Eine der cinephilsten Städte Frankreichs – Interview mit Paolo Moretti

Haben Sie schon einmal von La Roche-sur-Yon gehört? Wenn die Statistik nicht lügt, dann könnte diese Stadt etwas vom Geheimnis des Kinowunders Frankreichs verraten. Ein Gespräch mit Kino- und Festivalleiter Paolo Moretti,  der auch das künftige Programm der Quinzaine des réalisateurs in Cannes verantwortet.


Frédéric Jaeger: Reden wir über La Roche-sur-Yon. Aus deutscher Perspektive kann ich mir gar nicht vorstellen, wie das funktioniert. In dieser mittelgroßen Stadt in Küstennähe, in einer Gegend, die alles andere als cinephil ist, gibt es dieses eine sehr engagierte Kino mit einem jährlichen Filmfestival, beides leitest du seit 2014. Wann wurde das Kino eröffnet?

Paolo Moretti: Das Kino Le Concorde wurde vor zehn Jahren wiedereröffnet. Gebaut wurde es Ende der 1970er Jahre. Seither hat es das Kino in unterschiedlichen Formen und Zuschnitten gegeben, auch mit mehr Sälen. Heute sind es nur noch zwei, einer mit 100 und einer mit 200 Plätzen. Bis 2005 wurde es privat betrieben, dann gab es einen Brand, um den sich gewisse Legenden ranken.

Wurde es in Brand gesetzt?

Man weiß nicht so genau, wo das Feuer herkam. Jedenfalls wurde das Kino geschlossen, und es gab erst mal keins mehr in der Innenstadt. [Beim Shoppingcenter in der Peripherie gibt es ein kommerziell ausgerichtetes Multiplex.] Und das bei einer Stadt mittlerer Größe mit 55.000 Einwohnern, 80.000 mit Umgebung. Dann hat es eine bürgerschaftliche Bewegung gegeben, unter dem Impuls meines Vorgängers, Yannick Reix, der inzwischen in der Normandie, in Caen, das traditionsreiche Kino „Café des images“ leitet. In La Roche-sur-Yon gibt es viele engagierte Vereine, und deren Überzeugungsarbeit ist es zu verdanken, dass das Kino zwei Jahre später wiedereröffnet wurde. Nun ist es eine öffentliche Einrichtung, deren Aufsichtsratsvorsitzender der Bürgermeister ist.

Öffentlich heißt, durch die Stadt finanziert?

Es wird teils durch die Stadt finanziert, ist aber kein kommunales Kino, es wird also nicht direkt von der Stadt kontrolliert, sondern hat eine eigenständige juristische Form als öffentliche Einrichtung. Das schlägt sich vor allem in einer größeren Freiheit der Programmgestaltung nieder. Eine Freiheit, die ich gern ausnutze. Yannick hat 2010, nachdem er das Kino neu eröffnet hat, entschieden, ein Festival zu gründen. Es gab zu der Zeit bereits eines, das aber nicht nach cinephilen Kriterien programmiert wurde, sondern um das Thema der Reisen herum eher klassische Arthouse-Filme zeigte. Yannick hat das Festival neu aufgestellt und für das Programm Emmanuel Burdeau geholt, den ehemaligen Chefredakteur der Cahiers du Cinéma.

Von 2010 bis 2013 haben Yannick und er das Festival gemeinsam geleitet. Ihnen ist es gelungen, sehr bemerkenswerte Ausgaben zu stemmen, mit Gästen wie James L. Brooks, Jia Zhangke, Abel Ferrara, Walter Murch und Kelly Reichardt. In wenigen Jahren konnte sich das Festival von La Roche-sur-Yon einen Namen machen. Zu der Zeit war ich in Venedig und arbeitete als Assistent des Direktors Marco Müller. Weil ich das Programm in La Roche schätzte, half ich ab und an mit Kontakten zu Filmemachern oder Empfehlungen. Im Winter 2013 erhielt ich einen Anruf von Yannick: „Hör zu, ich verlasse das Kino und das Festival. Es wird eine Ausschreibung geben, warum bewirbst du dich nicht?“ Inzwischen war ich in Rom, ich war Marco Müller dorthin gefolgt, und dachte mir: Warum nicht? Es gab um die vierzig Bewerbungen, und sie haben mich gewählt. Das war eine schöne Überraschung. Dann bin ich nach La Roche gezogen, denn wenn ich etwas mache, dann mit vollem Einsatz.

