Die Gefühle des Augenblicks schürfen - Interview mit Vincent Macaigne

Zum Start von Tagebuch einer Pariser Affäre sprach critic.de mit Hauptdarsteller Vincent Macaigne über seine Arbeit mit Regisseur Emmanuel Mouret, über vom Bildausschnitt gedachte Schauspielführung und über die Unmöglichkeit, gleichzeitig zu spielen und zu inszenieren.


Jérôme d’Estais:
Tagebuch einer Pariser Affäre (Chronique d’une liaison passagère; 2022) ist der zweite Film, den du mit Regisseur Emmanuel Mouret gedreht hast. Wie hast du sein Kino entdeckt? Was zieht dich daran an?

Vincent Macaigne: Ich habe Emmanuels Kino als Zuschauer entdeckt und kannte es schon lange, bevor wir zusammengearbeitet haben. In den letzten Filmen ist mir aufgefallen, dass sein Kino altert – mit ihm zusammen und auf sehr schöne, melancholische Weise.

Seit Der Preis der Versuchung (Mademoiselle de Joncquières, 2018)?

Ja, mit Der Preis der Versuchung gab es, glaube ich, einen kleinen Switch. Er hatte mir das Drehbuch von Tagebuch einer Pariser Affäre geschickt, noch bevor ich in Leichter gesagt als getan (Les choses qu’on dit, les choses qu’on fait, 2020) mitspielte, nur dass er mich damals zu jung dafür fand. Wir hatten das Drehbuch gemeinsam gelesen, und es hatte mich sehr berührt. Ich fand es sehr schön, weil es auf eine Art eine Fortsetzung ist von dem, wo sein Kino immer hinwollte: Er erzählt vom Leben durch komödiantische Liebesgeschichten und entdeckt dabei immer mehr die Tragik dieser Liebe, der Entscheidungen, die damit einhergehen, und was es heißt zu lieben. Es ist ein Kino, das der Liebe und dem Gegenüber sehr viel Respekt entgegenbringt. Das ist es auch, was ich empfinde, wenn ich Emmanuel und seinem ganzen Team begegne. Diese Menschen glauben alle sehr stark an die Bedeutung der Begegnungen im Leben, aber Begegnungen sind für sie auch etwas Gefährliches. Es ist für sie mehr als nur ein Zufall oder eine Kleinigkeit. Emmanuels Filme sind voll von der Idee der schicksalhaften Bedeutung der Entscheidung, jemanden kennenzulernen. Momentan lese ich gerade Carl Jung, das hat mit dem Film nichts zu tun, aber ich musste daran denken, dass Tagebuch einer Pariser Affäre jedenfalls mehr Jung als Freud ist. Denn Jung glaubt an Akte, die ein Leben revolutionieren können. Seine Filme erzählen von der Tragik dieser Revolution.

Emmanuel Mouret gelingt einerseits die Komödie, der Film ist unheimlich gut gearbeitet, es gibt Szenen wie die der Begegnung zu dritt, die rein komödiantisch voll aufgehen. Und zugleich stößt er emotional viel weiter vor als früher.

Allein schon die Bilder der leeren Orte, an denen die Liebenden vorher einmal waren, sind sehr berührend. Für mich erzählt Emmanuel davon, in unserer Zeit lebendig gewesen zu sein. Seine Filme zeugen von der Liebe von Menschen zu einer bestimmten Zeit. Das ist ganz konkret verankert und doch auch zeitlos. Zeitlos, weil er ganz unterschiedliche Perspektiven einnimmt, um dieselbe Geschichte zu erzählen. Der Perspektivwechsel ändert alles. Eine Besonderheit der Pariser Affäre ist, dass die Partner, etwa die Ehefrau meiner Figur, nie auftauchen. Man kann also nicht sehen, welches Leid es für sie bedeutet, dass der Ehemann eine Affäre hat. Man sieht nur das Leid für ihn, sich verlieben zu können. Es gibt etwas sehr Freies in Mourets Filmen, sie sind verliebt in die Zukunft, was gleichzeitig tragisch ist. Als freier Ikonoklast kann er von der Tragödie der Freiheit erzählen.

Früher hat sich Mouret selbst inszeniert. Das hat er hier an dich delegiert.

Ja, und an andere. Ich bin nicht der Jean-Pierre Léaud von Emmanuel Mouret [bezogen auf die Filme von François Truffaut, A. d. R.]. Aber ja, ich denke, wir werden wieder zusammenarbeiten, auch wenn ich nicht weiß, ob ich in seinem nächsten Film dabei sein werde.

Um das etwas auf deinen Werdegang zu weiten, du bist Autor*innen gegenüber sehr loyal. Olivier Assayas, Guillaume Brac oder Anne Fontaine sind Leute, mit denen du immer wieder arbeitest. Kommt das vom Theater oder der Idee einer Truppe?

Eigentlich von einer wirklichen Lust. Einen ersten Film mit jemandem zu machen ist toll, das ist eine Entdeckung. Aber keinen weiteren zusammen zu machen, finde ich traurig. Das ist das größte, das einzige Vergnügen: sich wiederzufinden und eine gemeinsame Arbeit fortzusetzen. Als Schauspieler bin ich sehr loyal, ebenso als Regisseur. Eigentlich mache ich keine klassische Besetzung, sondern ich frage die Leute um mich herum, ob sie gerade Zeit und Lust haben, mit mir zu arbeiten. Ich treffe keine wirkliche Auswahl, ich nehme alle, die wollen. Loyalität ist mir wichtig, weil sie mir ermöglicht, besser zu arbeiten, von Jahr zu Jahr. Je besser ich das Universum von jemandem kenne, desto besser kann ich mich als Schauspieler einbringen und desto größer ist auch mein Vergnügen.

