„Ich bleibe nicht ständig in der Rolle“ – Interview mit Pascal Greggory
Pascal Greggory ist seit über 45 Jahren von den französischen Bühnen und Leinwänden nicht wegzudenken. Critic.de sprach mit ihm über Method- und Nicht-Method-Acting, Unterschiede zwischen Kino und Theater und seine Rolle als pflegebedürftiger Vater in An einem schönen Morgen.
Kira Taszman: Monsieur Greggory, in Ihrem neuen Film An einem schönen Morgen spielen Sie einen älteren Ex-Professor mit einer neurodegenerativen Erkrankung, der mental und physisch stark abbaut. Sie haben gesagt, dass Sie das Filmprojekt nicht ablehnen konnten. Wegen der Regisseurin Mia Hansen-Løve, der Rolle oder beidem?

Pascal Greggory: Wegen beidem. Als ich das Drehbuch zum ersten Mal las, war ich sehr überrascht, weil ich fand: So etwas kann ich nie spielen. Dabei kann ich auf die Nase fallen, das ist sehr riskant, das kann lächerlich oder unanständig wirken. Doch Mia Hansen-Løve hat sehr überzeugende Argumente vorgebracht, damit ich diese Rolle annehme. Sie ist eine sehr beeindruckende Persönlichkeit.
Haben Sie ihr von Ihren Vorbehalten erzählt?

Ja, natürlich. Sie war aber überzeugt, dass es gut gehen würde. Und es ging auch gut. Am ersten Drehtag war ich schon in der Rolle. Das ist auch eine Frage der Konzentration. Und ich habe mir gesagt, die einzige Art, wie ich das schaffen kann, ist, mich in eine Blase zu begeben und alles um mich herum auszublenden. Nach dem Drehtag, zu Hause, bin ich dann wieder ich selbst. Ich gehöre nicht zu den Schauspielern, die ständig in der Rolle bleiben.
Haben Sie sich von den Tonaufnahmen beeinflussen lassen, die Mia Hansen-Love Ihnen von ihrem Vater gegeben hat, der an derselben Krankheit leidet?
Ja, das sind sehr chaotische Dialoge, manchmal total unverständlich. Das ist sehr verstörend. Ich wollte den Vater von Mia nicht kopieren, habe mich aber inspirieren lassen.
Haben Sie noch andere Recherchen über die Krankheit Ihrer Figur angestellt?

Nein. Man muss Sachen ja nicht unbedingt erlebt haben, um sie gut zu spielen. Darum geht es bei der Schauspielerei. Sie stützt sich darauf, was man beobachtet. Wenn ein Schauspieler, weil er einen Taxifahrer spielt, einen Monat lang Taxi fährt … Das erinnert mich wirklich an die Geschichte mit Dustin Hoffman und Laurence Olivier am Set von Marathon Man. (A. d. Red: Der Method-Actor Hoffman läuft einmal ums Carré, um außer Puste zu sein, Olivier spielt es einfach.) Es gibt die englische und die amerikanische Methode. Aber letztlich zählt nur das Resultat. Wenn man es gut hinbekommt, ist eine Methode genauso legitim wie die andere.
Wie haben Sie mit den echten Pflegern im Altersheim zusammengespielt?
Für mich hat das gut funktioniert. Sie sind sehr aufmerksam. Wenn man etwas von ihnen verlangt, machen sie es sofort. Da gibt es kein Zögern, auch keine Unterwürfigkeit, ja nicht einmal ein Überlegen, und das ist sehr berührend bei nichtprofessionellen Darstellern, die in einem Film spielen. Denn das Kino ist schon etwas, was zum Staunen und Träumen anregt. Wenn man mit ihnen an ihrem Arbeitsplatz dreht, wird einem bewusst, was für einen anspruchsvollen, anstrengenden Beruf sie haben.
Eben haben Sie gesagt, dass eine Rolle Sie nicht mitnimmt. Ist das immer so?

Ja, im Kino, aber auch im Theater. Danach schalte ich total ab. Mein Leben abseits der Bühne oder des Filmsets ist ein ganz anderes. Und am nächsten Morgen am Filmset konzentriere ich mich wieder auf die Arbeit. Mit Schauspielern, die sich anders vorbereiten, spiele ich zwar ohne Probleme. Arbeit ist Arbeit. Aber ich mag die Sorte Schauspieler nicht besonders, die auch im realen Leben noch Schauspieler sind. Mit ihnen bin ich nicht befreundet, ich suche nicht ihre Nähe.
Weil Sie sie zu egozentrisch finden?
Ja, egozentrisch, narzisstisch, sie reden viel über sich selbst, interessieren sich oft nur für sich selbst. Deshalb sind sie auch sehr unsicher. Man hat Lust, sie aufzurütteln, ihnen zu sagen: Leg doch mal eine andere Platte auf, das Leben dreht sich nicht immer um dich. Privat bin ich nur mit einer Schauspielerin und einem Schauspieler befreundet, sonst nur mit anderen Künstlern: mit Schriftstellern oder Malern.
Ihre Figur ist Experte für deutsche Literatur und Philosophie. Gibt es deutschsprachige Autor*innen, die Sie geprägt haben?