Vorher hast du in Paris gelebt?

Nein, ich lebte in Rom. Vorher vier Jahre in Venedig. Dort war ich auch an einem Kinoclub beteiligt, bei dem ich mich vom Programm bis zur Untertitelung mit der Gruppe um alles kümmerte. Dann kam ich an die Leitung eines Kinos, war in einer neuen Rolle in einem System, das ich erst kennenlernen musste. Das System des französischen Kinos ist unheimlich komplex und bürdet den Betreibern sehr viel auf. Gleichzeitig erlaubt es der größten Zahl von Filmen, in den Kinos zu bestehen. Es gibt kein anderes Land, das dem nahe kommt. Wie genau das Label „Art et essai“ [etwa „Kunst und Forschung“] funktioniert, zu dem auch unser Kino gehört, habe ich erst nach langer Zeit richtig verstanden.

Es ist ein Label, bei dem sowohl einzelne Kinos als auch einzelne Filme ausgezeichnet werden?

Die Kinos müssen einen bestimmten Prozentsatz von Filmen zeigen, die mit dem Label ausgezeichnet sind, um Zugang zu Geldern zu erhalten, die von der nationalen Filmförderung, dem CNC, kommen.

Ist das viel Geld?

Ja, schon. Es hängt von den Prozenten ab.

Aber nicht von der Größe des Kinos?

Nein, aber die Unterstützung hängt von den Besucherzahlen ab. Das System funktioniert als Anreiz, die Diversität im Programm zu erhöhen. Zu dem Label gehören auch viele Filme, die nicht unbedingt das wirtschaftliche Potenzial haben, dass sich ihr Einsatz durch die Ticketerlöse allein rechnet. Weil man mit ihnen keine oder nur eine kleine Marge machen kann, wird das durch das System kompensiert.

Ist man dann weniger abhängig von den Besucherzahlen?

Man ist immer von den Besucherzahlen abhängig. Zum Glück. Die Idee des Förderprogramms ist, eine Unterstützung zu leisten, aber Kinos sollten sich dennoch überwiegend durch Ticketverkäufe tragen. Das ist natürlich nur möglich mit einem entsprechend breitenwirksamen Programm. Wir wiederum überleben dank der Hilfe der Stadt.

Das heißt, es sind Stadt, Förderung und Eintritte, in dieser Reihenfolge?

Nein, Stadt, Eintritte, Förderung. Rechnet man die Einnahmen nur fürs Kino, ist die Reihenfolge sogar: Eintritte, Stadt, Förderung.

Und das Festival, spielt das eine finanzielle Rolle in diesem Gefüge?

Alles hängt an derselben Struktur, und wir haben ein Gesamtbudget für beides. Es ist an uns, es aufzuteilen. Die Idee des Festivals ist es, komplementär zum ganzjährigen Kinobetrieb zu sein. Einer der Ansätze ist, für die Leute in La Roche Begegnungen mit Filmteams zu ermöglichen. Es geht also darum, das Kino lebendig zu machen.

Auch jene ins Kino zu locken, die sonst nicht kämen?

