Kino als Kulturdiplomatie – Interview mit Volodymr Tykhyy

In One Day in Ukraine, der bereits auf mehreren europäischen Festivals lief, porträtiert Volodymr Tykhyy einen Tag in Kyjiw im März 2022. Im Interview spricht er über die Dreharbeiten, die Funktion des Kinos in Kriegszeiten und die Zukunft des ukrainischen Films.


Felix Bouché: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert seit 2014 an. Im Film sprichst du deswegen vom bereits 2944. Tag des Krieges – dem Gedenktag der ukrainischen Freiwilligen. Wie hat sich das Filmen über den Krieg seit 2014 entwickelt?

Mittlerweile hat sich der Maßstab verändert. Einerseits wussten alle Ukrainer:innen bereits während der heißen Phase im Donbas 2014/2015 vom dortigen Ausmaß des Krieges und seines Schreckens. Damals sahen sich mehrere Millionen Ukrainer:innen gezwungen, innerhalb ihres Landes zu flüchten. Es gab keine Familie im Donbas, die nicht auf die eine oder andere Art Opfer war. Zudem zogen viele Freiwillige in den Krieg oder traten der Armee bei. Zivilist:innen wie Soldat:innen starben. Andererseits konnte die Mehrheit der Bevölkerung nichts mit diesen Informationen anfangen. Daher kann ich es nachvollziehen, dass sie versucht hat, sich vor diesen Tatsachen zu verschließen.

Was bedeutet das genauer?

Wenn du damals über die Ereignisse im Donbas berichtet hast, warst du eine Art Messias. Mit diesen Dokumentarfilmen hast du der Bevölkerung gesagt: „Schaut euch an, was dort passiert, passt auf, wendet euch nicht ab von diesen Ereignissen, von diesen Gesichtern.“ Es war gewissermaßen eine kulturelle Informationsmission in unserem Land, die die Menschen auf Entwicklungen vorbereiten sollte, die einfach unvermeidlich waren. Mittlerweile werden die Bemühungen unseres Dokumentarfilmkollektivs Babylonְ’13 von vielen journalistischen Kanälen genutzt, wodurch bestimmte Bilder ein Eigenleben entwickeln und hier bereits helfen, etwa in der Nähe von Kyjiw oder Cherson.

Welchen Einfluss haben denn die sozialen Medien auf die moderne Kriegsführung?

Jetzt leben wir in einer anderen Zeit, in der sehr kurze Formate am besten funktionieren – eine Art TikTok-Kultur. Die kurzen Kriegsvideos verbreiten sich über Telegram, was vielleicht auch eine Art TikTok ist. Menschen reagieren darauf mit Witzen, aber auch mit eigenen Recherchen. Auf ein Video folgt dann eine ganze Reihe von Posts wie: Wo ist diese Person? Wo wurde sie gefunden? Wo ist der Drehort? Längere Dokumentationen erzählen von diesen Ereignissen, aber aus einer anderen Perspektive, mit einem anderen Ansatz. Ich denke, dass ein Film wie One Day in Ukraine später eine Gelegenheit bieten wird, in Ruhe zu betrachten, was vor einem Jahr passiert ist.

Als Kollektiv Babylon’13 habt ihr also vorwiegend Kurzdokumentationen zur Ukraine auf YouTube und anderen Plattformen veröffentlicht. Welche Bedeutung können Langzeitdokumentationen wie One Day in Ukraine in der aktuellen Situation haben?

Es scheint mir, dass Dokumentarfilme im traditionellen Format vor allem in den Jahren 2014 und 2015 sehr wichtig waren. Alle, die damals gefilmt haben – Babylon’13, andere Dokumentarfilmer:innen, ausländische Journalist:innen – haben darüber aufgeklärt, wer kämpft, was passiert und wie es medial dargestellt wird. Das waren quasi Recherchefilme, die einerseits realitätsnahe Informationen und andererseits die kulturelle Anthropologie dieser Region, des Donbas, übermittelt haben. Mir scheint, dass weder die Ukrainer:innen noch die Welt zu diesem Zeitpunkt viel über den Donbas wussten. Durch die Dokumentationen war es möglich, mit vielen Stereotypen zu brechen, und die Ukrainer:innen konnten erkennen, wer sie sind, woraus sie gemacht sind und wie sehr sie von der imperialen Invasion Russlands betroffen sind.

Kommen wir nun zu Day One. Der Film beginnt mit einer Sequenz von Menschen, die Schutz in U-Bahnhöfen finden. Was hat es mit dieser Anfangssequenz auf sich?

