Sprachlosigkeit, Demütigung und Gewalt.

Interview mit Andres Veiel zu Der Kick

Auf der Basis seines gleichnamigen Theaterstückes hat der preisgekrönte Regisseur Andres Veiel eine Art Dokumentartheater-Film gemacht: zwei Schauspieler in einer alten Fabrikhalle, die mehrere Rollen übernehmen. Veiel versucht, auf subtile Weise herauszufinden, warum der Mord an Marinus Schöberl durch zwei kaum ältere Dorfbewohner im brandenburgischen Potzlow geschehen konnte. critic.de sprach mit dem Regisseur unter anderem über die Schwierigkeiten, eine geeignete Darstellungsform zu wählen, und über die Unterschiede zum Theaterstück.

critic.de: Herr Veiel, Sie sind mit der Dramaturgin Gesine Schmidt nach Potzlow, dem Ort, in dem sowohl Täter wie Opfer wohnten, gefahren und haben mit Tätern, Angehörigen und Dorfbewohnern gesprochen. Daraus haben Sie ein Theaterstück gemacht. Warum haben Sie diese Form der Auseinandersetzung gewählt?
Andres Veiel: Über das Dorf war direkt nach der Tat eine Medienwelle hinweggegangen, die Leute reagierten sehr empfindlich darauf, wie sie dargestellt wurden. Begriffe wie „Faschodorf“ oder „Dorf der Mitwisser“ waren gefallen – zu Unrecht, wie wir später festgestellt haben. Für uns war im Vorfeld schon klar, dass im Umfeld der Täter und Opfer kaum jemand bereit gewesen wäre, vor einer Kamera zu sprechen. Nachdem wir die ersten Gespräche geführt hatten, haben wir sehr schnell festgestellt, dass die Texte für sich genommen sehr spannend sind und dass diese, einschließlich der Verhörprotokolle, Bilder bei mir im Kopf auslösen. Zum Beispiel war es gar nicht von so großer Erkenntnis, den Stall zu zeigen [in dem Marinus Schöberl getötet wurde] oder diese wunderschöne Landschaft gegen das Grauen des Verbrechens zu stellen. Die Sprache allein bot schon so viel Erkenntnis. Vielleicht noch wichtiger ist, dass ich in der Arbeit mit den Schauspielern gemerkt habe, dass ich eine Übersetzung der Gewalt suche.
Wir wollten nicht bei der Monstrosität des Mordes stehen bleiben, sondern ins Ursachengestrüpp vordringen. Deswegen haben wir nach einer abstrakten Form gesucht. Es hat mir sehr geholfen, mit den Schauspielern diese Texte auf eine andere Ebene zu bringen.
Die Irritation, dass ein Mann eine Frau spielt und eine Frau einen Mann, hat mir auch ab einem bestimmten Punkt geholfen, nicht vom Grauen überwältigt zu werden.

Marinus wurde auf dieselbe Art umgebracht wie das schwarze Opfer in American History X (1998). Die Tat wurde also gewissermaßen durch die Medien inspiriert. Wollten Sie durch diese Art der Auseinandersetzung auch der Ästhetisierung von Gewalt entgehen?
Ein wichtiger Punkt ist, dass in dem Film American History X Gewalt nicht nur bebildert, sondern auch ästhetisiert wird. Es sprang ins Auge, dass der ältere Bruder in Zeitlupe mit nacktem Oberkörper auf den jüngeren zuläuft. Das leidende Opfer sieht man nicht mehr, es ist ausgeblendet, stattdessen sieht man einen nackten, gestählten Oberkörper. Ausgerechnet diese Szene ist für den Mord an Marinus handlungsauslösend, obwohl Marcel [einer der Täter] den ganzen Film gesehen hat und dem Gutachter auch gesagt hat, dass er sehr wohl wusste, dass der Film in seiner Botschaft ein Anti-Nazi-Film sein will. Die Botschaft hat ihn also erreicht und trotzdem ist die Tat passiert, weil diese Szene in ihrer Ästhetisierung etwas in ihm ausgelöst hat: Er konnte sich mit dem Täter identifizieren. Wir haben überlegt, ob wir das einbauen, ob wir mit den Bildern arbeiten. Aber je länger wir uns damit beschäftigt haben, desto mehr war ich überzeugt davon, auf Bilder zu verzichten, ja uns ein absolutes Bilderverbot zu erteilen, um diese Art der Zelebrierung von Gewalt zu vermeiden. Ich meine das nicht im moralischen Sinne, also dass man das nicht tun darf. Aber in American History X wird Gewalt opulent, fast opernhaft inszeniert, mit Spaß an der Ausstattung. Ich dachte: Diese Scheiße will ich einfach nicht mitmachen.

Marcels Verhörprotokolle halten das Stück dramaturgisch zusammen. Der Täter ist das Zentrum des Films?
Er ist derjenige, der gesprungen ist, der sozusagen das, was die anderen vorbereitet hatten, vollendet hat. Und er ist derjenige, der sich geäußert hat, der in den ersten zwei Tagen nach seiner Festnahme ein lückenloses Geständnis abgelegt hat. Er hat von A nach B die ganze Nacht beschrieben. Sein Bruder Marco hat geschwiegen. Die Grundidee war, die Tat über Marcel erzählen zu lassen und diese Versatzstücke, die immer wieder auftauchen, hinzuzufügen. Ich wollte auch deutlich machen: Es ist etwas, das wiederkehrt. Der Schrecken der Tat wird mit Passagen kontrastiert, wo wir den Tätern eine Biographie geben. Auch die Täter haben eine Geschichte, man muss sie sich als Menschen vorstellen. Es gibt durchaus Momente, wo man sich in sie einfühlen kann, wo sie einem sympathisch werden. Man wird dazwischen hin- und her geworfen, es gibt kein Entkommen. Man macht die Täter weder zu Opfern, noch kann man sagen, dass sie Monster sind.