Ja. Oft sind Städte unserer Größe etwas abgeschnitten von den Touren, die Regisseure zum Kinostart machen. Denn natürlich setzen die eher auf die großen Städte: Nantes, Bordeaux, Marseille. Dort, wo es ein Publikumspotenzial gibt, das die Reisen rechtfertigt. Das ist in La Roche-sur-Yon nicht der Fall. Filmteams während des Jahres zu überzeugen, für einen Kinoabend hierherzukommen, ist oft kompliziert. Das Festival dient auch dazu. Wir schaffen einen Moment im Jahr, an dem wir die Präsenz der Filme verstärken, und konzentrieren damit etwas, was in anderen Städten vielleicht das ganze Jahr über passiert. Eine Woche wird so sehr intensiv. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln: Als ich ankam, waren wir bei etwa 53.000 Zuschauern für das Kino und 13- bis 14.000 für das Festival. Jetzt sind wir bei mehr als 72.000 Zuschauern für das Kino, und beim letzten Festival haben wir die 24.000 überschritten. Das Festival entspricht also etwa einem Drittel der jährlichen Besucher, und das in einer Woche!

Zusammengerechnet also beinahe 100.000.

Bei 55.000 Einwohnern, das ist ziemlich spektakulär. Darüber sind wir sehr glücklich. Die Gegend, die du ja kennst, ist in der Tat nicht sehr cinephil. Nach den Statistiken des CNC aber ist La Roche-sur-Yon eine der cinephilsten Städte Frankreichs. Das Verhältnis zwischen Einwohnerzahl, Kinosälen, Plätzen und verkauften Tickets ist eines der besten des Landes. Und das sehe ich während des Festivals sehr deutlich.

Für welche Filme könnt ihr das Publikum überzeugen? Welche will es von sich aus sehen, und für welche müsst ihr es erst gewinnen?

Es gibt mehrere Seelen im Publikum, und darin ist es recht repräsentativ für „Art et essai“ in Frankreich. Viele kommen, um die großen Filme mit diesem Label zu gucken, Werke von Ken Loach, Nanni Moretti, Stéphane Brizé oder Xavier Beauvois – Filmemacher, die bereits als Autoren etabliert sind, die eine eigene Handschrift haben und zugleich sehr zugänglich fürs große Publikum erzählen. Hier ist eine große Basis unserer Zuschauerschaft übers Jahr, und viele sind uns da sehr treu. Beim Festival entwickelt es sich jedes Jahr weiter. Als ich ankam, habe ich, obwohl ich das Programm meiner Vorgänger bewunderte, entdeckt, dass sich ein Teil des Publikums der Stadt vom Festival nicht angesprochen fühlte. Diesen Teil wollte ich einbinden, ohne das Stammpublikum zu verlieren, das für die Retrospektiven und Gäste mit hohem Anspruch kommt. Der Schlüssel ist das Neue, das heißt: Filme vor dem Kinostart zu zeigen, die noch keiner gesehen hat.

Hinzu kommt: Ich habe entdeckt, dass das Festival von Cannes einen riesigen Platz einnimmt in der französischen Kinopolitik. Und es gibt eine riesige Anzahl an thematischen Filmfestivals, eine der Besonderheiten in Frankreich, und man fragt mich öfter: Was ist denn euer Thema? Diese Idee habe ich abgelehnt, und wir haben entschieden, eines der wenigen generalistischen Festivals zu sein. Wir orientieren uns also am Format der großen A-Festivals, mit dem Unterschied, dass wir keine Weltpremieren zeigen, sondern französische. Damit versuchen wir, Filme zu unterstützen, die nicht das Privileg und das Glück hatten, die Sichtbarkeit von Cannes zu genießen. Denn es sind oft Filme aus Cannes, die man bei all diesen thematischen Festivals wiederfindet. Oft sehe ich selbst einen Film, der zuerst in Rotterdam oder in Berlin lief, und denke mir, dass der genauso oder noch interessanter ist als einer aus Cannes.

Ist es nicht schwieriger, diese Filme zu kommunizieren? Cannes hat den Vorteil, in Frankreich sehr sichtbar zu sein.

