Schizophrene Zeiten

Interview mit Deepa Metha zu Water

Hiesigen Filmfans gilt Indien derzeit häufig als Synonym für Bollywood, eine Kinoform, die vor allem im Fernsehen und auf DVD, aber auch im Kino sehr präsent ist. Doch die indische Kinematographie hat durchaus noch anderes zu bieten. Neben Mira Nair (Salaam Bombay!, 1988; Monsoon Wedding, 2001), gehört auch Deepa Mehta zu den Filmemacherinnen, die sich eher in der Tradition Satyajit Rays (Pather Panchali, 1955; Apurs Welt, Apur Sansar, 1959) sehen. Ihr neuer Film Water beschreibt in poetischen, dialogarmen Bildern den rituellen sozialen Tod, den indische Witwen nach hinduistischer Tradition durchleben. Thomas Abeltshauser traf die Regisseurin zum Interview auf dem Filmfest München.

critic.de: Sie kamen einen Tag verspätet aus Delhi an. Was war passiert?
Deepa Metha: In Delhi gab es Straßensperren, weil am Tag zuvor in Bombay Bombenanschläge stattgefunden haben. Deshalb haben wir den Flug verpasst.

Fühlen Sie sich dort noch sicher?
Ich denke, niemand fühlt sich wohl, aber ich habe keine Angst. Wenn man stirbt, stirbt man eben. Aber es ist sicher für niemanden eine angenehme Atmosphäre. Ich war zufällig in Madrid als die Anschläge auf die U-Bahnen stattfanden, das kann einem überall passieren. Es ist furchtbar, man hat das Gefühl, persönlich angegriffen zu werden. Es ist ganz egal, ob es in Indien, Madrid, London oder sonst wo stattfindet.

2001, als Sie Water zum ersten Mal drehen wollten, wurden Sie selbst zur Zielscheibe von Extremisten.
Auf dem Set tauchte ein Mob von 2000 Leuten auf, die alle Bauten und Requisiten in den Fluss warfen. Wir alle haben Todesdrohungen erhalten. Als wir abbrechen mussten, hatten wir zweieinhalb Drehtage hinter uns und vielleicht zwei Minuten des Films im Kasten. Ich war völlig fassungslos – wir haben all unser Geld verloren, weil wir uns mit unserem kleinen Budget keine Versicherung leisten konnten. Es war schrecklich. Und ich habe mir geschworen, Water zu drehen, aber erst, wenn ich aufgehört habe, wütend zu sein. Wut ist eine unglaublich starke Emotion. Und wenn man damit an ein Script geht, das recht feinfühlig ist, zerstört das alles. Man braucht einen Regisseur, der leidenschaftlich ist, nicht wütend. Und es hat vier Jahre gedauert, bis diese Wut wirklich weg war. Danach war es sehr leicht. Ich hatte das Drehbuch seitdem noch nicht einmal angesehen.

Wie sehr hat sich der Film dadurch verändert?
Natürlich hatte ich mich verändert. Das Drehbuch blieb inhaltlich im Großen und Ganzen dasselbe, allerdings war es mir mittlerweile zu dialoglastig und ich kürzte es um etwa die Hälfte. Ich suchte nach filmischen Entsprechungen für diese Worte, wie ich etwas bildlich ausdrücken kann anstatt verbal. Ich hatte mich als Filmemacher seitdem mehr mit dieser Frage beschäftigt und das hatte sicherlich Einfluss auf den Film. Die Handlung blieb aber dieselbe.

Sie haben den Film nun nicht mehr in Indien gedreht, sondern in Sri Lanka.
Das war die beste Entscheidung meines Lebens! In Indien hätten wir keine Versicherung bekommen und das war der Grund, nach Sri Lanka zu gehen. Ich habe die Handlung also in ein kleines Dorf an der bengalischen Grenze versetzt, Rawalpur. Und wir haben in Sri Lanka einen Ort gefunden, der fast genauso aussieht wie Rawalpur. Es war wundervoll. Ich musste zu keinem einzigen politischen Treffen und musste niemanden am Set begrüßen. Ich konnte mich voll auf meine Rolle als Regisseurin konzentrieren.

Mussten Sie das Drehbuch wieder vorlegen?
Ja, in Sri Lanka. Aber sie haben es genehmigt.

Weil es nicht um deren Land geht?
So einfach ist es nicht. Als Salman Rushdies Satanische Verse verfilmt werden sollte, hat die indische Regierung es nicht erlaubt, aber Sri Lanka schon. Und dann, drei Tage bevor die Dreharbeiten beginnen sollten, haben sie die Erlaubnis zurückgezogen, weil sie Indien nicht vor den Kopf stoßen wollten. Man kann sich da nie sicher sein, wie sie reagieren.

Salman Rushdie schrieb eine Hymne über ihren Film. Gibt es eine Art Intellektuellen-Netzwerk, um sich in feindseligen Situationen gegenseitig zu helfen?
Salman ist ein Aktivist, aber keiner, der das wie eine Fahne vor sich herträgt. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, bis mein Film in New York gezeigt wurde. Aber ich kenne alle seine Bücher und halte ihn für brillant. Auf der Premiere trafen wir uns zum ersten Mal und er liebte den Film. Danach fragte jemand, ob er nicht etwas darüber schreiben wolle und das hat er getan. Ich war außer mir vor Freude. Und seitdem sind wir gute Freunde geworden. Aber nicht, weil wir uns in unserem Verfolgtsein zueinander hingezogen fühlen. Sondern, weil er so ein witziger Kerl ist.