Warum haben Sie aus dem erfolgreichen Theaterstück noch einen Film machen wollen?
Der Film ist zwar nach dem Theaterstück gedreht worden, aber er war für mich von Anfang an im Kopf. Nicht nur weil ich Filmemacher bin, sondern weil ich gemerkt habe, dass die Schauspieler mir – ein bisschen habe ich sie natürlich auch so ausgewählt – im filigranen, feinstofflichen Bereich sehr viel anbieten: minimale Regungen im Gesicht. Da spielt etwas mit, was im Theater verpufft. Wenn jemand 25 Meter weit entfernt in einem Wagen mit einer Glasscheibe sitzt, bekomme ich natürlich nicht mit, was bei ihm im Gesicht passiert. Ich hatte die Hoffnung, das mit der Kamera aufzuspüren und die gleiche Geschichte mit denselben Darstellern anders und neu zu übersetzen. Hinzu kommt ein anderer Rhythmus: Ich kann Sachen verlängern, zum Beispiel länger auf einem Gesicht bleiben, kann die Reaktionen des anderen bei Monologen einfangen, dazwischen schneiden und dadurch eine andere Form von Erzählweise bekommen. Im Theater bin ich viel mehr genötigt, ohne lange Pause zu arbeiten, denn jede Pause bedeutet unter Umständen auch eine Leere. Im Film ist die Leere großartig. Mich interessiert, nämlich - auch wenn ich mir da gewissermaßen selbst Konkurrenz mache - für mich selbst zu gucken: Schaff ich es, das scheinbar Gleiche neu oder anders zu erzählen? Natürlich hat es über das andere Medium auch eine andere Reichweite. Theater ist elitär, ist begrenzt: Wenn die Leute „Theater“ hören, denken sie: Um Gottes Willen!

Haben Sie dadurch versucht, ein neues Publikum zu erreichen?
Ein anderes Publikum, vielleicht auch ein Publikum, das es noch mehr angeht. Die Gefahr beim Theater – es muss nicht so sein – ist, dass man Leute erreicht, die sozusagen von oben herab auf eine Bühne gucken und sagen: Damit hab ich nichts zu tun, zumindest wenn es hier in Berlin gezeigt wird. Es wäre etwas anderes, wenn es nach Frankfurt/Oder als Gastspiel oder Eberswalde gebracht würde. Der Film kann natürlich auch in Angermünde, kann überall gezeigt werden. Er ist das einfachere Medium. Man braucht keinen LKW dafür.

Einige der Dorbewohner waren bei einer Theateraufführung. Wie haben sie auf das Stück reagiert?
Wir hatten schon Bedenken, aber wir wollten auch niemanden ausladen. Es ging gut. Es hätte auch anders sein können. Überraschenderweise haben alle, die es gesehen haben, vielleicht mit ein, zwei Abstrichen, gesagt: Ihr macht etwas für uns. Ihr, als Macher dieses Stückes, arbeitet euch an etwas ab, was wir sonst allein für uns getan haben. Eine Frau hat sogar gesagt, dass sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, danach anders, entspannt und ruhig geschlafen zu haben. Das war Glück. Dass wir das geschafft haben, hört sich etwas kitschig an. Es war schließlich in erster Linie nicht Ziel des Stückes, es war ja keine Therapie. Aber wenn es als Begleiteffekt passiert, ist es wunderbar. Ich habe in vielen anderen Arbeiten gemerkt, wie schwierig es ist mit den Protagonisten. Da gibt es Enttäuschung, Verwerfungen, andere Erwartungen an den Film. Es sind immer heikle Prozesse.

Der Film entlässt den Zuschauer mit dem Gefühl, dass man zwischen Täter und Opfer nicht mehr genau unterscheiden kann. Ich hatte auch den Eindruck, dass das Hauptproblem, welches Sie herausstellen, das Fehlen an Kommunikation ist, das Unwissen, wie man richtig miteinander umgeht.
Es ist sehr viel Sprachlosigkeit, die auch zurückgeht auf die Generation davor. Immer wieder gibt es Gewalterfahrung, die nicht thematisiert wird. Schon der Großvater, der erlebte, wie seine eigenen Eltern im Zweiten Weltkrieg stranguliert wurden, spricht erst am Totenbett darüber. Ich bin überzeugt, dass Gewalterfahrung, auch wenn nicht darüber gesprochen wird, weitergegeben wird und an einem anderen Punkt plötzlich durchbricht. Ich meine das nicht als eine Entlastung oder Entschuldung im Sinne von:„Weil das passiert ist, hat Marcel den Mord begangen“. Das wäre natürlich Blödsinn. Aber ich glaube, dass man – wenn ich vom Ursachengeflecht spreche - sehr viel weiter ausholen muss, und dass man diese ganz unterschiedlichen Erfahrungen von Kommunikationsarmut mit einbeziehen muss: Der Großvater, der Vater, aber auch Marco: Keiner hat über die vielfachen Demütigungen und Traumatisierungen gesprochen, die er erlebt hat. Die Erfahrung von Demütigung kann in Frustration und letztendlich in Gewalt umkippen. Sprachlosigkeit, Demütigung und Gewalt: In diesem Dreieck findet man auf jeden Fall Anhaltspunkte, warum der Mord passiert ist.

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