„Mein bester Kumpel ist und bleibt mein Vater“
Interview mit Robert Thalheim und Milan Peschel zu Netto
So schnell kann aus einer Seminararbeit ein Filmdebüt werden! Robert Thalheims Film Netto entstand nur als Abschluss des dritten Studienjahrs – und wurde gleich auf die Berlinale eingeladen. Geadelt mit dem Preis der Reihe Perspektive Deutsches Kino kommt der Film nun in die Kinos. Die bewegende Vater-Sohn-Geschichte weiß vor allem dadurch zu überzeugen, dass sie noch mehr bietet als den Generationenkonflikt. critic.de traf Regisseur Robert Thalheim und Hauptdarsteller Milan Peschel zu einem Interview, in dem sie nicht nur von Zufällen beim Drehbuchschreiben und ganz unüblichen Dreharbeiten berichten. (siehe Kritik)
critic.de: Robert Thalheim, Sie sind 1974 in Berlin geboren, aber nach dem Film weiß man nicht, in welchem Stadtteil!?
Robert Thalheim: (lacht) Es ist immer interessant, was die Leute darüber denken. Milan dachte zum Beispiel lange, dass ich aus Ost-Berlin bin und das war dann für mich wie ein Adelsschlag. Aber ich bin eigentlich aus West-Berlin und habe auch mein ganzes Leben da gelebt, obwohl ich oft versucht habe wegzukommen. Ich habe anderthalb Jahre in Polen gelebt, wo ich Zivildienst machte, auch in Amerika habe ich gelebt und in Indonesien – und jetzt wohne ich auf dem Prenzlauer Berg.
Netto ist an der Filmhochschule in Potsdam entstanden, aber nicht als Abschlussfilm.
Robert Thalheim: Richtig. Offiziell ist Netto meine F 3.
Was bedeutet das?
Robert Thalheim: Das bedeutet „Filmkomplexübung 3“ und heißt, dass es der Abschlussfilm des dritten Studienjahres ist.
Aber es ist nicht üblich, dafür einen Langfilm zu drehen.
Robert Thalheim: Nein, das habe ich Rosa von Praunheim zu verdanken, meinem Professor, der sagte: „Die Studenten drehen immer so ordentliche Kurzfilme, als Visitenkarten für irgendwelche Vorabendserien. Wenn ihr wirklich was zu erzählen habt, dann müsst ihr da raus und da ist auch erst mal das Geld und die Technik egal. Ihr müsst einfach mal erzählen, auch lang erzählen! Jetzt macht ihr im Sommer mal zur Probe einen langen Film: 90 Minuten mit zwei Hauptdarstellern. Hier habt ihr 30 Kassetten, macht mal los!“
Milan Peschel, wie ist die Zusammenarbeit mit Robert Thalheim entstanden?
Milan Peschel: Die Zusammenarbeit ist schon bei einem Kurzfilm entstanden, den Robert gemacht hat. Ich kannte seine Freundin, da sie im Jugendklub in der Volksbühne spielte, den ich zwei, drei Jahre geleitet habe, und er kannte mich von der Bühne. Er hat mich einfach gefragt, ob ich da mitspielen würde. Und jetzt musste er eben als Semesteraufgabe einen Langfilm drehen, aber trotzdem gab es natürlich ein richtiges Casting.
Wie war die Finanzierung? Gab es Gagen für die Darsteller?
Milan Peschel: Nee, Gage gab es nicht, das war auch klar. Das gab’s auch beim Kurzfilm nicht.
Es war ein Freundschaftsdienst?
Milan Peschel: Ja, das kann man so sehen. Aber für mich ist es ja auch ein Dienst, in dem Sinne, dass ich natürlich die Chance habe, so eine tolle Rolle zu spielen und von einer anderen Öffentlichkeit als nur vom Theater wahrgenommen zu werden.
Was hat der Film schließlich gekostet?
Robert Thalheim: Also eigentlich nichts. Unser Ausstattungsbudget hat darin bestanden, dass wir für zwei Tage einen Transporter mieten konnten, damit unser Ausstatter sich das Set kostenlos zusammenschnorren konnte. Um etwas zu kaufen hat er kein Geld gekriegt.
Aber die Schlussszene, war doch sicher teurer – mit Kamerakran und so...
Robert Thalheim: Ja, richtig, die hat ungefähr ein Drittel unseres Budgets verschlungen!
Wie hat sich die Arbeit im Einzelnen gestaltet? Gab es ein fertiges Drehbuch oder wurde improvisiert?
Milan Peschel: Es wurde sehr viel improvisiert. Aber es gab auch ein fertiges Drehbuch, wo die entscheidenden Szenen ausformuliert waren...