Es ist viel schwieriger, aber ich mag diese Herausforderung. Wir haben eine Plattform, es ist zwar eine kleine, aber warum nicht sie für diese Filme nutzen? Im ersten Jahr war es natürlich schwierig, das Konzept durchzusetzen und die Filme zu erhalten, die wir wollten. Jahr für Jahr haben wir Boden gewonnen. Filme, die in Locarno, in Venedig, in San Sebastian, beim BAFICI, auf dem South by Southwest oder in Tribeca eine schöne Karriere beginnen, all diesen Filmen fällt es sehr viel schwerer, in Frankreich einen Platz zu finden. Und ich spreche nicht mal von der Kinoauswertung, weil die oft blockiert ist. Es gibt sehr viele Filme, die meiner Meinung nach sogar ein kommerzielles Potenzial hätten, die aber aus vielen Gründen, auch weil das französische Kino schon so vielfältig ist, nie einen Kinostart bekommen.

Ihr zeigt also viele Filme, die keinen Verleih in Frankreich haben?

Einige ja. Aber immer weniger.

Wird es immer schwieriger, oder haben mehr Filme einen Verleih?

Wir haben Zugang zu Filmen, die ihre Premiere andernorts hatten, aber schon einen vorgezeichneten Weg ins Kino haben. Letztes Jahr zum Beispiel gab es bei uns die französische Premiere von Three Billboards Outside Ebbing, Missouri oder die von Call Me By Your Name. Das sind Filme, die große Erwartungen wecken, die uns helfen, das Publikum zu erreichen, von dem ich vorhin sprach. Leute, die sich nicht selbst als cinephil genug verstehen, um sich vom früheren Festival angesprochen zu fühlen.

Ihr habt große Titel, aber durchaus auch kleinere, forschende Filme.

Absolut. Wir zeigen auch sehr anspruchsvolle Filme. Die Kopräsenz dieser zwei Welten gehört für mich zum Konzept. Hierbei verdanke ich viel den Jahren an der Seite von Marco Müller in Venedig. Diese Vision eines sehr offenen Programms, das in der Lage war, Madonna auf dem Roten Teppich mit der Premiere von Tscherkassky im Saal nebenan zu vereinbaren. Diese zwei Pole machen für mich viel Sinn und erzeugen Legitimität, das eine dient dem anderen. Ein Festival, das nur auf Pailletten setzt, beschneidet sich selbst um ein cinephileres Publikum. Ein Festival, das sich nur auf ästhetische Recherche stürzt, bringt sich ebenfalls um einen Teil des Publikums. Selbst wenn ich mich selbst mehr mit dem cinephilen Teil identifiziere, habe ich gelernt und gesehen, wie sinnvoll es ist, diese zwei Welten zusammenzubringen oder gar kollidieren zu lassen. Zu oft sind die Sphären sehr getrennt.

Für mich gibt es ein kommerzielles Kino, das sehr wohl forschend sein kann, es gibt ein forschendes Kino, das sehr zugänglich bleiben kann, und alles dazwischen. Das Festival soll diese beiden Qualitäten vereinen. Ich hoffe, man sieht das dem Programm an, in jedem Film. Wir suchen Filme aus und vergessen dabei nicht, dass die 55.000 Einwohner nicht alle vier Filmzeitschriften abonniert haben und besessene Filmliebhaber sind – und dass das Festival auch von der Stadt finanziert wird. Ich genieße eine sehr große Freiheit in der Auswahl fürs Festival und fürs Kino. Den einzigen „Auftrag“, den ich vom Bürgermeister erhalten habe und mit dem ich völlig einverstanden bin: Die Stadt finanziert, also soll auch die Stadt teilhaben. Das ganze Programm ist also auch so konzipiert.

Was heißt das? Macht ihr viele Kooperationen?