Zunächst hat diese Sequenz mit der Rolltreppe und dem U-Bahnhof eine metaphorische Funktion. Am Anfang der Rolltreppe hören wir noch Sirenen, sehen etwas Feindliches und Dunkles. Dann steigen wir in etwas Helles und Friedliches hinab. Nach und nach, so die Intention, tauchen die Zuschauenden in diese surreale Welt von Kyjiw ein, die vom nun absurd wirkenden U-Bahnhof symbolisiert wird.

Durch die Art der Montage, die beunruhigende Filmmusik und die Aufnahmen von Soldaten und Menschen setzt der Film die Traumatisierung der ukrainischen Gesellschaft eindrücklich ins Bild. Trägt ein Film wie One Day auch zur Traumabewältigung bei?

Nun, es geht nicht nur um ein Trauma. Man könnte sagen, es geht um ein bestimmtes Jahr, um das Gefühl einer Macht, die über all dem steht. Sie bewegt Energieströme und Aggressionsströme, die Blicke von Tausenden eingefangen haben, Zehntausenden Menschen. Und in diesem Strudel versuchen diese Menschen aufzustehen, um nicht zu fallen, sich auf den Beinen zu halten. Dieser dramatische Kampf zeigt sich auf subtile Weise dank der von Nikita Moiseey komponierten Musik. Die potenziell heilende Wirkung des Films entsteht dadurch, dass du durch ihn bestimmte Dinge erkennst, die du vorher nicht erkennen konntest, weil du sie gerade erlebt hast.

Wie war das Drehen in dieser Extremsituation für dich? Wie haben die Menschen reagiert?

Die Dreharbeiten damals waren nahezu unmöglich, weil viele ukrainische Menschen extrem verwirrt waren. Obwohl der russisch-ukrainische Krieg bereits sieben Jahre andauert und ziemlich viele Menschen Informationen dazu hatten, dass Russland nun die gesamte Ukraine angreifen könnte, traf die Invasion im Februar 2022 die Menschen psychisch, moralisch und natürlich auch physisch unvorbereitet. In dieser Situation gefilmt zu werden löste bei vielen eine gewisse Aggressivität aus. Im Prinzip ist das eine normale Reaktion: Wenn du nicht verstehst, wer du bist, wo du bist, was dir in fünf Minuten passieren wird, willst du dich schützen. Manche sagten etwa: „Ich möchte nicht, dass Sie mich filmen. Ich weiß nicht, wie Sie es später verwenden werden. Sie sind wahrscheinlich Vertreter eines russischen Geheimdienstes. Sie nehmen ja nicht nur mich auf, sondern die gesamte U-Bahn.“

Wie hast du es geschafft, dass die Menschen trotz dieser traumatischen Extremsituation bereit waren, vor die Kamera zu treten?

Wir von Babylon‘13 haben langjährige Erfahrung mit dem Filmen traumatischer Themen. Für Kriegsdokumentationen ist es wichtig, im Kontakt mit vielen unterschiedlichen Menschen zu bleiben. Wenn dir das gelingt, erzählen dir deine Protagonist:innen nach einer gewissen Zeit von sich aus von ihren Problemen. Wenn es vor der Kamera passiert, erfüllt es oft eine gewisse therapeutische Funktion, die für manche Menschen auch zur Lösung dieser Probleme beiträgt.

Dasha Astafieva ist eine berühmte Ukrainerin. Im Film sehen wir, wie sie in Jogginghose Kartoffeln in einer Restaurantküche schält. Welche Rolle spielt sie für den Film?

Das hängt davon ab, ob man Dasha Astafieva kennt oder nicht. Für das ukrainische Publikum ist sie eine Berühmtheit, zu der es nicht passt, dass sie in einer Küche Kartoffeln schält. Facebook-Posts zu Dasha erhielten in einer Woche über eine Million Aufrufe. Diese Szenen sind für Ukrainer:innen eine Art ironische Komödie. Dahingegen bildet der Film im Gesamten mit einer gewissen Ernsthaftigkeit ab, wie der Krieg die ukrainische Gesellschaft beeinflusst hat. Russland hat einen Schritt getan, der alle Brücken niederbrannte, mit allen Stereotypen brach, damit die ukrainische Bevölkerung sich selbst entdeckte. Für Leute, die die ukrainische Popkultur und den Kulturraum aber nicht kennen, sieht Dasha Astafyeva aus wie ein Stadtmädchen, das hilft und Kartoffeln schält. So oder so funktioniert sie für die Erzählung als Ganze: Sie bleibt eine gewöhnliche Kyjiwerin, die völlig aus ihrem Kontext gerissen ist, die Angst vor diesen Ereignissen hat, vor diesem Krieg. Sie hat Angst, aber sie ist geblieben und tut in dieser Situation alles, was sie tun kann, damit Kyjiw nicht dem Feind ausgeliefert wird.

Hat der gesamte Film also jeweils unterschiedliche Funktionen für ein ukrainisches und für ein ausländisches Publikum?