Robert Thalheim: ...das ich schon für die Schauspieler entwickelt habe, denn ich wusste ja von Anfang an: Milan ist dabei, Sebastian Butz ist dabei. Zusätzlich ist in die Drehbucharbeit aber noch viel mit eingeflossen; z.B. hat Christina Grosse, die Sebastians Mutter spielt, mir gesagt: „Tut mir leid, ich kann nicht mitspielen, weil ich schwanger bin.“ Da dachte ich: „Toll eigentlich! Natürlich: Die ist wieder schwanger! Das macht die Situation ja viel spannender.“ Beim Dreh selbst war unser ästhetisches Konzept, dass die Technik nie den Schauspielern im Weg steht, dass wir sie fast dokumentarisch beobachten bei ihrem Spiel. Und da muss ich natürlich große Räume aufmachen, in denen sie agieren können und der Text kein Gesetz ist, damit sie ihn auch weiterspinnen können und genau das ist passiert. Bei den Jugendlichen haben wir dann teilweise den Text ganz weggeschmissen und ich habe dann nur noch so Sachen reingesagt: „Nimm mal seine Hand.“ oder: „Jetzt mach ihr mal ein Kompliment über die roten Haare.“ Wir sind da manchmal wie Dokumentaristen die Zuschauer der Schauspieler gewesen.
Dieses natürliche Agieren trägt viel zum Realismus des Films bei. Aber auch der sehr authentische Drehort; wo ist das eigentlich gedreht worden?
Milan Peschel: In der Eberswalder Str. 35. Da war ein Laden im Parterre mit einer 2-Zimmer-Wohnung. Nach dem Sommer ist dann dort jemand eingezogen und hat eine Bar daraus gemacht, so eine Kneipe.
Dennoch gibt es auch Szenen, in denen man das Gefühl hat, hier wird „typisches Kino“ gemacht. Also z.B. die Szene, in der Marcel mit dem Fahrrad die Berliner Machtzentren abfährt.
Robert Thalheim: Richtig, es ist immer so ein Zwischending. Auf der einen Seite zwar Freiheit für die Schauspieler. Aber der Film ist trotzdem gemacht und wir haben eine ganz genaue Kameraarbeit, die aber natürlich immer das Ziel hatte, diese Frische zu erhalten. Wir haben sozusagen hart daran gearbeitet, dass es aussieht, als wäre es keine Arbeit gewesen.
Milan Peschel: ...Netto ist vielleicht einer der Filme, bei dem man sagt: Das stimmt doch nicht und das stimmt nicht – aber es ist egal, weil die Geschichte einfach so anrührend ist und einen auch selbst so betrifft.
Was bei der Geschichte insgesamt auffällt, ist eine gewisse Ähnlichkeit von Milans Figur zu der des Taxi Driver (USA 1979). Etwa beider Faszination an Sicherheit, auch der Gedanke der Rache. Aber der Schluss ist völlig verschieden: während der Taxi Driver wirklich Amok läuft, gibt Marcel seine Waffe ab.
Milan Peschel: Ja.
Was symbolisiert das für sie?
Milan Peschel: Man kann den Schluss ja verschiedenen auslegen, aber ich würde es für mich gar nicht festlegen. Es kann z.B. bedeuten, dass er jetzt anfängt, eine Rechnung aufzumachen, wo dann eben „netto“ unten übrigbleibt: „Was hab’ ich, was hab’ ich nicht; was brauch’ ich, was brauch’ ich nicht. Den Sohn hab’ ich jetzt, das ist ganz klar. Die Waffe brauch’ ich nicht unbedingt ...“ Ich empfinde das auch als etwas Positives. Aber der Schluss ist trotzdem auch die Ansage: Achtung, Leute, wir machen hier einen Film und wir versuchen etwas über Leute zu erzählen, die wir vielleicht schon mal gesehen haben, die der Eine oder Andere von uns auch persönlich kennt, die wir aber nie 1:1 wiedergeben werden können, was wir auch nicht dürfen, weil das anmaßend wäre.
Robert Thalheim: Diese Taxi-Driver-Ebene war für mich immer diese tickende Zeitbombe, die in so einem Menschen steckt. Es hat schon seine Ähnlichkeit, wenn der mit seiner Waffe durch die Nacht fährt und so. Für mich war wichtig, klar zu machen, dass ein solcher Mensch, mit seinem Schicksal, für uns auch eine Gefahr darstellt: Eine tickende Zeitbombe – der hat Wutausbrüche, der hat eine Waffe. Wenn wir es uns leisten, die Träume der Menschen so abzuschneiden, also fünf Millionen Leute auf der Straße sitzen lassen, dann ist das auch eine Gefahr für uns. Trotzdem ist es ein Film, der das Recht hat, von guten Gefühlen auszugehen. Ich glaub’ vor allem, dass das eine ganz emotionale Geschichte zwischen Vater und Sohn ist, die dann ganz weit von der Taxi-Driver-Geschichte wegführt. Aber das Potential, das bleibt drin, so dass der Zuschauer manchmal auch denken soll: „Klar, der könnte auch Amok laufen, wenn dieser Sohn nicht da wäre. Der ist eigentlich seine Rettung.“
Es ist sowieso erstaunlich, wie von Ihnen das Verhältnis zwischen Vater und Sohn transportiert wird.