Die Zuschauer müssen etwas im Programm finden, das ihnen entspricht. Wir programmieren also nie abstrakt einfach nur Filme, die wir mögen. Sie sollten uns gefallen, etwas über die Zeit sagen und zugänglich bleiben. Die Leute sollen ins Kino gehen können, ohne etwas über den Film zu wissen, und sich trotzdem willkommen fühlen.

Hast du Beispiele für solche Filme?

Tangerine L.A. von Sean Baker. Den haben wir vor zwei Jahren gezeigt, und er hat einen Preis gewonnen. Für mich ist das ein formal forschender Film, er macht ein Statement, das mir im Rahmen des zeitgenössischen Kinos gefällt, und trotzdem ist es ein absolut elektrisierender Film. Er bannt Protagonisten auf die Leinwand, die man nur schwer wird vergessen können, und er nimmt uns wie die Figuren an der Hand und auf eine schwindelerregende Reise durch diese Stadt. Ein Publikum, das nichts vorher wusste, findet sich in einem urbanen Wirbelsturm wieder, der radikal zeitgenössisch ist; der Film wurde auf einem iPhone gedreht, auch wenn man das nicht merkt. Filmliebhaber werden wissen, dass Sean Baker einen Film in der Quinzaine des réalisateurs in Cannes hatte, der seine Forschung nebenbei betreibt. Sie haben also lauter Elemente, die hinzukommen.

Gleichzeitig ist der Film narrativ gesehen überaus klassisch.

Klassisch weiß ich nicht, zugänglich auf jeden Fall.

Klassisch in dem Sinn, dass der Film von Figuren ausgeht, die Konflikte haben, die im Verlauf gelöst werden müssen.

Dieses Element gibt es, eine offene Tür für ein recht breites Publikum, aber der Film verzichtet nicht darauf, weiter zu gehen. Ein kundiges Publikum findet genügend Tiefe, um den Film weiter zu erforschen. Ein weniger kundiges Publikum wird vielleicht etwas mehr an der Oberfläche bleiben, dennoch aber eine auch emotionale Erfahrung mit diesem Film machen. Ich würde sagen, Zugänglichkeit steht im Gegensatz zur Strenge. Es gibt Filme, die ich über alles liebe, die sehr viel strenger sind.

Könntest du also keinen Film von Béla Tarr zeigen?

Ich versuche für alles Lösungen zu finden. Wir haben auch anspruchsvolle Filme gezeigt. Ich versuche aber einen besonderen Platz für sie im Festival zu finden. Wir nehmen uns viel Zeit, um Wege zu bahnen und keine schlechten Begegnungen zu befördern. Wenn sich das nicht kundige Publikum wegen fehlender Warnungen oder Informationen in einem Saal wiederfindet vor einem Film, der es sehr fordert, dann ist das für mich etwas, das niemandem dient. Das dient nicht dem Festival, das dient nicht den Regisseuren …

Es könnte einen produktiven Schock geben!

Es gibt solche Situationen. Für mich geht es darum, den Prozentsatz oder die Menge dieser Wagnisse zu kontrollieren. Um ein Beispiel zu nennen: In meinem ersten Jahr beim Festival haben wir die, wenn ich mich nicht täusche, einzige vollständige Retrospektive des Künstlerkollektivs Auguste Orts gezeigt, das den Film von Dora García produziert hatte, der auch beim FIDMarseille war. Wir verzichten nicht darauf, so etwas zu wagen. Nur zu schlechten Begegnungen sollte es nicht kommen. Wenn jemand mit all den verfügbaren Informationen entscheidet, reinzugehen, dann ist das eine freie Wahl. Wir sind die Ersten, die sich darüber freuen.

Ist es euch schon mal passiert, eine solche „schlechte Begegnung“ zu provozieren?