Emmanuel Mouret und du habt eine parallele Entwicklung durchgemacht und seid heute an einem vergleichbaren Punkt angekommen, sowohl was die Reife deines Spiels wie seiner Inszenierung angeht als auch euren Platz im französischen Kino. Mouret ist seit seinen letzten beiden Filmen sehr anerkannt.

Und er verdient es! Emmanuel hat zwölf Filme gedreht und auf eine, wie ich meine, sehr demütige Weise. Was ich sehr schön finde daran, wie er dreht und was er lehrt: Er will unbedingt diese Filme machen, egal wie. Er ist nicht jemand, der Anerkennung erwartet. Er hat sich keine Karriere gebaut, sondern regelmäßig Filme gemacht, weil er das mag.

Er stammt aus Marseille, oder? Ich denke an Robert Guédiguan. Völlig andere Filme, aber …

Guédiguan lebt, glaube ich, nicht mehr in Marseille, aber die Orte, die für die beide wichtig sind, liegen ganz dicht beieinander.

Beide haben eine besondere Art, Filme zu machen und beide konnten sich auf ihre Weise etablieren.

Dass beide nicht aus Paris sind, spielt schon eine Rolle. Emmanuel Mouret ist kein mondäner Mensch, und das mondäne Leben in Paris hat für ihn auch keine Bedeutung. Er hat ein ganz einfaches Leben. Und nicht nur er, auch sein ganzes Umfeld. Denn auch ihm ist es sehr wichtig, immer wieder mit denselben Menschen zu arbeiten. Er, sein Produzent, sein Kameramann, seine Techniker, sie sind eine Familie, die einen sehr sanft ausnehmen.

Und wie leitet er die Schauspieler an?

Im klassischen Sinn gar nicht. So wie viele der guten Regisseure arbeitet er vor allem am Rhythmus, und auf instinktive Weise denkt er viel und immer mehr an die Kadrage, also daran, von wo und in welchem Bildausschnitt was gezeigt wird. Was schön ist: Er nimmt sich viel Zeit, eine Szene zu erarbeiten, er versucht, nicht zu viel zu schneiden, was man, denke ich, spürt, wenn man den Film sieht. Als Schauspieler muss man sehr schnell und sehr genau sein, den Text gut kennen und Informationen schnell aufnehmen und umsetzen. Denn er versucht so zu drehen, dass er weniger innerhalb einer Szene schneidet. Er baut die Sequenzen so, dass sich die Emotionen vermitteln. Darüber spricht man wenig: Emmanuel Mourets Kino hat viel gewonnen durch einen besonderen Instinkt des Filmers. Sein Kino ist sehr besonders. Er ist jemand, der die Gefühle des Augenblicks schürft. Wie am Theater weiß er selber nicht unbedingt, was er aus den Schauspielern rausholen will, und er vertraut ihnen und sucht nach einer Form von Anmut. Er ist ein sehr genauer Autor, er will, dass seine Texte gesprochen werden, aber er will zugleich, dass die Schauspieler sie transportieren, ohne dass er genau wüsste, wie. Das ist sehr selten.

Du bist selbst auch Regisseur.

Alle Filme als Regisseur habe ich mit ganz bescheidenen Mitteln gemacht. Das heißt, ohne großes Team, nur mit ein paar Leuten, vor allem Freunden, an manchen Tagen machten sogar Schauspieler den Ton. Das waren Filme, die quasi ohne Produktionsfirma entstanden, wo die Produktion erst ganz am Schluss ins Spiel kam.

Wirst du wieder inszenieren?

Ja, am Theater ist es schon geplant. Und ich hoffe, ich kann auch wieder Filme machen. Die Lust dazu wird sicher bald wiederkommen. Entweder drehe ich dann mit einem ordentlichen Budget, dann würde ich mich gerne an einer etwas verrückten Mise-en-scène versuchen. Oder, wenn ich kein Geld habe, dann geht es mir eher darum, etwas mit den Schauspielern zusammen auszuprobieren. Auf beinahe dokumentarische Weise etwas mit ihnen herauszufinden.

Du spielst nicht mit?

Das geht nicht.

Andere tun es.

Ich halte doch selbst die Kamera! Pour le réconfort (2017) ist zum Beispiel ein Film, den wir wirklich mit nichts gemacht haben. Ein Kumpel von mir hat uns sein Tonequipment geliehen und war an einigen Tagen dabei.

Ich dachte, das sei ein Meta-Film, bei dem das sichtbare Chaos bewusster Teil ist. Für mich wirkt das absolut kohärent und gestaltet.

Das waren die Produktionsbedingungen. Ich war meistens allein hinter der Kamera. Das Schwierigste für mich bei meinen beiden ersten Filmen war es, den Schauspielern glaubhaft zu vermitteln, dass es ein seriöser Dreh ist. Die Szene beim Pizzaessen zum Beispiel: Da habe ich meine Kumpel auf eine Pizza eingeladen, und wir haben das gedreht. Aus dem Off habe ich ihnen zugerufen, was sie sagen sollen. Im Schnitt habe ich mich dann unsichtbar gemacht.

Ich hoffe, dass wir bald wieder einen Film von dir sehen.

Aus dem Französischen von Frédéric Jaeger.

Das Interview wurde im Rahmen des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg geführt.

Kommentare zu „Die Gefühle des Augenblicks schürfen - Interview mit Vincent Macaigne“

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.