Water ist im Jahr 1938 angesiedelt. Wie haben Sie für den Film recherchiert?
Ich habe etwa ein Jahr lang recherchiert, eine ganze Horde von Romanen handeln von den Schicksalen dieser Witwen und es gibt zahlreiche historische Abhandlungen - auch über die ersten Versuche, diese Traditionen in den 1820er Jahren zu brechen. Leider waren sie nicht sonderlich erfolgreich und als die Briten die Macht übernahmen, ging es Witwen wieder schlechter. Es gab Reformer, die ihre Situation verbessern wollten, sie stießen immer an eine Grenze - die Tradition. Man konnte bis zu einem gewissen Grad Dinge in Frage stellen, aber ändern kann man sie deswegen noch lange nicht. Eines der Bücher, das mich am meisten beeindruckt hat, war Perpetual Mourning von Martha Alter Chen, eine sozioethnographische Studie über die ökonomischen Ursachen der Witwenverbannungen. Ich habe insgesamt sicher 200 Bücher und Abhandlungen zum Thema gelesen.

Wird auch außerhalb von akademischen Diskursen darüber gesprochen?
Seit etwa fünf, sechs Jahren beginnt langsam auch eine öffentliche Debatte und immer mehr Aktivisten, Frauen wie Männer, kämpfen dafür, dass eine große Gruppe unserer Gesellschaft nicht länger marginalisiert wird. Witwen erhalten die Möglichkeit, sich fortzubilden, denn letztlich geht es darum, sie ökonomisch unabhängig zu machen. Das ist immer noch ein Riesenproblem. Ich habe über vier Monate in Ashrams verbracht, sie existieren immer noch. Der einzige Unterschied: Man findet dort heute keine Kinderwitwen mehr, weil Kinderhochzeiten mittlerweile verboten sind. In den 1930er war das noch ganz anders, damals gab es tatsächlich acht-, neunjährige Witwen. Deswegen habe ich auch die Geschichte in dieser Zeit angesiedelt.

An einer Stelle des Films sagt ein Priester, für Witwen gäbe es drei Alternativen: Entweder lässt sich die Frau mit ihrem toten Mann verbrennen oder sie heiratet mit Zustimmung der Familie den jüngeren Bruder des Toten oder sie muss ihr restliches, karges Dasein als Aussätzige mit kahl rasiertem Schädel in einem Witwenheim verbringen. Welche Möglichkeiten haben Witwen heute?
Verbrennungen gibt es nur noch sehr selten. Die meisten gehen in den Ashram, weil es einem gesellschaftlich-religiösen Gesetz entspricht. Eine Frau ist nach der Heirat ein Teil des Mannes und wenn er stirbt, stirbt sie mit ihm. Die einzige Wahl, die ihr bleibt, ist, den Rest ihres Lebens enthaltsam und zurückgezogen zu verbringen. Das wird von jeder Witwe erwartet. Es ist internalisiert und wird nicht in Frage gestellt. Ashrams sind keine Gefängnisse, die Frauen gehen freiwillig dort hin. Zuhause werden Witwen nicht geduldet, weil der Aberglaube sie für unrein erklärt. Selbst, wenn ihr Schatten auf einen fällt, muss man sich waschen. Sie gelten als unheilvoll. Mittlerweile dürfen einige Witwen bei ihren Familien bleiben, aber es ist sehr hart für sie. Ich habe mit einer gesprochen, die in ihrer Familie lebt, aber zum Beispiel nicht an der Hochzeit ihres eigenen Sohnes teilnehmen durfte, weil das Unglück bringen soll. Deshalb hat sie sich entschieden, in einen Ashram zu gehen, weil sie zumindest dort von ihresgleichen umgeben ist.

Warum gab es in Indien solche gewalttätigen Reaktionen auf ihren Film?
Ich weiß nur, dass der Oberste des Rashtriya Swayamsevak Sangh, einer hindu-nationalistischen Kaderorganisation, die gegen den Film protestierte, das Drehbuch gelesen hatte. Er hielt es für antihinduistisch, weil ich es gewagt hatte, die Witwenpraxis, eine fast heilige Tradition, in Frage zu stellen. Dieser Oberste sagte mir, jenes Infragestellen sei schädlich für Frauen und vor allem für Witwen, denn sie seien wie Göttinnen und sollten es auch bleiben. Und natürlich stelle ich die Tradition in Frage! Der Teufelskreis muss durchbrochen werden. Wie die Frau am Ende des Films, müssen die Menschen auf ihr Gewissen hören und nicht blind dem Glauben folgen.

Wie kam das Drehbuch überhaupt in seine Hände?
Man muss der indischen Regierung jedes Drehbuch vorlegen, bevor man zu drehen beginnt. Das Ministerium für Information und Rundfunk sieht es sich an und wenn es irgendetwas findet, das als negativ gegenüber Indien oder Indern empfunden wird, bekommt man keine Dreherlaubnis. Ich kenne viele Filmemacher, die deshalb nicht in Indien drehen konnten. Wir haben ihnen das Drehbuch zu Water gegeben, wir bekamen die Genehmigung und begannen zu drehen. Die Protestierer waren der kulturelle Arm ebendieser rechtsfundamentalistischen Regierung, die uns die Drehgenehmigung erteilt hatte. Da muss es also intern große Spannungen gegeben haben.

Halten Sie Indien oder die indische Regierung für schizophren?
Ich denke, Indien ist wahrscheinlich genauso schizophren wie Deutschland, so wie jedes Land derzeit schizophren ist. Wir alle leben, ob wir es wollen oder nicht, in politisch gesehen höchst schizophrenen Zeiten.

Kommentare zu „Schizophrene Zeiten“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.