Ja, natürlich. Für das ukrainische Publikum friert er ein Stück Zeit ein. Wenn in einem Jahr auch ein Publikum jenseits der Festivals den Film sehen wird, wird vieles aus der Perspektive eines „Damals wussten wir nicht, dass …“ reflektiert werden. Für ein westliches und insbesondere für ein europäisches Publikum liefert der Film auch Informationen über den Krieg abseits der Nachrichten. Er soll das Leben gewöhnlicher Ukrainer:innen in diesen ungewöhnlichen Bedingungen zeigen. Menschen bewahren in solchen ungewöhnlichen und schwierigen Momenten ihre kulturelle Identität und tragen sie mit sich, wo auch immer sie sich befinden – ob an der Kriegsfront oder in ihren Häusern. Der Film weckt Empathie, weil er zeigt, dass diese Menschen genauso sind wie wir, und das ist eine Form der Kulturdiplomatie.

Viele ukrainische Personen boykottieren derzeit jegliche Beziehungen zu Russland und zur russischen Kultur. Denkst du, der Film sollte einem russischen Publikum gezeigt werden?

Die Posts von Babylon’13 werden tatsächlich mehr von russischen als von ukrainischen Zuschauer:innen angesehen. Mir scheint aber, der Film ist nichts für ein breites russisches Publikum, weil er vom Tag des ukrainischen Freiwilligen erzählt. Er ist gemacht für ein Kinopublikum, das vom Krieg überwältigt ist und war. Das russische Publikum dagegen hat sich besonders für das Video über den Austausch russischer Gefangener gegen die Leichen ukrainischer Soldat:innen interessiert. Russ:innen versuchen zu verstehen, was mit den eigenen Gefangenen passiert, versuchen vielleicht, jemanden zu identifizieren oder zu begreifen, wer diese Ukrainer:innen sind und wieso sie so hart gegen sie kämpfen. In wenigen Monaten erhielt dieses Video drei Millionen Klicks. Es ist interessant, sich auch die Kommentare durchzulesen. Manchmal kommentieren viele Bots. In manchen Kommentaren merkt man aber auch, dass Russ:innen ein Unwohlsein verspüren und die ihnen von der russischen Führung angebotenen Interpretationen anzweifeln.

Was können Menschen und Länder außerhalb der Ukraine tun, um die Produktion ukrainischer Filme besser zu unterstützen?

Im Prinzip tun sie jetzt tatsächlich viel. Die Hilfen halten jene ukrainischen Filmschaffenden über Wasser, die momentan drehen können. Ich selbst bin vor ein paar Tagen aus Warschau zurückgekehrt, wo im Rahmen des dortigen Filmfestivals das Odesa International Film Festival veranstaltet wurde. Durch Kooperationen wie diese haben Filmemacher:innen nicht nur die Möglichkeit, Kolleg:innen zu treffen, sondern können ihre Filme auch einem breiteren internationalen Publikum zeigen und die Reaktionen sehen. Das ist natürlich nicht dasselbe wie vorher. Aber dank solcher Unterstützungen kann ein mehr oder weniger normales kulturelles Leben geschaffen werden, und das ist dringend notwendig.

Denn dies ist ein wichtiger Moment nicht nur für das Kino, sondern für die ukrainische Kultur im Allgemeinen. Er bietet eine Gelegenheit, sehr große Investitionen in Kulturgüter zu leisten; Investitionen für ein Land, das viele Beschränkungen, die ihm jahrhundertelang durch seinen Nachbarn auferlegt wurden, bereits beseitigt hat. Für eine solche Unterstützung wäre es wichtig, dass Stipendien langfristiger vergeben werden, und nicht nur zu sagen: Wir haben dir geholfen, das ist alles, und jetzt schauen wir mal, wie es wird. Ich befürchte aber, dass sich die Situation des ukrainischen Films in sechs Monaten oder einem Jahr nicht großartig ändern wird. Momentan gibt es keinen ukrainischen Film und keine ukrainische Kinokultur.

Das Interview mit Volodymyr Tykhyy wurde im November 2022 im Rahmen eines Workshops auf dem Ukrainian Film Festival Berlin geführt.

Kommentare zu „Kino als Kulturdiplomatie – Interview mit Volodymr Tykhyy“


Uvo

Der Interviewer Felix Bouché entlockt auf auf einfühlsame Art und Weise dem Regisseur ein aktuelles Zustandsbild der ukrainischen Kriegsgesellschaft, indem er den Alltag im kriegsgebeutelten Land zeigt, aber auch vorsichtig und selbstkritisch die Ablehnung gegenüber seinem Filmprojekt aufzeigt. Danke an Felix Buschi für seine hervorragende sensible Interviewleistung.






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