Milan Peschel: Ich war auch sehr überrascht, wie gut das funktioniert hat. Ich habe selber einen Sohn, der aber viel kleiner ist; als wir den Film gedreht haben, war er gerade vier. Aber ich habe zu meinem Vater eine sehr intensive, eine emotional sehr starke Beziehung. Wir sehen uns zwar nicht oft, aber er ist eine sehr wichtige Person in meinem Leben. Das sind wahrscheinlich alles so Gedanken und Empfindungen, die man dann einfließen lassen kann in so einen Film. Aber die Zusammenarbeit mit Sebastian war sehr angenehm, weil er jemand ist, der sehr in sich ruht, der sehr authentisch ist.
Woher kannten Sie ihn?
Robert Thalheim: Ich habe mit ihm schon ein Theaterprojekt zusammen gemacht und fand ihn toll, weil er das große Talent hat, so rüberzukommen, als wenn er nicht spielt. Der ist so sehr natürlich, lässt sich überhaupt nicht beeindrucken und nimmt das dann auch so mit in eine Szene.
Netto erzählt ja eine ziemlich typische ostdeutsche Biographie...
Milan Peschel: ...das kann man so sagen: Ostdeutsch ist es dadurch, weil der eben seine Wurzeln verloren hat. Aber das heißt ja nicht, dass es diese Leute im Westen nicht gibt! Bloß sind die schon ihr ganzes Leben mit solchen Leuten aufgewachsen und mit dem Wissen, dass so etwas in ihrem Leben auch passieren kann.
Worauf ich hinaus wollte, ist die Musik von Peter Tschernig, die als „DDR-Musik“ nicht nostalgisch eingesetzt ist. Sie ist vielmehr ein Stück der Biographie oder Identität, der Kultur der Hauptfigur.
Milan Peschel: Ja, das finde ich auch sehr wichtig. Robert hat sich auch gerade dafür entschieden, jemanden zu nehmen, bei dem es nicht so leicht fällt zu sagen: „Ja, das ist tolle Musik, klar, dass der den mag!“ Es ist eine Musik, die nicht gleich alle mögen werden. Country ist ja auch irgendwie mit so einen Makel behaftet ... Ich finde es aber gerade gut, weil durch diese Musik seine Sehnsucht nicht ausgestellt, sondern viel stärker und glaubwürdiger wird.
Wie sind sie eigentlich auf Peter Tschernig gekommen?
Robert Thalheim: Für mich war wichtig, dem Marcel etwas Individuelles zu geben, etwas, worin sich seine Phantasie von einem einfachen Leben so darstellt, wie er es sich vielleicht wünschen würde. Peter Tschernig kannte ich nicht. Mein Produzent hat mir eine Platte von ihm gegeben und da war das erste Lied, das ich aufgelegt habe, das ich von ihm gehört habe: „Mein bester Kumpel ist und bleibt mein Vater“. Und da dachte ich: „Ist ja Wahnsinn!“ Von da an habe ich seine Songs auch ein bisschen dafür verwendet, um das Buch zu strukturieren, d.h. ich habe Szenen dazu geschrieben.
Gibt es schon neue Pläne?
Milan Peschel: Also wir wollen auf jeden Fall noch mal was zusammen machen, das haben wir uns jetzt auch schon einander zugesprochen. Aber man weiß ja nicht, was jetzt so kommt an Angeboten. Keine Ahnung! Aber es wäre mir ganz wichtig, noch mal mit Robert und vielleicht auch unter ähnlichen Bedingungen zu arbeiten. Am wichtigsten ist aber die Geschichte, die wir finden werden und dann ergibt sich der Rest von allein – und wenn es wieder nur so wenig Geld gibt dafür, dann geht’s eben nicht anders. Aber wenn die Geschichte gut ist, spielt das andere keine Rolle.
Robert Thalheim: Also ich bewege mich in mehreren Sachen. Als nächstes werde ich aber meinen Diplomfilm drehen, jetzt im Sommer. Gemeinsam mit dem „Kleinen Fernsehspiel“ vom ZDF und mit Hans-Christian Schmid als Produzent. Er spielt in Oswiecim. Oswiecim ist der polnische Name von Auschwitz und es geht um die Erlebnisse eines deutschen Zivildienstleistenden dort.
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