Einen Autor liebe ich besonders: Thomas Bernhard. Von ihm bin ich wirklich Fan, von seiner Bissigkeit. Ich mag Menschen, die sehr fordernd und zornig sind, oft, weil sie Schmerzliches erlitten haben. Sie können viel bewegen, wenn sie intelligent sind. Ich bin eng mit Christine Angot befreundet, einer Schriftstellerin, die in Frankreich sehr bekannt ist und deren literarisches Werk mit der Beschreibung der Vergewaltigung durch ihren Vater begonnen hat. Andere deutschsprachige Autoren, die ich mag, sind Kleist, Botho Strauß, Peter Handke, und Heiner Müller mag ich wirklich auch sehr. Kafka ist auch großartig.
Fühlen Sie sich Autoren näher, wenn Sie sie spielen?
Ja, natürlich. Aber ich verstehe, dass man es schwierig finden kann, Theaterstücke zu lesen. Ich kann das auch nicht gut. Einmal habe ich mit Patrice Chéreau in dem Stück In der Einsamkeit der Baumwollfelder von Bernard-Marie Koltès gespielt. Darin gibt es zwei Figuren: einen Dealer und einen Kunden. Chérau hat Regie geführt und eine Rolle übernommen. Das war ein Riesenerfolg. Nachdem ich das Stück gelesen hatte, sagte ich zu Patrice: „Ich würde gern den Dealer spielen.“ Er antwortete: „Spinnst du? Du bist kein Dealer, dafür aber ein perfekter Kunde.“ Patrice und ich kannten uns sehr gut, und er wusste, dass es mir sehr viel besser gelingen würde, den Kunden zu spielen.
Aber ist es dennoch eine Herausforderung für Sie, Figuren zu spielen, die Ihnen nicht ähneln?

Ja, natürlich ist es großartig, böse Menschen oder Monster zu spielen. Da gibt es viel mehr Stoff. Die größten Rollen von Bette Davis sind böse, harte, fordernde Frauen. Junge Helden habe ich fast gar nicht gespielt. Die Regisseure haben das offenbar nicht in mir gesehen.
Brauchen Sie Theater und Kino?
Ja, auf jeden Fall das Theater. Wegen der Angst. Angst löst andere Ängste aus: Lampenfieber, die Angst, zu versagen. Aber wenn man sie beherrscht, zeitigt sie großartige, spannende Dinge. Im Kino kann man Takes wiederholen. Das ist weniger gefährlich. Im Theater ist das unmöglich. Im Kino gibt es eine andere, faulere Herangehensweise an den Beruf. Im Theater kann man es sich nicht leisten, faul zu sein.
Fühlen Sie sich künstlerischen „Familien“ zugehörig?
Ja, Chéreau im Theater und Rohmer im Kino. Das sind meine beiden Referenzen. Zuerst Rohmer, weil ich damals noch sehr jung war. Danach Chéreau, und das sind komplett verschiedene Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Solche künstlerischen Familien sind für mich unentbehrlich. Wenn ich mit jungen Schauspielern und Schauspielerinnen spreche, empfehle ich ihnen das: Findet eine Familie. Alleine werdet ihr es nicht schaffen. Man braucht auch Geschmack. Das ist sehr wichtig. Es gibt tolle Schauspieler und Schauspielerinnen, die überhaupt keinen Geschmack haben. Deshalb spielen sie in mittelmäßigen Filmen und Stücken.
Aber Geschmack ist doch sehr subjektiv …

Ja, er hängt von der eigenen Lebenserfahrung ab, und von den Leuten, mit denen man zu tun hat. Ich war im Alter von 17 bis 20 ein totaler Autodidakt. Ich bin zweimal durchs Abitur gerasselt. Aber dann ich habe ein paar Male – ob durch Schicksal oder Glück – die richtigen Leute getroffen, die mir den Weg gezeigt haben. Rohmer hat mein Leben sehr geprägt. Er war der erste. Dann gab es auch André Téchiné, mit dem ich Die Schwestern Brontë gedreht habe. Mit Isabelle Adjani, Isabelle Huppert und Marie-France Pisier. Mit Téchiné habe ich danach nie wieder zusammengearbeitet. Aber mit Isabelle Huppert habe ich vier Filme gedreht. Ich war ihr Ehemann, ihr Bruder und ihr Liebhaber (lacht).
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