlerisch, ethisch, was auch zum Spirituellen führt. Wenn Sie aus einem Film rausgehen, sollten Sie nicht derselbe sein. Sonst bringt es nichts. Das Problem des Kinos heute ist, dass es von der Realität ablenkt, obwohl es doch eigentlich unser Bewusstsein der Wirklichkeit erhöhen müsste. Da stimmt etwas nicht.

Man darf nicht für andere schreiben, bloß nicht“

Ab den ersten Minuten gibt es in Quakquak und die Nichtmenschen eine ganze Reihe an Aspekten, die man als Themen behandeln könnte, die es hier aber nicht werden. Stattdessen tauchen sie eher wie Fremdkörper im Bild auf oder werden lediglich kurzzeitig berührt. Dazu gehören Fragen nach Geschlechterbildern und sexueller Identität, Flüchtlinge und Rechtsradikalismus.

Soziale Realität wird berührt und explodiert. Das geht einher mit einer Verweigerung des Ernsten. Die Probleme sind ja durchaus ernst, sie werden aber übers Knie gebrochen. Meistens durch den Kommandanten. Ich finde es sehr interessant, in eine wirklich ernste Situation Ironie hineinplatzen zu lassen, weil es einen anderen Blick ermöglicht. Kino ist nicht die Wirklichkeit und verändert sie auch nicht, aber vielleicht den Zuschauer.

Ist das vor allem eine Frage der Inszenierung?

Es geht um Katharsis, also um Inszenierung.

Das heißt, Sie können es zwar schreiben, zusammenfügen lässt sich das aber erst beim Dreh?

Es ist geschrieben, es gibt die Interpretation durch den Schauspieler und dann Überlegungen zum Zuschauer. Man muss ihm Platz lassen. Man darf also nicht alles erklären, es gibt Teile, die mysteriös sind, und solche, die verwirrend sind, hoch, runter, hoch, runter, das ist der Rhythmus. Manches weiß der Zuschauer ohnehin schon, die Leute sind nicht blöd und zunehmend gebildeter.

Verstehen Sie sich selbst als Zuschauer, wenn Sie beim Dreh sind?

Ja, natürlich. Wie Sie. Marcel Proust sagte: „Ich schreibe für mich. Wenn ich mit mir selbst ehrlich bin, dann bin ich ehrlich mit den anderen, denn ich bin menschlich wie alle.“ Ich denke, er hat recht. Die, die für andere schreiben, sind eine Katastrophe. Man darf nicht für andere schreiben, bloß nicht. Sonst tritt man in die Verführung und die Lüge. Man muss ehrlich sein, der Zuschauer wird es sehen. Wenn ein Autor mich manipulieren will, spüre ich das sofort. Ich mag es, in Ruhe gelassen zu werden vom Autor, aber er darf mir die Hand reichen, mir Dinge erklären. Die Kunst des Umgangs mit dem Zuschauer ist sehr subtil.

Ist das der Grund, warum Sie das Psychologische weitestgehend vermeiden?

Der Zuschauer hat seine eigene Psychologie. Das Kunstwerk ist komplementär zum Zuschauer, es vervollständigt ihn. Kommerzielle Filme sind dagegen vollkommen geschlossen, der Zuschauer wird gar nicht mehr gebraucht, er nützt nichts.

Verweigern Sie also auch das Prinzip der Identifikation?

Nein, das ist notwendig! Es ist sehr wichtig, sich mit den Helden zu identifizieren, er wird die Reise für Sie antreten. Macbeth oder andere dunkle Figuren der Theatergeschichte durchleiden etwas für Sie, das ist das, was man Katharsis nennt, also eine Reinigung des Bösen durch das Böse. Das ist wie eine Impfung: Man verabreicht Ihnen die Krankheit, und Ihr Körper entwickelt Antikörper. So ist das auch beim Kino.

Laurel und Hardy sind nicht mehr weit“

Stilistisch hat sich Ihr Werk sehr verändert, vielleicht gar revolutioniert. Man wird das retrospektiv besser beurteilen können, von heute aus sieht man aber mindestens zwei Phasen. Mit FilmKindKind (P’tit Quinquin) sind ein neuer Humor und ein neuer Rhythmus hineingekommen, gegenüber einem Werk, das zuvor zurückhaltender war.

Das liegt am Genre der Komödie, bei dem das Tragische explodiert. Dennoch bleibt es die gleiche Art der Inszenierung. In QuakQuak finden Sie Das Leben Jesu. Der Humor entspricht dem Tragischen. Es sind die gleichen Figuren und die gleichen Orte, nur dass es außer Kontrolle gerät. Ich bin mir sicher, dass der junge CoinCoin Freddy aus Das Leben Jesu ist oder zu ihm wird.

Wie wird denn aus QuinQuin CoinCoin?

Das ist die Zeit, die vergeht. Mehr nicht. Im nächsten Teil heißt er vielleicht nur noch Coin. QuakQuak ist sehr viel radikaler schematisch als KindKind. Der Titel ist also auch eine Art, anzuzeigen, dass wir vom Humor her immer kindlicher werden, immer einfacher, grober und auch burlesker. Wir bewegen uns auf eine vereinfachte Wirklichkeit zu. Der Ton ist auch so, bic, ploum, plaf. Wir sind in einem Comic. In Das Leben Jesu meint man, in einem quasi soziologischen Naturalismus zu sein, was gar nicht der Fall ist. Ich habe den Naturalismus denaturalisiert, um eine surrealistisch überhöhte, expressive Repräsentation zu erreichen. Laurel und Hardy sind nicht mehr weit.

Meinen Sie, dass die Codes, die Sie früher nutzten, heute abgenutzt sind?

Ja, das nutzt sich ab, das ist normal. Man muss sich regenerieren. Wenn Sie die ersten Symphonien eines Komponisten hören, dann merken Sie, dass das primitiv war. Und die letzten haben zwar immer noch dieselben Themen, aber sie haben an Nuancen gewonnen. Georges Braque hat erst figurativ gemalt, hatte dann eine kubistische Phase mit starken Verfremdungen und zog am Ende in die Normandie und malte kleine Boote am Meer. Er hat den Kreislauf abgeschlossen. Ich glaube, das tun wir alle. Man wiederholt sich, und in der Wiederholung erneuert man sich. Das ist nicht widersprüchlich. Ich bin mir auch sicher, dass ich zur Psychologie zurückkehren werde. Gerade aufgrund dessen, was ich gerade gemacht habe, interessiert es mich zu wissen, wie es wäre, einen einigermaßen normalen Film zu drehen.

Sie haben es aber nicht geplant?

Doch. Nächstes Jahr.

Kommentare zu „"Verführung ist das nicht" – Interview mit Bruno Dumont“

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