Ich kann mich an keine erinnern. Einer der ersten Vorwürfe, die ich hörte, war, dass die Auswahl sehr elitär sei. Elitär, elitär, elitär. Das ist das Adjektiv, das ich am häufigsten gehört habe. Ich bin nicht einverstanden, denn wenn man sich das Programm anschaut, dann gab es durchaus zugängliche Filme. Aber ich habe daran gearbeitet, dieses Vorurteil zu entkräften.

Wie sehr läuft das über die Kommunikation?

Ungemein stark.

Es geht also darum, wie man die Dinge vorstellt, im Katalog, in den Anzeigen und persönlich?

Im Programmheft zunächst. Wir erstellen keinen Katalog mehr, wir hatten nicht genug Geld dafür. Früher war das Programmheft eher eine Auflistung der Titel, die sich stark darauf stützte, dass es auch einen Katalog gab. Wir haben es nun ausgebaut und verteilen es sehr breit, damit jeder die Informationen hat, um sich seinen eigenen Weg durchs Programm zu bahnen. Wir wollen den Eindruck vermeiden, das Festival gebe Lektionen. Im Programmheft schreiben wir jede einzelne Synopsis neu und stellen uns dabei unsere Adressaten vor, das sind also zuallererst die Bewohner von La Roche-sur-Yon. Indem wir das tun, kann ich im Laufe der Jahre sehen, wie sich die Pfade von alleine zeichnen. Ich habe das Programm in Sektionen aufgeteilt, just um zwischen Filmen Verbindungen zu kennzeichnen, schon dadurch teilt sich das Publikum ein wenig auf. Bevor ich da war, gab es acht französische Premieren, und tendenziell waren sie alle anspruchsvoll. Jetzt haben wir etwa vierzig französische Premieren, die Idee der Neuheit und der Entdeckung ist wirklich ins Zentrum des Programms gerückt.

Wir haben zum Beispiel die französische Premiere von Lav Diaz’ Film gezeigt, mit dem er in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, From What Is Before. Ich habe den Film in einem Kino mit hundert Plätzen gezeigt und dachte, es kämen vielleicht zwanzig, dreißig, vierzig Leute. Es kamen neunzig, und sie blieben alle. Lav ist jemand, der sehr an seinen Filmen arbeitet, der seine Forschung betreibt und wie kein anderer Zeit bearbeitet, und gleichzeitig sind seine Filme sehr zugänglich.

Es ist ohnehin ein Missverständnis zu glauben, seine Filme seien schwer zugänglich.

Genau. Wir können jedenfalls problemlos Filme von Lav Diaz zeigen. Übrigens hat er fast eineinhalb Jahre gebraucht, um eine zweite Vorführung in Frankreich zu kriegen. Das war anlässlich der Retrospektive seines Werks im Jeu de Paume in Paris. Und das, obwohl der Film den Goldenen Leoparden gewonnen hatte! Es war kein versteckter Film. So etwas erlaubt uns unser Dispositiv. Wenn ich einen solchen Film zeigen kann, dann fühle ich mich gut als Kurator. Wenn er aus tausend unterschiedlichen Gründen vom französischen Markt nicht aufgenommen wird, dann sehe ich, welchen Sinn die Arbeit bei einem solchen Festival hat.

Welche Rolle spielt es, persönlich die Filme vorzustellen?

Wir tun alles dafür. Allerdings sind wir eines der Festivals mit dem geringsten Budget. Man vergleicht uns oft mit solchen, die es schon viel länger gibt, wie die Entrevues Belfort oder das Festival des 3 Continents in Nantes. Das sind Festivals mit einer mindestens dreimal so langen Tradition. Vor allem mit einem viel größeren Budget.

Kannst du sagen, wie hoch euer Budget ist?

Etwa 400.000 Euro. Wir überraschen uns damit oft selbst, wir können uns freuen, was wir damit alles schaffen.

Fortsetzung folgt...

Kommentare zu „Eine der cinephilsten Städte Frankreichs – Interview mit Paolo Moretti“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.